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Charlie Chaplin, Modern Times © picture alliance/United Archives | United Archives/IFTN

Die Menschen brauchen mehr Verfügungsmöglichkeit über ihre Zeit Unbehagen im »Freizeitpark«

»Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit«. So vehement fordert der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, längere Arbeitszeiten, sowohl in Bezug auf die wöchentliche, als auch auf die Lebensarbeitszeit. Leben wir also momentan in dem »kollektiven Freizeitpark«, vor dem Kampeters CDU-Parteifreund und Altbundeskanzler Helmut Kohl einst warnte? Manches deutet in diese Richtung: Die sogenannte Generation Z formuliert klare Ansprüche für eine Work-Life-Balance mit reduzierten Arbeitszeiten und räumlicher sowie zeitlicher Flexibilität – und zwar zu ihren Bedingungen, denn die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften ist heute größer als das Angebot.

In den sozialen Medien kursieren entsprechende Hashtags wie LyingFlat, GreatResignation oder QuietQuitting, in denen es darum geht, sich nicht kaputt zu arbeiten, nur soviel zu arbeiten, wie es der Vertrag verlangt, oder direkt zu kündigen, wenn anderswo der eigene Arbeitszeitwunsch besser erfüllt wird. Durch den Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung sehen die Arbeitgebenden diese Entwicklungen mit Sorge, da sie keine andere Wahl haben als die Wünsche zu erfüllen. Aber steckt hinter alldem tatsächlich ein tiefgreifender Wertewandel hin zu einer höher bewerteten Freizeit, oder handelt es sich um einen Wertverlust von Erwerbsarbeit (als soziales Statussymbol beziehungsweise Distinktionsmerkmal)?

Die grundlegende Bedeutung der Freizeit verdeutlicht sich bereits in Dokumenten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die in Artikel 24 das Recht auf Freizeit verbrieft hat, ebenso wie in Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention. Das unter Kaiser Wilhelm II. 1890 eingeführte weitreichende Verbot der gewerblichen Sonn- und Feiertagsarbeit bekam 1919 als das Recht auf Freizeit durch die Nationalversammlung Verfassungsrang und besteht bis heute fort, etwa im Arbeitszeitgesetz.

Während der Industrialisierung um 1830 bis 1860 betrug die Arbeitszeit durchschnittlich 80 bis 85 Stunden pro Woche für Männer, Frauen und Kinder ab 6 Jahren. Die »Freizeitgesellschaft« wurde dann sozusagen durch den Pariser Kongress der 2. (Sozialistischen) Internationale 1889 eingeführt: Neben der Frage der Gerechtigkeit sollten die Menschen wieder qualitativ andere, selbstbestimmte Zeiterfahrungen außerhalb der Lohnarbeit machen: Ihre geistig-seelische und physische Verfassung sollte sich verbessern, sie sollten Zeit haben, sich gewerkschaftlich und/oder parteipolitisch zu engagieren und sich auch wieder mehr um ihre Familien kümmern können – weshalb zunächst erst einmal die Frauen nur acht Stunden täglich arbeiten sollten, damit sie eben noch Zeit für den Haushalt hatten.

Tatsächlich ist die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit seit der Hochphase der Industrialisierung beträchtlich. Jedoch ist nicht die heutige Situation die Ausnahme, sondern die Erwerbsarbeitszeiten der Industrialisierung waren die Ausnahme, das heißt, wir leben nicht heute in der Freizeitgesellschaft, sondern wir nähern uns eher wieder dem Normalzustand an, und beenden die industriellen Erwerbsarbeitszeitexzesse.

1899 veröffentlichte der norwegisch-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen seine Beobachtungen zur Klassengesellschaft der Industrialisierung, die noch bis heute gelten – jedoch unter geänderten Vorzeichen. In vor- und frühindustriellen Gesellschaften drückten sich Klassenunterschiede (obwohl sie auf materiellem Besitz und ererbten Positionen beruhten) vor allem in der Zeitnutzung aus: Der Zugang zu Freizeit und Konsum war das wichtigste Mittel der sozialen Differenzierung. Je größer der Besitz und je höher die Position waren, desto mehr Freizeit hatten die Menschen und zeigten das auch, um ihre gesellschaftliche Position zu verdeutlichen.

Diese »Freizeitklasse«, wie Veblen sie nennt, war für ihren übermäßigen Konsum auf die Arbeitskraft der »Arbeiterklasse« angewiesen, die per Definition wenig Freizeit und ein viel niedrigeres Konsumniveau hatte. Die Menschen der Freizeitklasse nutzten ihre Zeit demonstrativ unproduktiv, aus dem Gefühl der Unwürdigkeit produktiver Arbeit und als Beweis für die finanzielle Fähigkeit, sich ein Leben im Müßiggang leisten zu können. So wurde Freizeit, als demonstrative Nicht-Arbeit, zum Indikator des sozialen Status, bis zum Exzess: Wenn reiche Leute Besuch empfingen, bezahlten sie Bedienstete dafür demonstrativ nichts zu tun, um den eigenen sozialen Status zu markieren.

Konsumzeit statt Freizeit

Mit dem Voranschreiten der Industrialisierung stiegen Produktivität, Einkommen und Freizeit (durch Erwerbsarbeitszeitverkürzung), sodass die demonstrative Freizeitverbringung an Wert verlor. Stattdessen übernahm der Konsum die Funktion des Markers des sozialen Status, zumal pro Tag maximal 24 Stunden in Freizeit verbracht werden können, Konsumausgaben jedoch keine Begrenzung nach oben haben. So fing auch die Freizeitklasse an, ihre freie Zeit für die Mehrung ihrer finanziellen Mittel zu verwenden.

Der liberal-konservative schwedische Ökonom und Handelsminister Staffan Linder beschrieb das Ende dieser Entwicklung in seinem 1970 erschienenen Werk über »die gehetzte Freizeitklasse«. Dort stellte er fest, dass je wohlhabender eine Gesellschaft wird, die Freizeit umso weniger »freizeitlich« wird, denn: Freizeit ist vor allem eines -- Konsumzeit. Und das führt zu Freizeitstress, denn Konsum benötigt Zeit. Die Gesellschaft benötigt Freizeit als Konsumzeit, um Wirtschaftswachstum zu ermöglichen.

Linders Analyse folgend bedeutet das, dass der Grenznutzen von Freizeit parallel zum wachsenden Grenznutzen von Erwerbsarbeit zunimmt, was heißt, dass jede Freizeitminute mit immer mehr Waren und Dienstleistungen gefüllt werden muss. Entsprechend muss der Konsumprozess beschleunigt, qualitativ hochwertigere Versionen eines Produkts oder einer Dienstleistung oder mehr als eine Sache auf einmal konsumiert werden.

In einer hochkonsumptiven Gesellschaft übersteigt der Zeitbedarf für Konsum jedoch die Verfügbarkeit von Zeit, was zum »Freizeitstress« führt. Dies führt dazu, dass wir unsere Freizeit möglichst effizient gestalten wollen, wir beurteilen also die Qualität unserer Freizeit mit ökonomischen Maßstäben. Der Zeitforscher Jürgen Rinderspacher nennt das die »infinitesimale Verwendungslogik der Zeit«: Jeder noch so kleine Zeitabschnitt muss produktiv genutzt werden. Wieder individuell gesehen ist es rational durchaus sinnvoll, die Intensität und Effizienz des Konsums zu erhöhen. Dies führt insgesamt zu einer sozialen Beschleunigung wie sie Hartmut Rosa 2004 beschrieb, da wir kaum schneller, jedoch mehr Einheiten pro Zeit konsumieren.

In den Zeitverwendungsdaten der Industrieländer der letzten 80 Jahre gibt es jedoch eine Gruppe, die ihre Erwerbsarbeitszeit verlängert hat: reiche Menschen mit den höchsten Einkommen. In einer Studie von 2009 stellte der britische Zeitforscher Jonathan Gershuny fest, dass Kapital, in Form von Produktionsmitteln, in der heutigen wissensbasierten Wirtschaft keine große Rolle mehr spielt. Von Bedeutung ist Humankapital in Form von Wissen. Unternehmen müssen dieses »Wissen« in ihre Produktion einfließen lassen. Dadurch werden die höchsten Einkommen zunehmend durch Arbeit in wissensintensiven Berufen erzielt.

Im Gegensatz zum Vermögen erzeugt das Humankapital aber nur durch die bezahlte Arbeit derjenigen, die es verkörpern, Einkommen. Das heißt, die höchsten sozialen Schichten arbeiten nun für Geld – und mögen das meistens auch, da wissensbasierte Erwerbsarbeit mit einer hohen intrinsischen Motivation einhergeht. Veblen auf den Kopf gestellt: Wer heute eine hohe soziale Position demonstrieren will, von dem/der wird nicht erwartet, dass er/sie demonstrativ Freizeit hat – sondern erwerbsarbeitet und keine Zeit hat. Eine Entwicklung, die bis zum berufsbedingten Burn-out-Syndrom reicht.

Und hier wird nun die Konfliktlinie zwischen Arbeitgebenden, die auf die Inkorporation des wissensbasierten Humankapitals angewiesen sind, um Profit zu generieren und dem Humankapital selbst, nämlich den Arbeitnehmenden, klar. Denn: Das Leben ist zwar für ökonomische Analysen gut in Schlaf, (Erwerbs-)Arbeitszeit und Freizeit/Konsumzeit zu trennen, jedoch stellt die Realität der verschiedenen Lebenslagen mehr Ansprüche, als bloß eine Balance zwischen Work und Life herzustellen.

Erwerbsarbeit ist ein Teil des Gesamtkontextes des Lebens, sowohl im Alltag, als auch im Lebensverlauf. Und das Leben stellt verschiedene zeitliche Ansprüche: Frauen sollen zunehmend auf dem Erwerbsarbeitsmarkt tätig sein, zugleich sollen Familien gegründet werden. Menschen wollen ihre Zeit nutzen, um sich einzubringen und zu verwirklichen – sei es ehrenamtlich oder im eigenen Garten. Konsumiert werden muss auch, um das Wachstum weiter anzutreiben.

All dies benötigt Zeit. Und Zeitstress, das zeigen empirische Daten eindeutig, entsteht dann, wenn man sehr wenig Zeitautonomie hat, also die Dinge, die man tun möchte und tun muss, nicht sinnvoll organisieren kann. Zwar haben wir alle über täglich 24 Stunden, aber durch die gesellschaftlichen Zeitstrukturen können wir nicht beliebig über unsere Zeit verfügen, besonders, wenn wir Zeiten gemeinsam mit anderen verbringen möchten. Die gesamte Lebenszeit erstreckt sich über ein Kontinuum von fremdbestimmter bis selbstbestimmter Zeit. Freizeit bedeutet selbstbestimmte Zeit zu haben und darin zu tun, was man machen möchte.

Auch Erwerbsarbeit kann zeitautonom erfolgen, Freizeit beschreibt eine Zeitqualität, während (Erwerbs-)Arbeit ein Zeitinhalt ist. Und der Alltag gelingt Menschen leichter, wenn sie selbst über den Gebrauch ihrer Zeit bestimmen können – und zwar innerhalb des gesellschaftlich gegebenen Rahmens im Alltag und Lebensverlauf. Die Menge an Zeitansprüchen steigt immer weiter und eine Studie befand bereits 1984, dass das eigentliche Freizeitproblem der Mangel an Verfügungsmöglichkeiten über Zeit ist. Die Menschen haben durchaus »Bock auf Arbeit«, sie haben aber auch Bock auf ein gelingendes Leben – und dazu benötigen sie, ebenso wie die Gesellschaft und die Wirtschaft – Verfügungsmöglichkeiten über Zeit. Betrachtet man das Leben so ganzheitlich, dann sind die aktuellen Forderungen der Arbeitnehmenden verständlich.

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