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Widersprüche der Weltordnung Ungeordnet aber vernetzt

Laut Blaise Pascal kommt alles Unheil von der einzigen Ursache, »dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können«. Aber ohne Kontakt zur Umwelt würde der Mensch in seiner Kammer dursten, hungern und frieren. Und weil die Evolution ihn nicht zum Nischenbewohner gemacht hat, sondern zum neugierigen Opportunisten, wird er darin bald auch von jenen rambling thoughts befallen, die nicht erst einen Robinson Crusoe in die Ferne schweifen ließen, obwohl er seinen guten Eltern doch so nahe war.

Selbst wo jene Kammer so groß ist, dass sie Autarkie gewährt, bleibt der Hang zur Erschließung neuer Territorien und Ressourcen erhalten. Und dort, wo es geografische oder ideelle Gründe zur Selbstbescheidung gibt, galt und gilt der Satz vom Frömmsten, der nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Die wohlgeordnete Kammer erweckt dessen Begehrlichkeit. Da helfen weder Mauern noch Meere: »Wir sind heute alle Nachbarn«, schreibt der Historiker Timothy Garton Ash, der in seinem Buch Redefreiheit Prinzipien für eine vernetzte Welt entwirft, denn: »Es gibt mehr Telefone als Menschen, und fast die Hälfte der Menschheit hat Zugang zum Internet.«

Man kann dies umkehren und daraus ableiten, warum die IT-Expertin Yvonne Hofstetter Das Ende der Demokratie kommen sieht. Das Internet hat direkten Zugang zu mehr als der Hälfte aller Menschen, und Hofstetter malt aus »Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt«. In Zeiten von Massenkommunikation, digitaler Überwachung und rapider Auswertung von Datenmassen wachsen die Möglichkeiten, die Volonté générale zu manipulieren, zu modellieren und zu lenken.

Zur Entmündigung durch die neuen Informationstechnologien bedarf es freilich noch nicht einmal einer hoch entwickelten künstlichen Intelligenz. Ob Steuererklärung, Bankgeschäfte, Arzttermine oder Reklamationen – statt auf menschliche Ansprechpartner wird man auf Internetportale verwiesen, die vorschreiben, welche Anliegen man haben darf. Kommt es zu Netzstörungen, sind rasch Hunderttausende vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, weil es kaum noch »Ämter« gibt, wo man persönlich vorsprechen könnte.

Dafür hat man unzählige »Nachbarn«, die man ebenso wenig kennt, wie deren möglicherweise böse Absichten. Via Internet ist der Mensch in einem nie zuvor gekannten Maße angreifbar geworden. Dieses Angreifen erfasst und analysiert Daten, die man willentlich, gezwungenermaßen oder unwissend preisgibt. Der Mensch ist durchschaubar geworden – und damit auch in höchstem Maße manipulierbar, weil die Fülle an Wahlmöglichkeiten, die ihm das Netz anbietet, verschleiert, dass sie auf sein Verhaltensprofil zugeschnitten sind. Das Netz bringt ihm die Welt näher, aber es bringt auch ihn der Welt näher, liefert ihn an sie aus.

Feindselige Zustände

Das Internet komprimiere, so Garton Ash, sowohl die Zeit als auch den Raum: »Was in Bradford gesagt wird, kann im selben Moment auch in Lahore gehört werden und umgekehrt. Was jemand gestern getan oder geschrieben hat, kann noch Jahre später im Netz stehen und von Milliarden von Menschen gesehen werden.« Doch während die Industrienationen die Vernetzung der Welt immer weitertreiben, versuchten sie weiterhin, ihre eigenen Probleme auf Kosten der restlichen Welt zu externalisieren, kritisiert der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Buch Neben uns die Sintflut. Und entlarvt noch die Utopie einer »Green Economy« als Selbstbetrug: »Man muss nicht einmal die absurdesten Blüten aufspießen, die eine entfesselte Lifestyle-Ökologie treibt – essbare Flugzeugsitzbezüge, montiert in der First Class des Langstreckenflugzeugs Airbus A 380 –, um die Idee eines ›grünen Kapitalismus‹ als das erkennbar zu machen, was sie ist: Der vermeintliche Rettungsanker für hoch entwickelte Ökonomien, die nach einem neuen Zyklus der Kapitalakkumulation dürsten; und das verzweifelte Beruhigungsmittel für eine Externalisierungsgesellschaft, die ihr exklusives Lebensführungsmodell allen Anzeichen der Erschöpfung zum Trotz doch noch irgendwie hofft retten zu können.«

Dass Externalisierung die selbstzerstörerischen Folgen ungebremsten Wachstums bestenfalls verschleiert, beweisen Klimawandel und Flottillen von Archen im Mittelmeer. Mit den Flüchtlingen rückt die Not der Welt nicht mehr allein virtuell nahe. Ungleichheit ist kein nationales Problem mehr. Doch wer aus Lahore nach Deutschland kommt, weil er sich dort bessere Chancen erhofft, begegnet hierzulande jenem Zustand, den die neue Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung als »gespaltene Mitte« und als »feindselige Zustände« bezeichnet.

In Bezug auf Menschenfeindlichkeit konstatiert Ralf Melzer darin eine schon 2014 feststellbare Tendenz zu Verlagerung »weg von den harten Dimensionen rechtsextremen Denkens hin zu weicheren, subtileren und anschlussfähigeren Formen der Ausgrenzung«. Angesichts von Globalisierungsängsten findet die Polarisierung nicht mehr allein an den Rändern statt, sondern wandert – durch Komprimierung des sozialen Raums – in die Mitte ein.

Die vom Grundgesetz vorgesehene Rolle der Parteien bei der politischen Willensbildung wird ihnen von den neuen Rechten zusehends aus der Hand genommen, während sie selbst an Profil verlieren, indem sie sich um einen erodierenden demokratischen Grundkonsens drängen. Damit wächst die Gefahr einer spontanen politischen Spaltung, die im Extremfall »das Volk« von seinen »Feinden« scheiden könnte. Man wacht auf und stellt fest, dass das Volk gewählt hat, was man zuvor für absurd gehalten hatte.

Die Illusionen des Westens

So lässt sich Noam Chomskys zum Buchtitel gewordene Frage Wer beherrscht die Welt? mit der Diagnose kurzschließen, die der Politikwissenschaftler Carlo Masala (wie sein Buch) mit dem Begriff Weltunordnung benennt. Das mündet wiederum in die Frage, ob die Welt überhaupt (noch) beherrschbar ist. Chomsky konstatiert, die Demokratie sei in Europa untergraben worden, »als Entscheidungsprozesse an die Bürokratie in Brüssel verlagert wurden«. Es habe sich eine »Stimmung wütender Ohnmacht« breitgemacht. Gleichwohl lässt er keinen Zweifel daran, dass sein Buchtitel rhetorisch formuliert ist. Seit 1939 habe Washington sich in einer »Position überlegener Stärke« gesehen und sich das Recht zu globalen Interventionen zugesprochen. Die Vereinigten Staaten »hätten das Recht, militärische Gewalt einzusetzen, um sich ›ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategischen Ressourcen zu verschaffen‹«, zitiert Chomsky die Clinton-Administration. Dazu zähle es auch, »Einfluss auf die Meinungen zu nehmen, die die Menschen von uns haben«.

So spreche laut Chomsky vieles dafür, »dass die Demokratie nur insofern unterstützt wird, als sie zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zielsetzungen« der USA beitrügen. Man kann dies bigott nennen oder wie Masala eine Illusion – eine von mehreren, denen der Westen nach dem Zerfall des Ostblocks verfallen sei. Im Hinblick auf die Etablierung einer neuen Weltordnung zählt Masala neben der Demokratisierung auch die Wirkungsmacht militärischer Interventionen, die Hoffnung auf Institutionalisierung und Verrechtlichung zu den »Illusionen des Westens«.

Schon vor Jahren freilich antwortete der serbische Schriftsteller Aleksandar Tišma, als er auf das rapide Verwelken der europäischen Blütenträume im Jugoslawienkrieg angesprochen wurde: »Die Welt ist eben nie im Ganzen geordnet.« Auf den Zerfall der autoritären transnationalen Systeme UdSSR und Jugoslawien folgte auch andernorts eine Renationalisierung, Reethnisierung und Rekonfessionalisierung als gewaltsam betriebenes politisches Programm. Vor allem in muslimischen Ländern schuf dies Konflikte und Machtverhältnisse, gegen die Demokratisierung kein probates Mittel wäre. Stabilität scheint hier ohne autoritäre Systeme nicht herstellbar. Wer aber aus pragmatischen Gründen die Herrschaft eines Schurken duldet, weil er »unser Schurke« ist und bei sich für Ordnung sorgt, der schafft weitere Asylgründe.

Welche Folgen die Komprimierung von Zeit und Raum in Zeiten globaler Kommunikation und Globalisierung haben, zeigten die Anschläge vom 11. September 2001, die zugleich die Asymmetrie moderner Kriegsführungen demonstrierten. Zwischen 400.000 und 500.000 Dollar hätten sie gekostet, während die Kosten für den Gegenschlag das Millionenfache betragen hätten, schreibt Chomsky. Um einen ähnlichen Faktor dürfte die weltweite Verbreitung der einschlägigen Videos den propagandistischen Wert dieser Anschläge erhöht haben.

Der Siegeszug des speziellen Wahns

Denn keineswegs im Ganzen geordnet, in wachsenden Teilen sogar im Chaos versinkend, ist die Welt von heute gleichwohl in einem nie zuvor gekannten Maße vernetzt. So muss sich ein dänischer Karikaturist bei der Arbeit nicht nur den Kopf zerbrechen, was sein Redakteur darüber denkt, sondern auch wie das Ganze in Lahore ankommt. Das Internet sorgt im Zweifelsfall nicht nur dafür, dass dort jemand Anstoß daran nehmen kann, sondern auch für die Verbreitung von dessen Mordaufrufen. Garton Ash behandelt dies im Zusammenhang mit dem »Brandenburg-Test«, der in der US-Rechtsgeschichte für die Frage steht, wo die gesetzlich garantierte Meinungsfreiheit endet und ein strafbarer Aufruf zur Gewalt beginnt. Doch was hilft solche Rechtsgeschichte, wenn das Internet das Konzept von satirischer Meinungsfreiheit mit der Maxime »Tod allen Ungläubigen« kurzschließt? In solchen Extremfällen ist das Bild vom verheerenden Kurzschluss treffender als das von einer bloßen räumlichen und zeitlichen Kompression per Internet. Mittelalter trifft Postmoderne. Vielleicht lernt man so die wenigen Orte schätzen, an denen man »kein Netz« hat.

Die Distanzlosigkeit des Internets befördert den Clash of Civilisations, aber Papst Urban II. hat die Kreuzzüge seinerzeit auch ohne Facebook anstoßen können. Nur kommt das Internet ohne Päpste aus: »Anders als in der materiellen Welt fällt es Verschwörungstheoretikern im Internet leicht, die 957 über die ganze Welt verstreut lebenden Personen zu finden, die ihre ganz spezielle Wahnvorstellung teilen«, urteilt Garton Ash. Online suchten Leute »hauptsächlich Kontakt zu einer ihre Weltsicht teilenden Minderheit«, mit der sie dann intensiv, wenn nicht sogar ausschließlich kommunizieren. Etablierte Parteien und »Systemmedien« bleiben da außen vor, und beide müssen auf unangenehme Überraschungen gefasst sein.

Wie es aussieht, tragen sie selbst noch dazu bei, indem sie Internet, Facebook und Twitter zu nutzen glauben, um damit traditionellen Rundfunk und glaubwürdige Politik zu betreiben. Tatsächlich aber machen sie damit nur hoffähig, was keinerlei Etikette kennt, keinen Respekt und kein Erbarmen – und was extreme Stimmungen und Positionen auch dort aufkommen lässt, wo vorher Mitte und Mäßigung war. So droht wiederum ein Verlust der Mitte. Wie schrieb schon Pascal: »Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen.«

Noam Chomsky: Wer beherrscht die Welt? Ullstein, Berlin 2016, 416 S., 24 €. – Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. Hanser, München 2016, 688 S., 28 €. – Yvonne Hofstetter: Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt. C. Bertelsmann, München 2016, 511 S., 22,99 €. – Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Berlin, 2016, 224 S., 20 €. – Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens. C.H.Beck, München 2016, 176 S., 14,95 €. – Andreas Zick, Beate Küpper, Daniela Krause: Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2016, 240 S., 12,90 €.

 

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