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© picture-alliance/ ZB | Waltraud Grubitzsch

Wie die finanzpolitische Balance zurückgewonnen werden kann Ungleichheit darf nicht zum Sprengsatz werden

 

Neben explodierenden Kosten für Lebensmittel, Heizung und Strom erzeugt die Unsicherheit, was noch alles kommen könnte, ob womöglich auch der Arbeitsplatz oder der eigene Betrieb wegbricht, ein explosives Gemisch aus Frust und Zukunftspessimismus. Der Mix aus akuten Problemen und Ängsten droht den fortschreitenden Klimawandel als die größte globale Herausforderung zu überlagern. Aber ein Krisenranking kann nicht die Lösung sein. Keine der gegenwärtigen Bedrohungen darf als Rechtfertigung dafür dienen, die anderen auf die leichte Schulter zu nehmen.

Mit einer so vielschichtigen Problemlage war unsere Gesellschaft lange nicht konfrontiert. Richtig ist aber auch: In keiner früheren Krise war die deutsche Volkswirtschaft in einer so soliden Verfassung – auch im Vergleich mit anderen Staaten. Schon in der Hochphase der Coronapandemie konnten Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Wirtschaft mit Hilfen in einer Größenordnung rechnen, die allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen zur Verfügung standen. Doch auch eine Volkswirtschaft wie die deutsche käme auf sich allein gestellt an ihre Grenzen. Europa braucht uns, und wir brauchen Europa und die Gemeinschaft der Staaten insgesamt. Gemeinsam können wir sogar gestärkt aus diesem Sturm hervorgehen.

Vor uns liegt ein langer Weg. Bundes- und Landesregierungen haben bereits enorme Anstrengungen unternommen. Aber ein Ende der Belastungen ist weder bei uns noch um uns herum abzusehen. Immer mehr Betriebe und private Haushalte erreichen die Grenzen der Belastbarkeit oder haben diese schon überschritten. Mehr Menschen denn je sind schon heute auf die Tafeln angewiesen. In anderen Teilen der Welt herrscht Hunger als Folge von Krieg. Gleichzeitig rückt der Kipppunkt des Weltklimas immer näher.

Die Zeit drängt. Der Ruf nach weiteren schnellen Hilfen in exorbitantem Umfang ist unüberhörbar. Was zu tun ist, kann aber auch eine der stärksten Volkswirtschaften nicht aus der Portokasse bezahlen. Doch woher soll das nötige Geld kommen? Immerhin haben viele derer, die bislang mit dem Mantra eines möglichst armen Staates umherzogen, der einfach nur Ausgaben kürzen sollte, erkannt, dass das ein Irrweg ist. Wie wichtig ein starker und handlungsfähiger Staat gerade in der Krise ist, stellen nur noch wenige in Abrede. Eine klare Systematik, aus welchen Quellen die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates gesichert werden soll, ist indes nicht zu erkennen. Weniger Steuern auch für Wohlhabende und zugleich Verzicht auf Schulden passen nicht zusammen. Und Schulden für Steuersenkungen sind erst recht keine Lösung.

Es geht seit 2020 unbestreitbar darum, einer akuten Notlage zu begegnen und jetzt noch zusätzlich, die Konjunktur wieder in Gang zu bringen. Für beide Fälle bietet Artikel 109, Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Schuldenbremse geregelt ist, Möglichkeiten der Geldbeschaffung am Kreditmarkt an. Bis 2022 wurde sie denn auch unter Berufung auf »außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen« dreimal ausgesetzt. Im Haushalt 2023 erlaubt die »von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung« sogar regulär, zusätzliche Kredite in Höhe von fast 46 Milliarden Euro aufzunehmen. Massive Kreditaufnahme war und ist richtig, aber sie kann nur ein erster Schritt sein.

Zukunftsinvestitionen ohne Tricks und Ausnahmezustand

Auf mittlere Sicht muss der Grundsatz seine Gültigkeit behalten, dass mit Krediten Ausgaben finanziert werden, die in der Zukunft nicht nur Zins und Tilgung kosten, sondern auch eine entsprechende Kapitalrendite bringen. Dann sind Kredite für gute Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz keine Nettobelastung der Zukunft. Es ist allerdings unehrlich, gerade diese Investitionen jetzt für nicht bezahlbar zu erklären oder über Sondervermögen am Haushalt vorbei zu finanzieren, um pro forma eine Schuldenregel einzuhalten, die das, was nötig wäre, eigentlich gar nicht erlaubt: die Kreditfinanzierung dringend nötiger, massiver Zukunftsinvestitionen ohne Tricks und Ausnahmezustand. Stattdessen werden Schulden für die Überbrückung von aktuellen Notlagen eingesetzt, für die wir im Hier und Jetzt geradestehen müssten.

Anders formuliert: Es ist nicht unanständig, für den Bau einer neuen Bahntrasse auch die nächste Generation mit in Anspruch zu nehmen. Wenn wir aber im Winter nicht bei 17 Grad in der Wohnung frieren wollen, ist das keine Angelegenheit unserer Enkel, sondern muss aus laufenden Einnahmen gedeckt werden. Und zwar von denen, die mehr beitragen können als bisher, ohne sich Einschränkungen auferlegen zu müssen.

Das richtige Finanzierungsinstrument dafür sind gerecht verteilte Steuern. Darüber zu reden, treibt aber weit mehr als die Frage nach der »richtigen« Verschuldung einen Keil bis in die Ampelkoalition hinein. Das hat Gründe: Die Reichsten im Land haben aus den bisher größten Krisen in Deutschland gelernt. Nach beiden Weltkriegen waren Gesetze erlassen worden, die die großen und erst recht die in der Krise explosionsartig gewachsenen Vermögen zur Finanzierung der Allgemeinheit in die Pflicht nahmen.

Nach dem Ersten Weltkrieg war es das sogenannte Reichsnotopfer – eine bis auf 65 Prozent progressiv ansteigende Vermögensteuer. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Lastenausgleich, der große Vermögen 30 Jahre lang mit einer jährlichen Sondersteuer von 1,67 Prozent belastete. Gegen diese – übrigens von Konservativen initiierten – Sonderabgaben sind die Betroffenen auch damals Sturm gelaufen, mit ähnlichen Argumenten wie heute. Sie konnten sich gegen die fest geschlossenen Reihen der Demokraten zum Glück nicht durchsetzen.

Aber den Top-Vermögenden war es eine Lehre. Heute ist deren hochbezahlte Lobby mit professionellen Kommunikationsstrategien unterwegs, die sich an Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen richten. Das Narrativ lautet: Jede Belastung der Reichen trifft am Ende auch die Mitte – entweder, weil auch sie von einem gefräßigen Staat bald schon zum Kreis der Reichen gezählt wird oder weil den Reichen in Deutschland die Lust am wirtschaftlichen Erfolg genommen wird und damit Arbeitsplätze verloren gehen. Immer ist es die Mitte, die letztlich die Zeche zahlt.

Diese Erzählung – in Werbeanzeigen, Medienbeiträgen und Talkshows oft genug wiederholt – verfehlt ihr Ziel auch bei wohlmeinenden Politikern nicht, die sich oft auf dem Terrain der Steuerwirkungslehre nicht sattelfest fühlen. Der Osnabrücker Politikwissenschaftler Armin Schäfer hat das Resultat in einer Sitzung des wirtschaftspolitischen Beirats beim SPD-Parteivorstand so zusammengefasst: Entlastungen für kleine Einkommen haben in der Regel nur Chancen auf eine parlamentarische Mehrheit, wenn es mindestens ebenso große Entlastungen für die Großen gibt. Von Entlastungen für die Großen profitieren dagegen nicht zwingend auch die Kleinen. Alles in allem verschieben sich die Gewichte so immer weiter zu Gunsten der Vermögenden.

Verschärfte soziale Schieflage in Krisenzeiten

Das ist auch jetzt zu erkennen. Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hat errechnet, dass die Top 30 Prozent der Einkommen 70 Prozent der Hilfen aus den Entlastungspaketen erhalten. Wenn Unterstützung nicht als Direktzahlung, sondern über den steuerlichen Abzug vom Einkommen gewährt wird, ist das immer eine Finanzspritze, die mit dem Einkommen wächst.

Die Erkenntnis, dass sich die soziale Schieflage in Krisen ohne beherztes Gegensteuern weiter verschärft, ist nicht neu. Gegengesteuert wurde immer aber nur äußerst zaghaft. Aber die Forderungen nach einer mutigen Korrektur mehren sich. So sorgte der Sachverständigenrat (SVR) zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung mit seinem aktuellen Gutachten geradezu für einen Donnerschlag. Die Wirtschaftsweisen fordern bei der Gewährung von Hilfen eine Konzentration auf die wirklich Bedürftigen – und eine Erhöhung der Steuern für hohe Einkommen.

Der Reflex des einflussreichen Netzwerks der oberen Zehntausend blieb nicht aus. Der SVR bestehe nur noch aus SPD-nahen Wissenschaftlern. Deren Auswahl zahle sich jetzt aus. Was für ein Schlag ins neoliberale Kontor, dass die Gutachter*innen zum ersten Mal seit Langem einstimmig entschieden. Und was für eine herbe Schlappe, dass just zu dieser Zeit die Ankündigung der britischen Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss, die Steuern für Top-Verdiener senken zu wollen, nicht nur beim »einfachen Volk«, sondern auch an den Finanzmärkten für gefährliche Turbulenzen sorgte. Ihr ebenfalls konservativer Nachfolger Rishi Sunak, ein ehemaliger Investmentbanker, zog die Reißleine und kündigte das Gegenteil an: höhere Steuern für höhere Einkommen. Es wird zunehmend schwerer, das als linke Ideologie oder neidgesteuerte Politik abzutun.

Es wäre zu wünschen, wenn die einfache Regel auch bei Liberalen und Konservativen hierzulande wieder Gehör fände: Kredite für Zukunftssicherung, Steuern für die Sicherung des Zusammenhalts und eine gerechte Teilhabe – und zeitlich befristet beides zusammen in einer richtigen Balance für die Überbrückung von Ausnahmesituationen. Und es wäre zu wünschen, dass die Sozialdemokratie auf dem Weg dahin als Schrittmacher vorangehen und standhalten würde gegen eine Lobby, die die Durchschnittsverdienenden gegen ihre eigenen Interessen in Stellung bringt.

Wohin die Reise gehen muss, ist eigentlich klar. Das Wichtigste ist, dass Gesetze für alle gelten. Erst recht in einer Lage wie der gegenwärtigen darf es gegenüber betrügerischen Finanzjongleuren, die öffentliche Kassen in der Krise schamlos ausplündern, kein Pardon geben. Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart: »Deutschland wird beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrolle einnehmen.« Der Bundesfinanzminister muss jetzt Taten folgen lassen.

Genauso wichtig ist es, Steuerschlupflöcher, die immer besonders die Betuchten privilegieren, wirklich konsequent zu schließen. Dazu sind die Bemühungen um eine globale Mindeststeuer ein wichtiger Beitrag. Wenn wenigstens Europa in dieser Frage zu einer verbindlichen Einigung käme, wäre viel gewonnen. Der Anfang kann aber schon zu Hause gemacht werden – etwa mit der Beendigung all der Sonderregeln, die die reichsten Erben im Land als arme Schlucker erscheinen lassen und steuerfrei stellen, während die Erben eines Handwerksbetriebs zur Kasse gebeten werden. Oder mit Regeln, die sicherstellen, dass das oberste Prozent der Spitzeneinkommen auch de facto mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beiträgt und nicht durch vielerlei Gestaltungsmöglichkeiten im Ergebnis auch noch bessergestellt wird als Gruppen mit Einkommen weit darunter.

Darüber hinaus muss staatliche Förderung, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einkommenserzielung steht, als Direktzahlung erfolgen oder höchstens als Abzug von der Steuerschuld, aber nicht von der Steuerbemessungsgrundlage.

Angesichts dessen, was ansteht, reicht das alles nicht. Eine gerechte – auch generationengerechte – Verteilung der Lasten erfordert einen substanziellen Beitrag von Top-Vermögenden, ganz besonders von denen, die an der Krise verdienen. Dafür sind eine konsequente Übergewinnsteuer und ein Solidaritätszuschlag auf Spitzeneinkommen ein angemessener Weg.

Nicht zuletzt brauchen wir eine Reform der Schuldenbremse, die Kredite auch ohne Notlage ermöglicht, wenn sie künftigen Generationen dienen und die damit verbundenen Zins- und Tilgungsleistungen problemlos zu stemmen sind – selbst in diesen Zeiten.

Wann, wenn nicht jetzt, sollte der notwendige Druck aus der Gesellschaft an die Adresse der Politik entstehen, die aus dem Ruder gelaufene Verteilung von Einkommen und Vermögen zu korrigieren? Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Ungleichheit zum Sprengsatz wird. Wir brauchen ein zivilgesellschaftliches Gegengewicht zu den professionell aufgestellten Lobbys Hochvermögender, gewissermaßen eine Lobby für die große Mehrheit der Menschen im Land. Initiativen dazu gibt es reichlich.

Was nottut ist, diese Kräfte zu bündeln und ihnen Gehör im Parlament zu verschaffen. Für die Sozialdemokratie ist das eine Chance. Wenn sie die Verteilungsfrage bei der Suche nach Koalitionskompromissen nicht leichtfertig preisgibt, kann sie viel erreichen – für ihre eigene Glaubwürdigkeit, vor allem aber für eine Zukunft aller Menschen in Würde, Sicherheit und Frieden.

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