Der am 22. Januar 2019 von Emmanuel Macron und Angela Merkel in der ehemaligen Hauptstadt Karls des Großen, der symbolträchtigen Stadt Aachen, unterzeichnete bilaterale Vertrag verpflichtet beide Länder dazu, ihre Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt, Energie, grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Verteidigung und Außenpolitik im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu vertiefen. Zudem wird durch ihn ein deutsch-französischer Ministerrat ins Leben gerufen.
Der Vertrag hat sehr kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Neben den wahnwitzigen Fake News, die man von der französischen Rechten unter Marine Le Pen erwartet hatte (»Verrat der nationalen Souveränität«, »Abtretung des Elsass und Lothringens«) und der scharfen Kritik der deutschen rechtsextremistischen AfD an den Kosten, die sich durch den Vertrag für Deutschland ergäben, sind es die Reaktionen gemäßigter Kreise in anderen europäischen Ländern, die überraschen und besorgniserregend sind. Oft ignorieren sie die Erklärung des europäischen Engagements der zwei Führungspersönlichkeiten Merkel und Macron. So äußerte etwa Donald Tusk seine Zweifel und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte reagierte skeptisch, die italienische Tageszeitung Corriere della Sera unterstützte den italienischen Premierminister Giuseppe Conte in dessen Wertung des Vertrags als »Fehler« und einen Akt der »Hegemonie in Europa« und auch in Spanien wurden Bedenken geäußert.
Warum sollte man die bilaterale Partnerschaft im Jahr 2019 überhaupt neu beleben? 56 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags ist kein bedeutendes Jubiläum zu feiern. Der von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unterzeichnete Vertrag sollte die Versöhnung in der Nachkriegszeit festigen. Was rechtfertigt aber nun diesen neuen Vertrag im Januar 2019? Nach dem Rückzug Großbritanniens wird das deutsch-französische Duo an Macht gewinnen, aber warum sollte man einen Koloss schaffen, der den Verdacht anderer Europäer erregt? Es scheint eine defensive Initiative der beiden gewesen zu sein, von Macron angesichts sinkender Popularitätswerte, von Merkel wegen eines zunehmenden Machtverlusts. Zwei Regierungschefs, die im Hinblick auf den zunehmenden Populismus in ihren Ländern, den gesteigerten Nationalismus in den osteuropäischen Staaten und in Italien sowie die Bedrohungen durch Donald Trump und Wladimir Putin, in einem defensiven Block gefangen sind und daher beschließen, ihre Festung zu stärken, anstatt sich vorrangig für die Wiederbelebung des europäischen Projekts einzusetzen. Es besteht die Gefahr, dass das Gegenteil einer Win-win-Situation provoziert wird: Wird der Vertrag in einem entscheidenden Wahljahr, welches die Legitimität der beiden politischen Führer nach innen stärken könnte, letztendlich die Legitimität der europäischen Integration in den anderen Mitgliedstaaten schwächen?
Das System der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union wurde in den letzten 70 Jahren auf der Grundlage der positiven Wechselwirkung zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalität aufgebaut. Die deutsch-französische Partnerschaft ist weltweit einzigartig und ihre Vernachlässigung wäre nicht nur unangemessen, sondern auch selbstmörderisch: Transnationale zivilgesellschaftliche Netzwerke sind zwischen den Kulturkreisen, zwischen Städten, Universitäten und Jugendorganisationen entstanden, aber auch eine wirtschaftliche Symbiose. Die Aussöhnung war auch mit Belgien, Italien, Polen und anderen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern Gegenstand bemerkenswerter Anstrengungen. Aber zwischen Frankreich und Deutschland spielt sie eine einzigartige Rolle. Darüber hinaus sind in der unsicheren Welt des 21. Jahrhunderts Fortschritte bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung und Wirtschaft von unschätzbarem Wert.
Versöhnung durch Integration
Solche historischen Errungenschaften sind ein Modell für andere Kontinente und bilden das Herzstück der europäischen Botschaft an die Welt: Versöhnung durch Integration zwischen ehemaligen Feinden, zwischen zwei Ländern, die seit Jahrhunderten gegeneinander Krieg führten und deren Feindschaft am Beginn zweier Weltkriege stand. Diesem Beispiel sind weltweit Länder bis zu einem gewissen Umfang gefolgt: So führte etwa das Abkommen zwischen den neuen Demokratien in Brasilien und Argentinien 1991 zur Gründung des Binnenmarktes Mercosur, während die vorhergehenden Diktaturen noch nukleare Aufrüstungsprogramme initiiert hatten. Die Verbindungen zwischen Vietnam und den anderen Ländern Südostasiens, die während des Vietnamkrieges mit den Vereinigten Staaten verbündet waren, sind ebenfalls ein gutes Beispiel: Die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Feinden ist heute die Basis des Erfolgs der ASEAN. Andererseits kann eine Organisation der regionalen Zusammenarbeit ohne ein bilaterales Abkommen zwischen den beiden größten führenden Ländern nicht funktionieren: Das Scheitern der Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC) erklärt sich aus der anhaltenden Feindschaft zwischen Indien und Pakistan, dem Mangel an Vertrauen, dem ungelösten territorialen Konflikt in Kaschmir, der nuklearen Aufrüstung und der Lähmung der regionalen Zusammenarbeit zwischen den Nachbarstaaten. Der Aufbau von Vertrauen zwischen den beiden Hauptakteuren ist in jeder Weltregion zentral für eine erfolgreiche Integration.
Wer an einer vertieften Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland von außen Kritik übt, begeht einen schweren Fehler, würde er all dies außer Acht lassen. Der Vertrag könnte aber durchaus auch ein Zeichen von Schwäche sein. Ein Beleg dafür wäre, dass es keine konstruktive und nützliche Hegemonie für alle gibt. Der Economist beschrieb die Rolle Deutschlands einmal treffend als die eines »Hegemons wider Willen«. Dies scheint auch im Hinblick auf den Vertrag von Aachen relevant. Eine nützliche und konstruktive Hegemonie ist nicht gleichbedeutend mit Dominanz, vielmehr würde sie einerseits einen breiteren ideellen und kulturellen Einfluss bedeuten, andererseits eine authentische und erneuerte Rolle als Motor der europäischen Integration u. a. durch das großzügige Angebot von »Gemeinschaftsgütern« an die anderen Partner (in der Literatur werden das Bretton-Woods-Abkommen oder der Marshallplan als Beispiele für eine konstruktive Hegemonie genannt).
Deutsch-französische Achse ist nicht mehr ausreichend
Natürlich hat der Aufbau der EU immer sehr von dem deutsch-französischen Abkommen profitiert. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich der damalige französische Außenminister Robert Schuman in seiner Erklärung vom 9. Mai 1950 besonders an die Deutschen. Aber der Vertrag von Aachen ist ein bilateraler und daher ambivalent, weil er bestehende Missverständnisse mit anderen EU-Ländern verstärken kann. Schon dem von de Gaulle beförderten Élysée-Vertrag von 1963, mit dem er sich erhoffte, durch einen bilateralen Intergouvernementalismus den föderalen Erfolg der Verträge von Paris und Rom wieder ins Gleichgewicht zu bringen, war die »Krise des leeren Stuhls« zwei Jahre später bereits eingeschrieben – eine schwere Krise, die im Wesentlichen durch dauerhaftes Fernbleiben der französischen Verhandlungsdelegation von den Sitzungen des damaligen Ministerrats der EWG hervorgerufen wurde und die das Gremium beschlussunfähig machte. Diese Krise konnte erst durch den Luxemburger Kompromiss vom 29. Januar 1966 beendet werden.
Die deutsch-französische Achse allein ist aber im Jahr 2019 nicht mehr ausreichend. Sie funktioniert im 21. Jahrhundert nicht mehr als treibende Kraft in einer erweiterten, vielfältigen und gespaltenen EU aus 27 Ländern, wie Mitte des 20. Jahrhunderts in der kleinen Europäischen Gemeinschaft aus sechs Staaten. Dieser neue bilaterale Vertrag kann Krisen innerhalb der EU nicht verhindern, wenn er nicht genug tut, um das führende Duo zu einem Hebel für einen breiteren Prozess der Wiederbelebung der europäischen Integration in einem entscheidenden Jahr zu machen. Die EU wird im Vertragstext mehrfach erwähnt, jedoch nicht konkret und überzeugend. Die anderen Mitgliedstaaten fragen sich derweil: Und was ist mit uns?
Der Vertrag ist kurzgefasst den außenpolitischen Herausforderungen und internen Spaltungen der EU im Jahr 2019 nicht gewachsen. Er droht, das Misstrauen mehrerer anderer EU-Länder zu wecken, die sich fragen: Warum schließt man einen bilateralen Vertrag für ein multilaterales Projekt? Darüber hinaus wird ein sehr heikles Thema neu aufgegriffen, das auch in der Vergangenheit zu Differenzen geführt hat, innerhalb Deutschlands und Frankreichs, aber vor allem auch mit Italien und Spanien. Während Finanzminister Olaf Scholz jüngst den Vorschlag machte, sich für einen permanenten Sitz der EU im Sicherheitsrat der UN einzusetzen, wurde dies von Frankreich zurückgewiesen, das lieber einen permanenten Sitz für Deutschland forderte. Deutschland verdient es natürlich, an diesem Gremium teilzuhaben, aber die innovative Botschaft eines Sitzes für die EU wäre stärker.
Wie kann man nun auf diese neue Herausforderung reagieren? Diejenigen, die den Vertrag von Aachen kritisieren, sollten ihre Widersprüche überwinden und an vorderster Front eine Reform des Regierens und eine Verbesserung der Außenwirkungen der Eurozone vorschlagen, um die Avantgarde-Gruppen in der EU zu konsolidieren. Die Rechtsinstrumente existieren dank des Vertrags von Lissabon, der nicht nur die Eurozone stärkt, sondern in den Artikeln 20 und 46 die Bildung einer Gruppe von Kernländern ermöglicht, die eine differenziertere europäische Integration wünschen. Artikel 46 wurde bereits im Dezember 2017 angewandt, als eine engere Zusammenarbeit (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) beschlossen wurde, die den Weg für eine europäische Verteidigungsunion freimachen soll.
Es ist schon merkwürdig, dass diejenigen, die den Vertrag von Aachen heftig kritisieren, oft auch eine differenzierte Integration ablehnen. Ein Schritt in diese Richtung ist aber der einzig realistische Weg nach vorn in einer schwierigen historischen Phase für die EU: Der harte Kern aus entschlossenen und europafreundlichen Ländern lehnt die Erpressung durch die euroskeptischen Staaten ab und unterstützt den Kampf der proeuropäischen Oppositionen. Der einzige Weg, die deutsch-französische Führung zur Geltung zu bringen, besteht eben auch darin, sie mit gestärkten europäischen Institutionen zu flankieren. Nur so können die Unklarheiten des Vertrags von Aachen überwunden und seine dynamischen Elemente genutzt werden.
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