Ab wann sind wir alt? Im Unterschied zur Kindheit und Adoleszenz ist das Alter eine eher unscharfe Kategorie. Manche wirken mit 30 schon alt, andere scheinen mit 70 noch jung. Und: Wie alt ich mich fühle und wann ich in den Augen anderer alt bin ist zweierlei; es dauert meist längere Zeit, bis die beiden Urteile in eins fallen.
Ein erster Indikator für die Wahrnehmung Dritter sind gewisse semantische Verschiebungen: wenn die Zuschreibung nicht mehr »sportlich« sondern »rüstig« lautet, wenn die Kategorie der »Attraktivität« zu der des »Noch-gut-gehalten-Seins« wechselt. Lange habe man kein Alter, schreibt Laure Adler in Die Reisende der Nacht, weil man die Zukunft unendlich weit offen wähnt. Mit dem Altern sei es wie mit der Gewichtszunahme: ein schleichender Prozess und dann gibt es diesen Kipppunkt. Dieser ist meist körperlicher Natur (»Früher bin ich die Treppen ohne Herzklopfen hochgestiegen«); oder eine Erkenntnis, die Adler überkam: »An meinem 50. Geburtstag begann ich alt zu werden. An diesem Tag begriff ich das Weniger. Von jetzt an hätte ich weniger Tage zu leben, weniger Energie, weniger Begehren, weniger Vitalität.«
Eine hochpolitische Frage
Neben diesen individuellen Erfahrungen: Die Frage des Alterns ist hochpolitisch. Zwar zeigen die Euphemismen »best ager« oder »silver life«, dass es sich um eine Alterskohorte handelt, die immer besser in Form und finanziell ausgestattet ist, aber es gibt auch Unmut über »die Alten«: Sie machten sich so breit, sie räumten nicht den Platz, sie lebten auf Kosten der nachfolgenden Generation, etc.
Passen alt sein und ein erfülltes Leben zusammen?
Das »Problem« wird nicht kleiner, sondern größer: Hatte ein Mann um 1900 herum eine Lebenserwartung von 45, eine Frau von 50 Jahren, so waren es im Jahr 2022 78 bzw. 83 Jahre. Auch wenn man die hohe Kindersterblichkeit jener Zeit berücksichtigt, es bleibt ein enormer Gewinn an Lebenszeit. Das statistische Bundesamt vermutet, dass im Jahr 2050 mindestens 35 Prozent der deutschen Bevölkerung über 60 Jahre alt sein wird. Und ein Mädchen, das heute geboren wird, schreibt Adler, habe gute Chancen 100 Jahre alt zu werden, was sie fragen lässt, ob es die Definition dessen, was es heißt zu leben, verändern wird, wenn man einen großen Teil des Lebens »alt« ist?
Kann man sich über diese Lebenszeitverlängerung freuen, wenn die jüngeren Generationen einen am liebsten, wenn nicht in den alterssprichwörtlichen Schaukelstuhl so doch auf das Altenteil verweisen möchte? Von den prognostizierten möglichen 100 Jahren 30 Jahre am Rande der Gesellschaft leben? Passen alt sein und ein erfülltes Leben zusammen?
Was erwarten die Jungen von den Alten?
Elke Heidenreich stellt in ihrem Bestseller Altern lakonisch fest: »Alle wollen alt werden, niemand will alt sein.« Sie selbst ist jetzt 80 und sagt von sich, früher sei sie glatter und schöner gewesen, aber unglücklicher. Und mit Blick auf die junge Generation schreibt sie unverhohlen genervt: »Ich frage mich oft, was Junge eigentlich von Alten erwarten. Rückzug? Haltung? Stillschweigen? Verzicht?« Ja, es gebe schwere, körperliche Arbeit, die erschöpft und verbraucht, aber warum sollten »Schreibtischtäter« und Intellektuelle abtreten? Sollen sie nicht mehr denken dürfen? Sie zitiert, trotzig, Cees Nooteboom: »Solange man in der Welt ist, geht sie einen auch an.«
Die Beschwernisse des Altseins leugnet sie zwar nicht »Siehe da, die Knie wollen nicht mehr…«, aber insgesamt kommt ihr Buch im leichten Plauderton daher: »Altwerden gehört zum Leben und trifft jeden, der nicht jung stirbt«. Es erinnert aber auch an das sprichwörtliche »Pfeifen im Keller«, wenn sie beklagt, dass es einem mitunter so vorkomme, als wäre das Altern eine persönliche Fehlleistung, ein Makel, eine Demütigung.« Auf die die Alten mit Scham reagierten.
»Zu altern bedeutet Erfahrungen zu sammeln, Weisheit zu erlangen, zu lieben, zu verlieren und sich in der eigenen Haut immer wohler zu fühlen, wie viel sie auch an Straffheit verlieren mag« (Martha Nussbaum).
Wo kommt sie her, diese Scham? In einem viel höheren Maße als im Kindes- und Jugendalter gebe es im Alter sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und Welterfahrungen. Altern heiße ja nicht Jahre auftürmen, sondern gelebt und Erfahrungen gemacht zu haben. Die Philosophin Martha Nussbaum übt in Älter werden Kritik an den gängigen Verallgemeinerungen; das seien Klischees und, mehr noch, Stigmatisierungen – das Alter: hässlich, nutzlos, inkompetent – was natürlich auf die Selbstwahrnehmung zurückwirke. Älter werden ist eine Reflektion darüber, was es heißen kann, mit (Aus-)Blick auf das Alter ein bewusstes Leben zu führen. Verallgemeinerungen würden da nicht weiterhelfen. Wir müssten, schreibt sie, uns auf die Suche nach Erzählungen machen, um unser Verständnis über das Altern zu erweitern. Eine solche findet sie in Shakespeares König Lear, der auf das Alter, seinen Kontrollverlust und seine Pflegebedürftigkeit schlichtweg nicht vorbereitet war. Erst zum Schluss ringt er sich durch: »Liebe Tochter, ich bekenn es, ich bin alt. Alter ist unnütz; auf den Knien bitt ich: gewähre mir Bekleidung, Kost und Bett.«
Anders als bei Heidenreich und Nußbaum geht es Didier Eribon in Eine Arbeiterin mehr um die gesellschaftlichen Prämissen des Lebens im Alter, genauer: um die Klassenfrage. Er zitiert Simone de Beauvoir: »Das Lebensalter, in dem der Altersabbau einsetzt, hängt seit jeher davon ab, welcher Klasse man angehört«.
Alter und Klassenfrage
Darin erzählt und reflektiert er die harte und karge Lebensgeschichte seiner Mutter, die nun für ihren letzten Lebensabschnitt in ein Pflegeheim … umzieht? Nein: in ein Pflegeheim muss. Eine Arbeiterin ist eine einzige Anklage, an die Politik und uns alle, dass wir die skandalöse Situation vieler alter Menschen verdrängen.
Er beschreibt am Beispiel seiner Mutter, wie sehr soziale Herkunft, Klasse, Geschlecht sowie das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital, über das wir verfügen (oder eben nicht), uns Zwängen aussetzen, die sich im Alter potenzieren: Aus den Gesprächen mit seiner Mutter im Pflegeheim lernt er, dass Alter und Gebrechlichkeit Fesseln darstellen, die die Möglichkeit, seinem Schicksal doch noch einmal eine Wende zu geben, vollends zunichtemachen. Bedürfnisse und Wünsche seiner Mutter werden ignoriert, kein Handlungsspielraum und jeder Widerstand ist zum Scheitern verurteilt. Am Ende eines harten, eingeschränkten, unglücklichen Lebens musste »meine Mutter (…) sich dem Unvermeidlichen fügen und konnte ihren Protest nur durch Weinen zum Ausdruck bringen.«
Gegen diese skandalöse Situation schreibt Laurie Adler in Reisende der Nacht furios an. Die ökonomische Ungleichheit wird im Alter noch alarmierender, weil sie noch fundamentalere negative Auswirkungen hat auf die Autonomie und Handlungsfreiheit und Lebensfreude der Menschen. Das ist einer der Aspekte des gesellschaftlichen Versagens in der Altersfrage, den Adler anprangert.
Ins symbolische Abseits
Aus jeder Zeile spricht ihre Empörung über die systematische Dehumanisierung, Menschen würden jenseits eines bestimmten Alters von Gesellschaft und Politik stigmatisiert. »Wir leben in einem Land der Betagten, das immer älter werden wird, und tun, als bemerkten wir das nicht.« Statt einem Entwicklungsprozess wird das Alter zu einem Degenerationsprozess erklärt. Worauf Adler das Gefühl des Misstrauens, der Gleichgültigkeit, ja der Aggressivität gegenüber den Alten zurückführt. Das Alter sollte als starker und aktiver Teil der Gesellschaft betrachtet und gewürdigt werden. Doch: »Unser aller Zukunft wird ins symbolische Abseits gestellt.« Dass könnte Grund für einen gesellschaftlichen Kampf sein; doch die Revolte bleibt aus.
Statt zu einem Prozess der Entwicklung wird das Alter zu einem der Degeneration erklärt.
Denn in diesem Land der Betagten ist die Jugend Vorbild für die ganze Existenz und »man verbindet das Alter nicht mehr mit der Idee der Erfüllung, sondern mit der von Überschuss, Abfall, Unsinn.« Kein Wunder, dass »die Alten« um keinen Preis alt erscheinen wollen und viel dafür tun (und zahlen), um »die Wahrheit ihres Alters« zu verleugnen. Auch hier wieder: die Scham.
Ja, die Revolte gegen das Abstellgleis bleibt aus. Dabei ist das Alter womöglich weit mehr ein gesellschaftliches Konstrukt als das Geschlecht. Und wie der Rassismus bezeichnet Altersdiskriminierung ein Phänomen der Absonderung, das einzig auf einem Kriterium, dem des Alters, beruht. Alten Menschen werden gesellschaftliche Rollen (der Passivität, des Rückzuges, etc.) zugewiesen, ob sie das wollen oder nicht. Im Mai 2018, so Adler, klagte eine französische Ethikkommission gar »Ghettoisierung« an: »Der Ausschluss aus der Gesellschaft, der wahrscheinlich die Folge einer kollektiven Leugnung dessen ist, was das Alter, das Lebensende und der Tod sein kann, wirft echte ethische Probleme auf, vor allem was die Achtung der Person betrifft.«
Das Alter ein nur gesellschaftliches Konstrukt? Für Francois Jullien (Ein zweites Leben) ist nicht das Alter, sondern das Altern das, was wirklich existiert. Zum Leben in seiner Gänze (der Existenz) und in seiner Entfaltung gehöre das Prozesshafte und Kontinuierliche. Er unterscheidet dabei zwischen einem »ersten Leben«, mit seiner Logik von Drang und Eroberung, Ehrgeiz und Besitznahme und zur Schau getragener Leistung, die nach Anerkennung heische. Demgegenüber das »zweite Leben«, das möglich werde, wenn es gelingt, sich von dem ersten Leben (z.B. nach der Erwerbstätigkeit, nach Erziehungsarbeit) zu lösen und zu verabschieden. Und damit einen neuen Möglichkeitsraum zu betreten, in dem sich im Unterschied zum ersten Leben eine wirkliche Wahl abzeichne. Im ersten Leben, so Jullien, weiche man dem Angesicht des Todes aus; das zweite Leben eröffne sich, wenn man die Endlichkeit akzeptiere. Dabei geht es nicht um ein »Zurück-auf-Los«, sondern um ein Fortschreiten – zu dem zu werden, der man sein kann.
»Das Alter ist mehr ein gesellschaftliches Konstrukt als das Geschlecht.«
Julliens existenzialistisch-philosophische Betrachtungen richten sich an das Individuum und an ihm aus. Doch, natürlich, auch sein Konzept kommt ohne eine Gesellschaft nicht aus, die die Möglichkeit eines zweiten Lebens anerkennt und unterstützt. Wie vor 50 Jahren Simone de Beauvoir in Das Alter fragte: »Wie müsste eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben kann? «
Elke Heidenreich: Altern. Hanser, Berlin 2024, 112 S., 20 €.
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Suhrkamp, Berlin 2025, 270 S., 15 €.
François Jullien: Ein zweites Leben. Passagen, Wien 2022, 152 S., 19 €.
Laurie Adler: Die Reisende der Nacht. Über das Altern. Edition Tiamat, Berlin 2023, 184 S., 30 €.
Martha Nussbaum/Saul Levmore: Älter werden. Über das Leben, die Liebe und das Loslassen. Theiss/Herder, Freiburg 2018, 272 S., 19,99 €.
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