Menü

Wie sich Religion auf den Integrationsprozess auswirkt »Unser Gastland brauchte uns nicht, und das spürten wir«

Wir waren 61 Studierende aus 19 Nationen von 4 Kontinenten. Allein 27 von uns kamen aus Afrika, die gleiche Anzahl aus Frankreich, Belgien und der Schweiz, die restlichen sieben aus aller Herren Länder von Kanada bis Hongkong. Uns einten der Glaube und das Ziel: Wir hatten uns in den 80er Jahren an einer kleinen Hochschule in der Nähe von Paris zusammengefunden, um dort zu studieren und danach Pastor, Lehrerin oder Missionar zu werden. Wir gehörten zur sogenannten »hochreligiösen« Gruppe der evangelikalen Protestanten. (In diesem Artikel wird das generische Maskulinum verwendet. Hiermit sind ausdrücklich alle Geschlechter gemeint.) Wie hatten wir’s mit der Integration?

Seit vielen Jahren wird in Deutschland die Frage diskutiert, ob und wenn ja welche Auswirkungen Religion bzw. Religiosität auf die Integration von Zugewanderten hat: Fördert oder hemmt sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt (»Systemintegration«)? Fördert oder hemmt sie die Teilhabe von Menschen an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (»Sozialintegration«)?

In Deutschland geht es dabei vor allem um muslimische Migranten aus der Türkei oder arabischen Ländern. Dies hat oft zur Folge, dass die Debatte durch Einwürfe verzerrt wird. Diese können inhaltlich rassistischer Natur sein, ebenso kann es aber auch der Einwurf sein, dass die Debatte als solche rassistisch sei, weil es eben »immer nur« um Türken und Araber geht. Aus diesem Grund berichte ich, was ich erlebte, als ich nach dem Abitur für drei Jahre zum Studium nach Frankreich ging: Wir waren Migranten – wie waren wir integriert bzw. waren wir integriert? Wie beeinflusste Religion unsere Integration?

Meine Erfahrungen stehen trotz mancher Besonderheiten wie der des Aufenthaltszwecks Studium exemplarisch für die Rolle der Religion bei der Integration von Migranten: Die Anzahl der Evangelikalen liegt in Deutschland mit etwa 1,3 bis 2,5 Millionen zwischen der Anzahl der Muslime (ca. 4,5 Millionen) einerseits und den gut 100.000 Mitgliedern jüdischer Gemeinden und 80.000 Jesiden andererseits. Unter Evangelikalen finden sich »Eingeborene« ebenso wie Migranten, größere Gruppen etwa von Russlanddeutschen und Südkoreanern; außerdem Menschen, die um ihres Glaubens willen geflohen sind. Evangelikale, die Theologie studieren wollen, vermeiden ein akademisches Studium an einer Universität, es gibt eine Reihe Institutionen im In- und Ausland, in denen nach den eigenen Vorstellungen gelehrt und gelernt wird. Insofern ähneln sie Koran- oder Jeschiwa-Schulen.

Worum geht es und was weiß man eigentlich?

In der Forschung werden Migration, Integration und Religion selten auf Kausalzusammenhänge untersucht. Aber ein paar Forschungsergebnisse gibt es doch (etwa das Jahresgutachten 2016 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration sowie darauf beruhend die Ausführungen von Martin Weinmann und Alex Wittlif, bpb 2018).

Ganz grob formuliert: Religiosität tut der Systemintegration gut, Hochreligiosität nicht. So stärkt individuelle Religiosität den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil aktive religiöse Teilhabe das Vertrauen in Mitmenschen positiv beeinflusst. Aber wenn (hoch-)religiöse Gruppen sich abgrenzen, dann schwächt es ihn; ferner neigen hochreligiöse Personen eher zu demokratiefernen Einstellungen. Ähnlich sieht es mit der Sozialintegration aus; sie wird allerdings viel mehr durch die soziale Herkunft bestimmt als durch die Religion. Auch soziale und kulturelle Teilhabe sind bei hochreligiösen Muslimen weniger ausgeprägt. Je fester Menschen glauben, desto stärker halten sie oft an traditionellen Geschlechterrollen fest: So nimmt die Arbeitsmarktbeteiligung bei Christinnen und vor allem Musliminnen ab, je stärker ihr Glaube ist. Auch werden religiöse Menschen seltener straffällig als nichtreligiöse, allerdings trifft dies nicht auf Muslime zu.

Wie sah es bei uns aus, den evangelikalen Protestanten in Frankreich? Waren wir Teil der französischen Gesellschaft?

Räumliche und finanzielle Ausgrenzung: Der Campus mit Hochschule und Wohnheim befand sich an einer Landstraße zwischen zwei Ortschaften, die fußläufig in etwa 15 bis 20 Minuten erreichbar waren und in denen es auch Bahnhöfe gab; ein Ausflug nach Paris kostete mit dem Zug allerdings etwa 30 französische Francs, umgerechnet ungefähr fünf Euro, für viele von uns nur selten erschwinglich. Außerdem benötigte der Zug für eine Fahrt eine geschlagene Stunde, dazu hatten wir nur selten die Zeit. Ein Standort in Paris wäre teuer gewesen und französische Freikirchen und ihre Studierenden haben wenig Geld. So hinderte uns unsere Religion indirekt an der Integration in die französische Gesellschaft.

Vereinzelt Integration durch Jobs, Studium, Familie – aber nicht durch Religion. Einige von uns finanzierten sich ihr Studium mit einem Job, etwa als Lehrer, andere waren an einer Universität in Paris eingeschrieben und absolvierten ein Parallelstudium oder schrieben eine Promotion. Arbeit oder Parallelstudium bedeuten zwangsläufig Integration, in das »normale« Arbeitsleben oder an eine »normale« Universität, setzt im Gegenzug aber Offenheit gegenüber dem Gastland voraus. Sie waren integriert. Aber ich glaube nicht, dass die Religion diese Integration gefördert (oder gehemmt) hätte.

Manche Studierende kamen aus katholischen oder auch nichtreligiösen Familien; waren sie in ihre Familie und darüber in die Gesellschaft integriert? Eher nicht, denn welche katholischen oder atheistischen Eltern hießen die Bekehrung ihrer Kinder zur evangelikalen Bewegung gut?! Wenn man einander das erste Mal begegnete, lautete eine der ersten Fragen: »Sind Deine Eltern Christen?« Ein »ja« war gut fürs Prestige, ungläubige Eltern ein verbreitetes Problem. Man hatte Angst, dass sie in die Hölle kämen. Umgekehrt hatten sicherlich auch manche Eltern diese Sorge um ihre Kinder, so erzählte ein französischer (!) Kommilitone, sein katholischer Vater betrachte seine Freikirche (Baptisten) als Sekte. Als einziger Evangelikaler machte man sich in der Familie zum Außenseiter und verdarb sich viele familiär bedingte Sozialkontakte; Ersatz gab es im evangelikalen Milieu, und Religion stand der Integration entgegen.

Traditionelle Geschlechterrollen, Teilhabe am Arbeitsmarkt, Familie. Wir waren 15 Frauen und 46 Männer. Die meisten Frauen trugen wadenlange Röcke oder Hosen, aber eine (europäische) Studentin trug manchmal Minirock. Evangelikale Familien in Deutschland waren eher konservativ, die Mütter blieben tendenziell zu Hause. Ähnlich schien es in afrikanischen Familien zuzugehen, aber für Französinnen war es normal, zu arbeiten. Frauen vom afrikanischen Kontinent habe ich nie Theologie studieren sehen, nur eine Kommilitonin kam aus Madagaskar. Unter deutschen Evangelikalen war ein Studium selbst der evangelikalen Theologie für eine Frau zumindest unüblich, ich war die einzige Deutsche. In meiner Heimat hätte ich nicht Pastorin werden können; ich erwog, nach Frankreich zu ziehen, es studierten auch mehrere Französinnen an der Hochschule. Aber selbst von ihnen wurde kaum eine Pastorin. Die Geschlechterrollen variierten je nach Herkunft – aber immer innerhalb des traditionellen Bereiches, typisch hochreligiös.

Dazu kam, dass evangelikale Christen keinen Sex vor der Ehe haben und nur untereinander heiraten sollen. Hochschulen sind Heiratsmärkte, es entstanden mehrere binationale Ehen, aber ob das der Integration diente, möchte ich bezweifeln, erstens wurden viele geschieden, zweitens blieb man ja unter sich. Auch hier stand die Religion der Integration entgegen.

Wenig Teilhabe – aufgrund der sozialen Herkunft oder der Religion? Mit unserer sozialen und kulturellen Teilhabe war es nicht weit her. Das lag einerseits an unseren finanziellen Möglichkeiten und daran, dass sich der Campus auf dem Land befand. Dies passt zu den Forschungsergebnissen, dass die Integration von Migranten mehr durch ihre soziale Herkunft beeinflusst wird als durch ihre Religion bzw. Religiosität. Andererseits sind soziale und kulturelle Teilhabe bei hochreligiösen Menschen weniger ausgeprägt, weil die Religionsausübung viel Zeit in Anspruch nimmt und Gemeinschaften dazu neigen, sich abzuschotten. Vor allem aber vermute ich, dass unsere Religiosität vielen von uns dem Gefühl des Auserwähltseins und dadurch einer gewissen Opferbereitschaft Vorschub leistete, aufgrund derer wir bereit waren, ein solch abgeschiedenes Leben zu führen. Wir taten es für unsere Berufung.

Unser Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Unser Gastland brauchte uns nicht, und das spürten wir gelegentlich. Ausländer mussten sich eine Aufenthaltserlaubnis (carte de séjour) ausstellen und jedes Jahr verlängern lassen. Viele ausländische Kommilitonen wussten von Schikanen zu berichten; Termine wurden nicht eingehalten, und welche Unterlagen benötigt wurden, schien sich je nach Lust und Laune der Beamten zu ändern. So fühlte man sich im Gastland nicht angenommen.

An der Hochschule selbst hatte sich eine kleine Gruppe ausländerfeindlicher französischer Studierender zusammengefunden. Wenn jemand aus dem Ausland, vor allem aus Afrika, sie grüßte, wurde er/sie überhört, und zu den Mahlzeiten mieden sie die Tische mit Ausländern. Deutschland galt ihnen als Kriegstreiber und Hochburg der akademischen Theologie – in den Augen von Evangelikalen eine echte Gefahr nicht nur für Leib und Leben, sondern vor allem für das Seelenheil. Die gemeinsame Religion ließ uns in einer Enklave leben, aber auch in dieser fühlte man sich nicht immer angenommen.

Soziales und politisches Engagement. Gesellschaftlich engagiert waren wir vor allem im evangelikalen Milieu, viele von uns arbeiteten – unentgeltlich – in einer französischen Kirchengemeinde. Damit taten wir etwas für die Angehörigen unserer Religion, nicht aber für die Gesamtgesellschaft.

Wie sah es mit dem politischen Engagement aus? In Deutschland kannte ich unter Evangelikalen vor allem politisch desinteressierte Menschen mit einer konservativen Grundeinstellung; auch ich selbst hatte keine Ahnung. Französinnen und Franzosen dagegen wussten über Politik gut Bescheid, ebenso die Menschen aus Afrika, viele von ihnen kamen aus Krisengebieten. Die Studentenschaft abonnierte die französische Tageszeitung Le Monde und jeune afrique, ein französischsprachiges Wochenmagazin zu Politik, Wirtschaft und Kultur Afrikas mit Redaktionssitz in Paris. Interesse an Politik schien eher kulturell als religiös bedingt. Aber wenn man es religiös begründen konnte, dann konnte daraus etwas wie die Theologie der Befreiung entstehen. Gab es das bei uns? Ich weiß es nicht.

Traditionelle Geschlechterrollen und der gesellschaftliche Zusammenhalt. Einmal hörte ich eine Gruppe Afrikaner diskutieren, »eine gute Frau findet man nicht, man formt sie«, sagte einer, und die anderen stimmten zu. Interne Studierende hatten jede Woche drei Stunden Gemeinschaftsarbeit zu verrichten. Hier und in anderem (deutschen) evangelikalen Umfeld erlebte ich häufig, dass sich Männer vor der Gemeinschaftsarbeit drückten, Frauen nie. So kam zum Beispiel der Kommilitone, der mit mir das Frühstücksgeschirr abwaschen sollte, regelmäßig zu spät, sodass ich die Wahl hatte: seine Arbeit liegenlassen oder zu spät zum Unterricht erscheinen. Frauen (und Männer), die nicht gegenhalten konnten, zogen sich zurück und verstummten. Ich behaupte, sie fehlten der Gesellschaft.

Mission für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Frankreich? Wir engagierten uns in evangelikalen Kirchen, und diese verstehen sich als missionarisch. Ich bin nach meinem Studium nach Deutschland zurückgekehrt, andere Ausländer blieben in Frankreich. Sie haben dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, vermute ich, nicht gedient, weil Evangelikale nicht tolerant sein können, denn wenn Gott die Wahrheit offenbart hat, muss man sie glauben, da gibt es nichts zu diskutieren. Christentum versteht sich in jeder Ausprägung als Stein des Anstoßes, aber wenn ein Ausländer einen katholischen Franzosen missionieren will, dann dürfte jener dies als Herabwürdigung der eigenen Religion und als Beleidigung verstehen. Die Aktivität stört das Miteinander, hemmt den Zusammenhalt.

Das Ganze ist 30 Jahre her, die Zeiten haben sich geändert. Außerdem war ich selbst für eine Evangelikale ungewöhnlich stark isoliert. Dennoch halte ich meine Erfahrungen für exemplarisch und verallgemeinerbar.

Ich glaube sagen zu können, dass wir Ausländer im Großen und Ganzen nicht besonders gut in unserem Gastland integriert waren. Die meisten von uns hatten wenig Zeit und wenig Geld, und die Hochschule befand sich weit abgelegen vom kulturellen und sozialen Angebot. Unser kulturelles und soziales Leben konzentrierte sich auf evangelikale Kreise.

Warum taten wir uns das an? Wir glaubten uns von Gott erwählt; Probleme waren entweder Prüfungen Gottes oder Versuchungen des Teufels; und je mehr davon wir überwanden, desto, nun ja, hochwertiger, war unser Glaube. Es ist schwierig zu bewerten, ob wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Gastland förderten: Unser evangelikaler Glaube hielt uns gesetzestreu und loyal. Aber er verfestigte traditionelle Geschlechterrollen, in denen Arbeit und Macht ungerecht verteilt werden. Und unsere Religion war nicht tolerant; Toleranz aber ist wichtig, damit eine Gesellschaft funktioniert. Intolerante Religion isoliert Gemeinschaften nach außen und vertreibt freiheitsliebende Menschen, und wer sich dann abwandte, erlebte eine Art Inquisition. Das hemmte den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben