Europa ist unser Schicksal. Kein Land spürt das mehr als die Ukraine. Brutal überfallen von Russland kämpft sie um ihre europäische Zukunft. Wenn wir nicht aufpassen, könnte es uns in Zukunft ähnlich gehen wie der Ukraine heute. Die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni sind deshalb Schicksalswahlen.
Die Ukraine gehört zu Europa. Schon auf dem Euromaidan 2014 wehten auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew bei den Demonstrationen gegen den korrupten Präsidenten Viktor Janukowytsch genauso viele europäische wie ukrainische Flaggen. Janukowytsch wurde gestürzt, weil er das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen und stattdessen die Ukraine in den russischen Machtbereich führen wollte.
Putin annektierte 2014 die Krim, gegen jedes Völkerrecht und unter flagranter Verletzung der Charta von Paris, auf die sich 1990 alle europäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion sowie die USA und Kanada geeinigt hatten. Die Charta von Paris garantiert als europäische Friedensordnung die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten und enthält ein Gewaltverbot.
Russland schert sich nicht mehr um die eigene Unterschrift unter diese Charta und führt seit 2014 Krieg gegen die Ukraine mithilfe sogenannter Separatisten, die es militärisch unterstützt. Der russischen Aggression fielen im Donbas schon vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 rund 14.000 Menschen zum Opfer. Seitdem sind Hunderttausende ums Leben gekommen. Russland hat inzwischen ukrainisches Gebiet so groß wie Portugal plus Slovenien besetzt.
»Putin will das ukrainische Volk auslöschen und den souveränen, ukrainischen Staat in seiner Existenz vernichten.«
In den russisch besetzten Gebieten setzt Wladimir Putin eine brutale Russifizierungspolitik durch, denn er will das ukrainische Volk auslöschen und den souveränen, ukrainischen Staat in seiner Existenz vernichten. Schon 2019 hatte er in seinem Aufsatz »Über die Einheit des russischen und des ukrainischen Volkes« behauptet, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil Russlands sei. Er ignorierte die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, die am 1. Dezember 1991 durch ein Referendum bestätigt worden war. 90 Prozent der Bevölkerung hatten für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt. Auch auf der Krim und in der Stadt Sewastopol waren 54 beziehungsweise 57 Prozent dafür.
Im Budapester Memorandum hatte Russland noch 1994 die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine völkerrechtlich anerkannt. Es hatte sogar garantiert, diese zu schützen. Dieses Garantieversprechen hatte Russland gegeben, weil die Ukraine die auf ihrem Gebiet stationierten sowjetischen Atomwaffen an Russland übergeben hatte.
Wer nationalstaatliche Integrität tatsächlich schützt
Um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu begründen, behauptet Putin, dass das Land seit 2014 von Nazis regiert werde. Es müsse entnazifiziert werden. Und Nazi ist für Putin jede und jeder, die oder der sich als Ukrainer/in fühlt und nicht als Russin oder Russe. Deshalb ist in den russisch besetzten Gebieten die ukrainische Sprache verboten. Russische Schulbücher haben die ukrainischen ersetzt. Zehntausende ukrainische Kinder, die in den Kriegswirren den Kontakt zu ihren Eltern verloren haben, wurden nach Russland deportiert, um in russischen Familien zu Russen erzogen zu werden.
Manche in Deutschland und anderen Mitgliedsländern der EU sehen in der Übertragung nationalstaatlicher Befugnisse auf Brüssel oft einen Verlust nationaler Eigenständigkeit. Aber richtig ist: Die EU schützt die nationalstaatliche Integrität ihrer Mitgliedstaaten vor imperialem Zugriff. In Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages ist festgeschrieben, dass sich die Mitgliedsländer der Europäischen Union im Falle eines »bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet« gegenseitig unterstützen müssen.
Neben der Beistandsgarantie des Art. 5 NATO-Vertrag ist dieses Sicherheitsversprechen, dass sich die EU-Mitglieder gegeben haben, zentral für die Sicherheit Deutschlands. Es ist deshalb wichtig, dass bei den Europawahlen am 9. Juni nur solche Parteien gewählt werden, die dieses Sicherheitsversprechen nicht infrage stellen, sondern dazu bereit sind, es durch eine stärkere Rolle der EU in Fragen von Sicherheit und Verteidigung zu unterstützen. Mit Blick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November könnte es schneller darauf ankommen, als uns lieb ist.
Szenario zum Fürchten
Denn unwahrscheinlich ist es nicht, dass Donald Trump gewinnt, wie Robert Kagan am 30. November 2023 für die Washington Post schlüssig analysierte. Michael Thumann hat im Februar 2024 in der Zeit beschrieben, was daraus folgen könnte. Ein Szenario zum Fürchten, das leider nicht unrealistisch ist: »Trump gewinnt die Wahlen und einigt sich einige Wochen nach seiner Inauguration mit Putin über einen Waffenstillstand in der Ukraine. Ein echter Deal nach seinem Geschmack. Trump stoppt alle Waffenlieferungen und Ersatzteile für US-Geräte und zwingt die Ukraine an den Verhandlungstisch. Die Ukraine wird zerstückelt, Präsident Wolodymyr Selenskyj stürzt, das Land versinkt politisch in dem Chaos, das Putin seit dem Überfall 2022 beharrlich zu stiften versucht. Die Europäer dürfen zugucken und sehen, wie die Ukraine zerfällt.
»Trump hat Putin geradezu ermutigt, die Verteidgungsbereitschaft der NATO zu testen.«
Das könnte das Modell für weitere europäische Länder werden, wenn Trump die NATO zerrüttet. Statt NATO und Abschreckung könnten sich Trump und Putin über das weitere Vorgehen in Europa verständigen und Deals schließen zum gegenseitigen Vorteil. Trump spart Geld und Putin übernimmt. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die baltischen Staaten in Putins Fadenkreuz gerieten. Trump hat die Welt wissen lassen, dass er von der NATO nicht viel hält. Die USA müssten sich auf China konzentrieren. Mit diesen Signalen hat er Putin geradezu ermutigt, die Verteidigungsbereitschaft der NATO zu testen.
Europa muss sich darauf vorbereiten, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie auch ohne amerikanische Hilfe den Krieg gewinnt. Denn wenn Putin den Krieg gewinnt, macht er weiter. In ein paar Jahren hätte sich Russland vom Krieg gegen die Ukraine erholt und könnte weiter ausholen, um Putins Ziel einer neuen Weltordnung militärisch durchzusetzen.
Wirtschaftlich hat die EU allemal das Zeug dazu, der Ukraine diese Hilfe zukommen zu lassen, denn sie ist Russland wirtschaftlich um ein Vielfaches überlegen. Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist etwa so hoch wie das von Italien. Die Frage ist allerdings, ob die EU den politischen Willen dazu aufbringt, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie den Krieg gewinnt.
In allen Mitgliedsländern gibt es rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien, die bereits die jetzige Hilfe für die Ukraine infrage stellen und einem Appeasement mit Russland das Wort reden. Auch manche Partei vom linken Flügel hätte nichts gegen eine Zerstückelung der Ukraine. In Deutschland sind AfD, Linke, das Bündnis Sarah Wagenknecht und die Werteunion Parteien, die die Ukraine durch einen Stopp der Unterstützung an den Verhandlungstisch zwingen wollen. Unter den gegenwärtigen Umständen könnte dabei nur ein russischer Diktatfrieden herauskommen. Es wären keine Verhandlungen, sondern die Ukraine müsste kapitulieren. Und es wäre auch kein Frieden, denn Putin würde über kurz oder lang weitermachen, um das russische Imperium wiederherzustellen.
Sollten die politischen Ränder bei den Europawahlen gestärkt werden, hätte das fatale Folgen.
Viele Beobachter gehen davon aus, dass die politischen Ränder bei den Europawahlen zulasten der Mitte gestärkt werden. Sie könnten von der traditionell niedrigen Wahlbeteiligung profitieren. Das hätte fatale Folgen. Denn das Europaparlament entscheidet auch über die Zusammensetzung der EU-Kommission. Deren Mitglieder werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und vom Europäischen Parlament gewählt.
Wir wissen, wie wichtig die EU für unseren wirtschaftlichen Wohlstand ist und welche Vorteile jeder von uns durch die vier Grundfreiheiten der EU hat: den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Wir werden im Schengenraum an keiner Grenze mehr kontrolliert und müssen niemanden fragen, wenn wir in einem anderen EU-Staat arbeiten wollen.
Natürlich gibt es viele Themen, die wir gemeinsam auf EU-Ebene angehen müssen, weil sie rein nationalstaatlich nicht gelöst werden können wie der Kampf gegen die Erderhitzung, der Ausbau des europäischen Fernverkehrsnetzes oder eine gemeinsame Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik. Und natürlich gibt es Themen, über die sich viele ärgern: die EU-Agrarpolitik beispielsweise oder eine übergriffige EU-Bürokratie in Fragen, die nationalstaatlich näher an der Sache und besser geregelt werden könnten. Aber über diese und andere Fragen können wir in der EU nur dann selbst und demokratisch entscheiden, wenn die imperialen Absichten Russlands in der Ukraine gestoppt werden. Weil vom Schicksal der Ukraine unser aller Schicksal abhängt, sind die Wahlen zum Europäischen Parlament vor allem Ukrainewahlen.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!