Menü

© picture alliance / Ulrich Baumgarten | Ulrich Baumgarten

Umweltpolitik – die Herausforderung an die SPD Unsere Antwort im Anthropozän

Die Corona-Pandemie zeigt, dass die Schutzschichten des menschlichen Lebens dünn geworden sind. Dabei kommt mit der anthropogenen Klimakrise die größte Pandemie erst noch auf uns zu. Die Erwärmung der Atmosphäre ist das »Virus«, das das Fieber in die Höhe treibt und die Erdatmosphäre, das Immunsystem unseres Planeten, zerstört. Die Klimakrise geht über die Überlastung und Gefährdung der Ökosysteme hinaus, sie stellt die Existenz der menschlichen Zivilisation infrage. Wir sind in einer Schlüsselsituation der Erdgeschichte, die uns sehr viel abverlangt.

In zwei Jahrzehnten wird voraussichtlich eine globale Erwärmung um 1,5 Grad Celsius erreicht sein. Dieser Anstieg ist kaum noch zu verhindern, denn das Klimasystem hat eine Anpassungsfrist von rund vier Jahrzehnten. Bis dahin werden erst einmal »vollendete Tatsachen« geschaffen. Dann wird es weitere rund 25 Jahre dauern, bis die Erde zwei Grad Celsius wärmer ist. Bereits vorher werden die Korallenriffe absterben, landwirtschaftliche Systeme zusammenbrechen, Inselstaaten überflutet, Wetterextreme zunehmen – mit enormen sozialen und wirtschaftlichen Folgen.

Einzelne Korrekturen oder Ergänzungen reichen nicht aus, um das prekäre Wechselverhältnis Mensch-Natur in ein dauerhaftes Gleichgewicht zu bringen. Umwelt- und Klimaschutz muss von der sozial-ökologischen Gestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft ausgehen. Um die Tragweite dieser Aufgabe zu verstehen, muss die Entwicklung der letzten 200 Jahre in den Blick genommen werden. Seit der Industriellen Revolution, die 1784 mit der Entdeckung des wattschen Parallelogramms ihren Anfang nahm, das zur Grundlage der Dampfmaschine wurde, unterscheidet sich die Eingriffstiefe der Produktionssysteme grundsätzlich von jenen traditioneller Wirtschaftsweisen.

Die Produktionssysteme sind abhängig vom Energiestrom der Sonne und eng verbunden mit den Stoffkreisläufen. Die Beanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen hat bis heute um das Hundertfache zugenommen. In den Industriestaaten ist die Ressourcennutzung pro Kopf um das Zwanzigfache angestiegen. Zudem hat sich die Weltbevölkerung nahezu verzehnfacht. Schon die schiere Quantität wurde zur Achillesferse der industriellen Zivilisation. Den Vordenkern der europäischen Moderne war die Klima- und Umweltkrise jedoch nicht vorstellbar, René Descartes sah die Natur als ein sich immer wieder selbst regulierendes System. Bis heute wird ökonomische Wertvermehrung als Voraussetzung für Wohlstand gesehen, obwohl dasselbe Wachstum auch ökologische Wertvernichtung verursacht.

Die technisch-ökonomischen Produktivkräfte gingen ein enges Bündnis mit der Verbrennung fossiler Energieträger und der Ausplünderung der Rohstofflager ein. In den letzten Jahrzehnten eskalierten die Eingriffe in die Natur. Die Belastung der Ökosysteme, der Raubbau an den natürlichen Ressourcen, die Zerstörung der Biodiversität sowie die Freisetzung chemischer und radioaktiver Stoffe nahmen eine globale Dimension an. Doch für menschliches Leben ist die Tragfähigkeit unseres Planeten endlich.

In vier von neun lebenswichtigen Dimensionen, zu denen auch das Klimasystem, die Biodiversität und die Süßwasserreserven gehören, werden planetarische Grenzen bereits überschritten. Im Jahr 2019 wurde der »Welterschöpfungstag«, an dem die jährlich nachwachsende Biomasse vernutzt ist, schon am 29. Juli erreicht. Im Jahr 2000 war es noch der 1. November. Den Rest des Jahres, also schon mehr als fünf Monate, zehrt die Menschheit die natürliche Substanz auf.

Obwohl der Klimarahmenvertrag, der auf dem UN-Erdgipfel 1992 in Rio einstimmig von der Weltgemeinschaft zum Schutz der Erdatmosphäre beschlossen wurde, eine Reduktion der Treibhausgase festgelegt hat, haben sich seitdem die CO2-Emissionen verdoppelt. Viel schneller als noch vor wenigen Jahren erwartet, steuert das Klimasystem auf Kipppunkte zu, an denen die Entwicklung abrupt abbricht, die Richtung wechselt oder sich gewaltig beschleunigt. Ausgelöst werden solche Kipppunkte von Methanfreisetzungen im sibirischen Permafrost, der Abschwächung der thermohalinen Meereszirkulation oder einem Austrocknen des Regenwaldes.

Gestalten oder zerstören im Anthropozän

Die gigantische Zunahme in der Nutzung von Energie, Wasser, Beton, Metallen, Plastik und chemischen Substanzen, der Ausstoß schädlicher Gase, gewaltige Abfallberge, die Zerstörung der Biodiversität und die Übernutzung der Böden, das hat dazu geführt, dass die Menschheit im Industriezeitalter zur stärksten Naturgewalt aufgestiegen ist. Die stratigraphischen Ablagerungen belegen, dass die Erde in eine neue geologische Epoche eingetreten ist, das »Anthropozän«. Das bedeutet: Die Welt, wie sie im Holozän der letzten 12.000 Jahre zur Heimat der Menschen wurde, hört auf zu existieren.

Das Anthropozän-Konzept stammt von Paul J. Crutzen, der 1995 für die Entschlüsselung des Ozonabbaus mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Danach ist das Anthropozän ein Produkt der »Geologie der Menschheit«. Menschenzeit, wie das Anthropozän auch heißt, ist doppelsinnig gemeint. Einerseits als Fähigkeit der Menschen zur ökologischen Selbstvernichtung, andererseits als ihre Verpflichtung für den sozial-ökologischen Umbau, der die natürliche und soziale Mitwelt dauerhaft schützt. An dieser Weichenstellung stehen wir heute. Es ist ein Rendezvous mit dem Schicksal, bei dem es nur Umdenken oder Scheitern geben kann. Zu Recht nennt der Human Development Report der UNO die heraufziehende Klimakrise die größte Herausforderung, vor der die Menschheit je stand.

Das Anthropozän-Konzept macht deutlich, dass die Welt nicht nur unter den Folgen von Neoliberalismus und Externalisierung leidet, sondern mehr noch von den Geburtsschmerzen einer neuen Erdepoche geplagt wird, dessen Gesetze erst geschrieben werden müssen. Sie erfordern in erster Linie einen rationalen Umgang mit den ökologischen Grenzen des Wachstums, damit das Erdsystem nicht weiter geschädigt und mehr Gerechtigkeit verwirklicht werden. Beides, ökologische Vernunft und soziale Demokratie sind nur zusammen möglich, aber etwas grundlegend anderes als die Akzeptanz bloßer Konkurrenz offener Märkte und die Digitalisierung von Macht und Beschleunigung.

Der Maßstab für die weitere Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft muss die ökologische Tragfähigkeit sein. Seine Umsetzung ist ohne mehr Demokratie und Gerechtigkeit nicht möglich, denn sowohl die Ursachen als auch die Folgen der Klimakrise sind auf dramatische Weise ungerecht verteilt. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung ist für 15 % der anthropogenen Treibhausgase verantwortlich, die unteren 50 % dagegen für nicht einmal 7 %. Auf dem afrikanischen Kontinent leben fast 20 % der Weltbevölkerung. Sie sind von Dürren, Wassernot und Ernährungskrisen besonders hart betroffen, obwohl sie gerade einmal 4 % der klimaschädlichen Gase verursachen.

Die Grenzen der Linearität

Die Umwelt- und Klimapolitik muss jenseits von Wachstumszwang und Technikgläubigkeit zur Gesellschaftspolitik werden. Das »System Merkel«, dieser theorielose Pragmatismus, kann das nicht. Es reagiert auf Probleme und passt sich Stimmungen an. Ihm fehlen die Fantasie, der geistige Tiefgang und der politische Gestaltungswille.

Die Schwäche unserer Zeit liegt darin, dass es kaum visionäre Konzepte gibt, um die Entwicklung von Wirtschaft, Technik und Gesellschaft durch Selektions- und Kombinationsprozesse so zu gestalten, dass sie den Herausforderungen aus Klimakrise, sozialer Ungleichheit, Marktmacht und Neoliberalismus eine ganzheitliche Vision des gesellschaftlichen Fortschritts entgegenstellen. Die planetarischen Krisen erfordern ein explizit utopisches Denken. Die Politik muss sich deshalb von den Ideologien befreien, die sie an das Schneller, Höher, Weiter einer niedergehenden Zeit kettet.

Die Krise im Wechselverhältnis Mensch-Natur hat ihre Wurzeln nicht zuletzt im europäischen Rationalismus, der in dem Szientismus der damaligen Zeit von dem Grundgedanken der Linearität geprägt wurde, der die Menschen aus Zwängen und Abhängigkeiten befreien soll. Die Stufenleiter des Seins (Scala natura) ordnet das Leben hierarchisch von der einfachsten bis zur komplexesten Erscheinung. Das Ranghöhere ist immer das zeitlich Spätere in einem offenen und nicht abschließbaren Prozess einer sich vorwärts bewegenden Gesellschaft. Hinter der Idee der Linearität steht die Hoffnung auf Fortschritt und ein menschenwürdiges Leben. Im Industriezeitalter rückten ins Zentrum mehr und mehr technischer Fortschritt und sein späteres Pendant: wirtschaftliches Wachstum. Sie wurden, wie Max Weber schrieb, zur großen Maschine, dessen Zwängen sich niemand entziehen könne.

Die Naturverhältnisse sind aber nicht nur die Folge einer mechanistisch-anthropozentrischen Ideologie, sondern auch gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, erzeugt durch Verwertungszwänge und Machtverteilung. Soll das Anthropozän nicht in eine Selbstvernichtung der menschlichen Zivilisation führen, braucht es einen verantwortungsbewussten und gerechten Umgang mit den ökologischen Grenzen des Wachstums, der weder naturvergessen noch menschenvergessen ist. Noch haben wir es in der Hand, wohin das Pendel schlägt. Die ökologischen Herausforderungen können durch eine nachhaltige Entwicklung bewältigt werden. Diese erfordert mehr soziale Demokratie und eine Kultur der Solidarität.

Ressourcenbewirtschaftung, Technikgestaltung und Kreditlenkung sind wesentliche Voraussetzungen für den ökologischen Umbau der Wirtschaft, der die globalen Märkte bändigt, Egoismus und Gier zurückdrängt und den rücksichtslosen Raubbau an der Natur beendet. Die Grenzen der Tragfähigkeit unseres Planeten einzuhalten, machen die Orientierung am Allgemeinwohl und die Stärkung der öffentlichen Güter unverzichtbar. Dann ist die Klimakatastrophe kein Schicksal.

Die Herausforderung an die Sozialdemokratie

Umweltpolitik muss zu einer sozial-ökologischen Gestaltungspolitik werden. Tatsache ist: Zwischen 1998 und 2005 mussten alle Umweltgesetze wie die ökologische Finanzreform, der Atomausstieg, die Novellierung des Naturschutzgesetzes oder das Erneuerbare-Energien-Gesetz gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP durchgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wird der Wille der grünen Führung, um jeden Preis in die Regierung zu kommen, zum Selbstbetrug an der eigenen Idee.

Mehr noch: Was ist, wenn für einen neuen gesellschaftlichen Fortschritt die SPD den Schlüssel in der Hand hat? Das setzt voraus, dass die Sozialdemokratie an ihren historischen Wurzeln anknüpft, nämlich an die Idee der sozialen Emanzipation des Menschen in einem solidarischen Verständnis, die sie heute erweitern muss. Dafür muss die SPD einen Perspektivenwechsel ins Zentrum des Wahlkampfes stellen und einen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag vorschlagen.

Das Anthropozän beschreibt den Menschen als Akteur im planetarischen Maßstab. Es ist ein »blauer Brief« im Umgang mit technisch-ökonomischer Macht. Hier muss der Mensch seine Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum überwinden, sodass er zu einem neuen Humanismus fähig wird, zum sozial-ökologischen Gestalter des Anthropozäns. Die Chance einer neuen und erweiterten Emanzipation des Menschen in Verantwortung für die Menschheit muss genutzt werden. Dann können wir seiner Bestimmung gerecht werden, die Erde zum Ort eines guten Lebens für alle zu machen.

Natürlich verlangt das auch eine Auseinandersetzung mit dem global dominierenden Kapitalismus, aber es geht weit darüber hinaus. Das Anthropozän kann zum Ausgangspunkt für eine neue Menschlichkeit werden, die soziale und ökologische Verantwortung miteinander verbindet. Das ist die Idee der Emanzipation in einem neuen und erweiterten Sinne. Ein sozial-ökologischer Gesellschaftsvertrag schafft dafür die Voraussetzung. Das muss das Thema für die SPD im Wahlkampf sein, um an die eigene Geschichte anzuknüpfen und sie mit einem Zukunftsauftrag zu verbinden. Nur so können wir uns von der geistigen Blockade der neokonservativen Ideologie, die in den letzten 40 Jahren so lähmend war, befreien. Das Anthropozän ist eine große Chance, die Debatte auf stabile programmatische Füße zu stellen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben