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Unsere Werte, unsere Lieferkette

Alltag einer für die europäische Textilindustrie arbeitenden Näherin: »Morgens um Acht hat die junge Inderin noch Kraft. Mittags bekommt sie eine Schale Reis, Wasser. ›Abends ist mein Kopf auf den Werktisch gesunken. Dann kam der Aufseher und hat sich über mich gebeugt, mich an den Haaren hochgezogen.‹ Bis sechs Uhr am nächsten Morgen musste sie durcharbeiten. Dann zwei Stunden Schlaf. Um acht Uhr ging es weiter. ›So war es immer, bekamen wir Aufträge aus Europa.‹« (FAZ, 15. Juni 2019).

Der Manchesterkapitalismus hat Mitte des 19. Jahrhunderts den Faden der Ausbeutung aufgenommen und spinnt ihn im 21. Jahrhundert in der südindischen Garnindustrie fort. Lässt sich dieser Ausbeutung, lässt sich der Kinderarbeit mit dem in Deutschland verabschiedeten Lieferkettengesetz beikommen? Laut Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Organisation der Vereinten Nationen, müssen weltweit 153 Millionen Kinder zum Familienunterhalt beitragen, etwa die Hälfte davon schuftet unter gefährlichen Bedingungen. Ihre körperliche Unversehrtheit nimmt Schaden; die Minderjährigen müssen sich schon vor Erreichen der zivilisatorisch anerkannten Altersgrenze als Arbeiter verdingen.

Und die Zahl der Kinderarbeiter ist durch die Corona-Pandemie weiter gestiegen. Weil die Einkommen vieler Eltern weggebrochen sind, sind Kinder aus armen Familien oft gezwungen zu arbeiten. Und die, die auch schon vorher gearbeitet haben, tun dies nun unter noch schlechteren Bedingungen bei längeren Arbeitszeiten.

Die Argumente der Industrie- und Handelsverbände, die das Lieferkettengesetz verhindern sollten, klangen redundant. Wettbewerbsnachteil, Bürokratiemonster, unabsehbare Klagewelle lauteten die Stichworte. Als die Pandemie ausbrach, konnte die Abwehrfront erst einmal aufatmen. Nun ist das Gesetz doch noch gekommen, und seine Kritiker halten sich mit der Schelte zurück. Obwohl es den Unternehmen doch einiges zumutet. Sie sind künftig verpflichtet, ihre Lieferkette im Hinblick auf Menschenrechtsverstöße zu analysieren. Sie müssen im Falle solcher Verstöße für Abhilfe sorgen. Den Beschäftigten ist eine Beschwerdeinstanz einzurichten, an die sie sich wenden können.

Die Gegner des Gesetzes versammelten sich unter drei Parolen: Es darf keine zivilrechtliche Haftung geben. Das Gesetz darf erst ab einer Konzerngröße von 5.000 Beschäftigten gelten. Die abverlangte Sorgfaltspflicht darf sich nur auf den unmittelbaren Zulieferer beziehen. Dass die Kritik seitens der Unternehmerverbände moderat ausfällt, lässt sich verstehen. Lediglich bei der Konzerngröße hat man sich nicht ganz durchgesetzt. Unters Gesetz fallen schon Konzerne mit 3.000 Inlandsbeschäftigten, und diese Bezugsgröße sinkt ab dem Jahr 2024 auf 1.000. Das Gros der deutschen Textilindustrie fällt nicht unter den Geltungsbereich des Gesetzes. Nur die wenigen großen, über ein eigenes Filialnetz verfügenden Konzerne weisen so viele Beschäftigte auf. Die kleinen Unternehmen sind oft sogenannte Logistikunternehmen, nur bestehend aus den Abteilungen Einkauf, Vertrieb, Design und Marketing. Über eigene Produktionsstätten verfügen diese schlanken Konzerne nicht. Sie kommen hierzulande vielleicht mit 300 Leuten aus, aber in Indien, Pakistan oder Vietnam nähen zehnmal so viele Personen für sie.

Bangladesch ist ein bevorzugtes Land der garnverarbeitenden Industrie. Dort sind vor wenigen Jahren die Katastrophen eingetreten, die das Lieferkettengesetz angestoßen haben. Hier stürzte eine Fabrik ein und begrub die Arbeiterinnen unter sich. Hier verbrannten Näherinnen, weil die Fluchtwege fehlten. Ob solche Tragödien der Vergangenheit angehören, weiß man nicht. Dass die genannten Logistikkonzerne auch künftig dafür nicht haftbar zu machen sind, ergibt sich aus dem Gesetz. Die Bezugsgröße der 1.000 Beschäftigten fällt viel zu hoch aus.

Im Vergleich mit dem Maschinen- und Anlagenbau ist die Textilindustrie zwergenhaft. Er ist einer der größten deutschen Branchen. Die Klein- und Mittelbetriebe sind sein Gerippe; auch diese Branche kennt nur ganz wenige Große. Ein Werkzeugbauer mag in Göppingen sitzen, aber sein Zuliefernetz speisen chinesische, türkische, kroatische Kleinfirmen. Vom neuen Gesetz wird die schwäbische Firma nicht erfasst; 1.000 Leute wird sie nie auf ihrer Gehaltsliste führen und der ihre Stanzteile mit einer Sprühpistole lackierende chinesische Arbeiter hat nichts vom kommenden Lieferkettengesetz. Der Arbeiter ruiniert weiterhin seine Gesundheit, wenn sich der dortige Unternehmer die Investition in eine Lackieranlage spart.

Aber dem chinesischen Lackierer eröffnet das Gesetz doch einen neuen Klageweg, sagt der Bundesarbeitsminister. Er kann jetzt eine NGO oder die IG Metall oder den Sozialattaché in Peking beauftragen, für ihn zu klagen. Ist das wirklich realistisch? Die IG Metall soll ihr Betreuungsnetz globalisieren? Sie hat gerade mal genug Hauptamtliche, um ihre deutschen Betriebe gut zu betreuen. Und den NGOs wird das chinesische Regime kaum gestatten, Arbeiterinteressen zu vertreten. Es gibt wenig, was die Kommunistische Partei in ihrem Land mehr fürchtet, als freie Gewerkschaften.

Wendet man sich der vom Gesetz geforderten Sorgfaltspflicht zu, kommt ein weiterer Haken zum Vorschein. Bleiben wir beim Maschinenbau und den Großen. Die Unternehmen Trumpf oder Dürr beziehen ihre Spezialstähle vermutlich traditionell aus dem Ruhrgebiet. Da die Sorgfaltspflicht nur dem unmittelbaren Zulieferer gegenüber gilt, müssen sie überprüfen, ob Thyssen-Krupp in Duisburg-Bruckhausen keine Kinder beschäftigt. Die Bedingungen der Eisenerzproduktion gehen Dürr und Trumpf nichts mehr an. Diese zu evaluieren, ist aber doch Sache von Thyssen-Krupp, könnte man entgegnen. Was aber ist mit den Beschäftigten des Subunternehmens, das für den chinesischen Staatskonzern schürft?

Die Lieferkette, die supply chain, ist ein Kernbereich jedes Unternehmens. Wer sie verantwortet, hat in einem Konzern eine der wichtigsten Hosen an. Diese Kette mit aller Sorgfalt zu behandeln, ist absolut geboten. Die Daimler AG bindet etwa 60.000 Lieferanten ein. Die Komplexität der Lieferkette tauchte als Argument regelmäßig auf, um zu begründen, warum ein die gesamte supply chain umfassendes Gesetz unmöglich sei. Nie könne man sich den geforderten Überblick über die Menschenrechtsverhältnisse in den hinteren Kettengliedern verschaffen. Doch längst verfügen die Unternehmen über internetbasierte sogenannte blockchain-Systeme, die ihnen helfen, den Überblick über jedes Glied der Kette zu behalten. Kein Zulieferteil wird verbaut, das nicht den geforderten ISO- und sonstigen Normen entspricht; die qualitätsbewusste deutsche Industrie duldet keinen Pfusch. Was für die Vorprodukte funktioniert, würde auch für die Menschenrechte entlang der gesamten Wertschöpfungskette funktionieren.

Nun gilt also ab 2023: Diskriminiert ein deutsches Unternehmen eine Minderheit, oder lässt sie Zwangsarbeit leisten, und beendet der Vorstand diese Praxis nicht, kann das Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen und mit einem Bußgeld belegt werden. Je nach Schwere des Vergehens kann dies bis zu 10 % des Umsatzes betragen. Das deutsche Unternehmen VW macht ein Viertel seines Umsatzes in China. Könnte es also ab 2023 ein Achtel seines Umsatzes verlieren, wenn die chinesische Zentralregierung nicht glaubhaft widerlegen kann, dass es ein System der Zwangsarbeit gibt, in das Hunderttausende von Uiguren hineingepresst sind? Arbeitsminister Hubertus Heil versichert, man habe das neue Gesetz mit Zähnen ausgestattet. Man wird sehen, ob die auch beißen und hat seine Zweifel.

Das die Lieferketten kontrollierende Gesetz basiert auf den »Kernarbeitsnormen« der Internationalen Arbeitsorganisation. China erkennt von diesen Normen nur zwei an, das Diskriminierungs- und das Kinderarbeitsverbot. Die Normen Vereinigungsfreiheit und Verbot von Zwangsarbeit hat die KP nicht anerkannt. Aus ihrer Sicht durchaus konsequent: Wo die Arbeiterklasse die Produktionsmittel besitzt, braucht es keine gegen Unternehmer streitenden Vereinigungen, außerdem gibt es den Allchinesischen Gewerkschaftsbund. Und da alle Chinesen seit Maos Zeiten als befreit gelten, kann es keine Zwangsarbeit geben. Nur ein Zyniker kann die daraus entstehende Verwicklung witzig finden. Wer badet den daraus entstehenden Konflikt aus, die Unternehmen?

Die im Ausland tätigen deutschen Unternehmen agieren nicht wie Staaten als Subjekte des Völkerrechts. Ein deutsches Gesetz kann nur das Rechtsverhältnis zwischen deutschen Staatsbürgern und hiesigen Unternehmen regeln. Im Ausland entfaltet es vor allem symbolische Wirkung. Schon die Rechtssystematik verhindert das scharfe Gebiss. Das muss aber keine Resignation zur Folge haben. In Brüssel hat die deutsche Ratspräsidentschaft – mit einer Eile, die man sich beim Lieferkettengesetz gewünscht hätte – ein Investitionsabkommen mit China auf den Weg gebracht. Noch ist es nicht von der EU-Kommission und dem EU-Parlament ratifiziert. Dieses Abkommen kann heilen, woran das deutsche Lieferkettengesetz krankt. Es kann die Vereinigungsfreiheit der abhängig Beschäftigten und das Verbot der Zwangsarbeit zur Bedingung machen. Das sind Bürgerrechte, das sind westliche Werte, und unsere Kanzlerin spricht doch gerne von »unseren Werten«.

Man ahnt, auf welche Reaktion dieser Nexus von Bürgerrecht und Investitionsabkommen trifft: Das sei Gesinnungsethik, keine Realpolitik. Das Transatlantische Abkommen mit den USA (TTIP) ist an weniger Grundsätzlichem gescheitert als an der Vereinigungsfreiheit; es sei ans Chlorhühnchen erinnert. Kann man von »unseren Werten« sprechen und zwei substanzielle davon ausnehmen? Was den in Peking Regierenden auf die Füße treten könnte, wird gerne als Gesinnungsethik abgetan, wohingegen das sich vor die Füße Werfen, der Kotau, regelmäßig zur Verantwortungsethik geadelt wird. Derweil modeln die realpolitischen chinesischen Herren die Welt nach ihrem Bilde um, und sie sind im globalen Süden damit schon weit gekommen. In ihrem Weltbild haben freie Gewerkschaften keinen Platz.

Die Vereinigungsfreiheit ist das Mittel der Wahl, um die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und um die Kinderarbeit zu beenden. Zur Leiderfahrung der Arbeiterbewegung bis ins späte 19. Jahrhundert gehörte die Arbeit der Kinder. Sie für Zehn-, Zwölfstundentage an die Fabrikherren zu verkaufen, war das Proletariat gezwungen. Der krude Kapitalismus endete erst, als es den Gewerkschaften gelang, so viel Lohn zu erstreiten, dass die Familien ohne das von den Kindern herbeigebrachte Zubrot überleben konnten. Was auf der nördlichen Halbkugel Geschichte ist, ist im Süden immer noch Gegenwart. In den Kobaltminen von Katanga und an vielen anderen Orten kann man sich davon überzeugen.

Die deutsche Gesellschaft ist moralisch verkettet mit Gesellschaften, denen die bürgerlichen Rechtsstandards abgehen. »Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird«, schreibt Karl Marx. Was für die frühen Vereinigten Staaten im Verhältnis der weißen Arbeiter der Nord- zu den schwarzen Arbeitern der Südstaaten galt, gilt fortgesetzt in der Gegenwart: Die Arbeit in den entwickelten Ländern mag noch so clean in Büros und Fabriken vonstattengehen; sie ist eingebunden in mitunter ganz schmutzige Produktionsbedingungen. Überlange Arbeitstage, niedrige Arbeitsschutzstandards, Löhne von einem Dollar. Nein, nicht für eine Stunde, sondern für die zwölf Stunden am Tag, in denen eine Inderin den First-Flash-Assam-Tee pflückt.

Das geplante Lieferkettengesetz markiert einen richtigen Schritt. Auf seiner Habenseite stehen die abverlangte Berichtspflicht, das Präventionsgebot, der Beschwerdemechanismus. Dort, wo es im Soll ist, beim Verbot von Zwangsarbeit und der garantierten Vereinigungsfreiheit, muss ein europäisches Gesetz her, das die Standards im Wirtschaftsverkehr mit dem die Schwellen- und Entwicklungsländer bald dominierenden Land, mit China festschreibt. Noch ist das Investitionsabkommen nicht ratifiziert, noch besteht die Chance, es nachzubessern und ihm »unsere Werte« einzuschreiben.

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