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»Unter Angela Merkel ist viel Vertrauen verspielt worden«

Gesine Schwan ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und Präsidentin der von ihr mitgegründeten Humboldt-Viadrina Governance Platform. Das Gespräch führte Thomas Meyer.

 

NG|FH: Frau Schwan, Sie haben kürzlich den August-Bebel-Preis 2017 erhalten. Welche Bedeutung hat dieser für Sie? Was verbinden Sie mit Bebel?

 

Gesine Schwan: Bebel ist einer der Heroen der Sozialdemokratie, mit dem ich mich bisher allerdings nicht besonders beschäftigt habe. Ich weiß, dass von ihm das berühmte Buch Die Frau und der Sozialismus stammt und ich habe es immer als sehr positiv empfunden, dass Bebel in Bezug auf Gleichberechtigung und Emanzipation sehr viel weiter war als viele andere Sozialdemokraten, die ja nicht immer frei von autoritären Grundeinstellungen waren. Und wenn man aus heutiger Sicht fragt, wer denn damals wirklich für eine Grundidee wie ein Fels in der Brandung gegen alle Anfechtungen durch die Sozialistengesetze usw. stand, dann sieht man besonders deutlich, was für eine große Persönlichkeit Bebel war. Ich habe mehr und mehr Respekt vor seiner Leistung, eine Partei und Bewegung mitgegründet zu haben, die heute für uns selbstverständlich ist, die damals aber überhaupt nicht selbstverständlich war.

 

NG|FH: Sie sind ja seit Jahrzehnten sehr aktiv in der Sozialdemokratie, in der Partei und ihrem Umfeld, haben viele Initiativen selbst angestoßen. Woher nehmen Sie die Energie, um so viel intellektuelle und Arbeitskapazität und so viel Engagement in diese Projekte zu investieren?

 

Schwan: Wahrscheinlich liegt das an meiner Familie, in der bestimmte Werte und politisches Engagement – ganz besonders für Gerechtigkeit, für eine freiheitliche Demokratie und für die, denen es schlechter geht – ganz früh bestimmend waren. Es war deshalb auch klar, dass ich in eine linke Partei eintreten würde, nicht zuletzt deshalb, weil meine Eltern im Widerstand gegen den Nationalsozialismus engagiert waren.

1972 bin ich in die Partei eingetreten, da war ich 29. Grundorientierung allen politischen Engagements war immer der Kampf für Würde und Freiheit, vor allen Dingen dafür, dass wirklich alle Menschen in gleicher Weise diese Werte leben können müssen und dass das kein Lippenbekenntnis sein darf. Nach wie vor sehe ich keine deutsche Partei, für die das so ausgeprägt zutrifft wie die SPD.

 

NG|FH: In letzter Zeit vernimmt man des Öfteren die Forderung, die Sozialdemokratie müsse sich wieder sozialdemokratisieren, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will. Wie sehen Sie das?

 

Schwan: Die Sozialdemokratie hat Ende der 90er und Anfang der Nullerjahre zwar einerseits politisch viel bewirkt, die Stichworte hießen Emanzipation, ein fortschrittliches Ausländergesetz, Minderheitenschutz usw., auf dem klassischen Feld der Wirtschaftspolitik hat sie aber viel von dem angenommen, was wir im Rückblick Neoliberalismus nennen. Dieser hat den wirtschaftlichen Markt zum Zentrum des gesellschaftlichen Zusammenlebens gemacht, hat politische Vereinbarungen und Regulierungen, auch Solidarität zurückgedrängt und die Gesellschaft durchökonomisiert.

Das alles ist auch in die Sozialdemokratie selber eingeflossen und widersprach sowohl den sozialdemokratischen als auch meinen eigenen politischen Grundüberzeugungen, etwa wenn es um Kooperation, um Genossenschaftlichkeit und dergleichen geht. Es widerspricht aber auch meinem christlichen Glauben, wenn man sich ständig im Wettbewerb mit anderen sieht und den anderen damit zum Gegner macht. Nach dieser Maxime will ich nicht leben. Für andere einzustehen, sich gegenseitig zu unterstützen, das war und ist für mich wichtig, das macht mir auch Freude!

 

NG|FH: Eines Ihrer großen Themen während Ihrer Kandidatur für die Präsidentschaft war Vertrauen. Nun hat die SPD das Problem, dass sie einerseits eine Gesellschaft schaffen möchte, in der Vertrauen wachsen kann, andererseits aber selbst immer noch einen schmerzhaften Vertrauensverlust zu verkraften hat.

 

Schwan: Ja, in der ganzen Zeit meiner ersten Kandidatur war das schon ein großer Kummer. Ich wurde 2004 in meiner ersten Pressekonferenz mit Gerhard Schröder gefragt, was ich denn bewirken wollte. Und da habe ich geantwortet: »Ich möchte zu mehr Vertrauen in unsere Demokratie beitragen.« Eine Reihe von Journalisten sah dies als einen Beweis dafür an, dass ich keine Ahnung von Politik hätte, wo es dort doch um Macht, Geld und Einfluss ginge.

Für mich ist aber Vertrauen die Kultur, die für Demokratie und allgemein für ein gelungenes Zusammenleben unverzichtbar ist. Für die Demokratie deswegen, weil diese eben nur gelingen kann, wenn Menschen zwar auch im Konflikt miteinander stehen, sich gegenseitig auch kontrollieren, aber im Grunde miteinander kooperieren, etwa in politischen Organisationen. Wenn man nicht glaubt, dass andere auch eigenständig verantwortlich handeln, mit positiven Einstellungen, dann nimmt Kontrolle überhand und Politik wird durch rechtliche Regelungen ersetzt. Das ist im Wesentlichen das, was ich an den zwölf Jahren unter Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in der Europapolitik auszusetzen habe.

 

NG|FH: Hier gibt es auch einen Zusammenhang mit dem Thema Zivilgesellschaft. Denn Vertrauen erwirbt man doch eher im gemeinschaftlichen Handeln mit Gleichgesinnten, durch zivilgesellschaftliche Praxis, weniger durch Appelle, oder?

 

Schwan: Ja, ganz klar. Vertrauen entsteht dadurch, dass man, wie Hannah Arendt sagt, Versprechen nicht nur aussprechen, sondern auch halten kann. Deswegen bietet gerade freiwillige Verlässlichkeit die größte Sicherheit, dass man das zusammen schaffen kann, was man sich vorgenommen hat. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass Vertrauen auch ein sehr großes zivilgesellschaftliches Potenzial birgt. Robert D. Putnam hat z. B. die Qualität des Regierens in Nord- und Süditalien verglichen und herausgefunden, dass Norditalien dort weit vorne lag, weil es sehr früh eine Zivilgesellschaft entwickelt hat – nicht immer politisch, auch unpolitisch, sportlich oder musikalisch. Hier konnten die Menschen gegenseitige Verlässlichkeit erfahren und so konnte ein Grundvertrauen der gesellschaftlichen Beziehung entstehen. Dies hat die Demokratie gestärkt. Interessant dabei ist auch, dass das Sozialkapital, wie man das nennt, durch den Gebrauch nicht ab- sondern zunimmt.

 

NG|FH: Wie kann die SPD, gerade jetzt im Wahljahr, verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und neues aufbauen?

 

Schwan: Wenn man als Individuum Vertrauen verloren hat, dann muss man sich fragen, wo man eventuell Versprechen nicht gehalten hat. Erst wenn man das erkannt, ausgesprochen und die Gründe dafür sich und den anderen erklärt hat, kann man Vertrauen zurückgewinnen. Dieses Prinzip gilt auch für die SPD.

Nun ist das aber bei einer individuellen Herzensprüfung – in der theologischen Tradition nennt man das contritio cordis – etwas anderes, als wenn es um eine Partei geht. Eine Partei besteht aus vielen Menschen, und das, was sie politisch tut, ist auch nicht einfach unter moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Es können Konstellationen eine Rolle spielen, die nahegelegt haben, bestimmte Versprechen nicht zu erfüllen. Für mich ist das eklatante Beispiel, dass die Sozialdemokratie in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, über weite Strecken die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik mitgemacht hat: Abbau des öffentlichen Sektors, der Sozialversicherung, Privatisierung, Ökonomisierung gesellschaftlicher Teilbereiche, das Zerbrechen von Solidarität, die große Diskrepanz zwischen Arm und Reich, Schwächung zentraler politischer Organisationen wie der Gewerkschaften usw.

Allerdings kann man sagen, dass die vorangegangene Wirtschaftspolitik, die mehr oder weniger keynesianisch war, das damals größte Problem, die Überwindung der Arbeitslosigkeit, nicht erreicht hat. Unter diesem Einfluss und auch unter dem Eindruck der demografischen Entwicklung, dass also immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner versorgen müssen, war man der Auffassung, Kürzungen im Sozialbereich vornehmen zu müssen. Die Idee dabei war, die Arbeitslosigkeit könne durch eine sogenannte Angebotspolitik überwunden werden, indem man die Bedingungen für Kapitalinvestitionen möglichst günstig gestaltet. Die Nachfrage würde dann schon automatisch entstehen. Und die Kassen würden sich wieder füllen.

Diese Erwartung ist dann aber nicht in Erfüllung gegangen. Daher hat Gerhard Schröder selber entgegen dieser Sparpolitik bei der Agenda 2010 dann keynesianisch mit öffentlichen Investitionen in Höhe von 20 Milliarden begonnen, gegen die Arbeitslosigkeit vorzugehen – wogegen sich jetzt in Europa Merkel und Schäuble stemmen und womit Schröder bewusst die 3 % Verschuldungsgrenze »gerissen« hatte. Die abrupte Kürzung auf Hartz IV, die Senkung der Zumutbarkeitsbarrieren und die Einführung der »Zeitarbeit« waren und sind vielmehr das Problem und in der Sozialdemokratie damals bis heute umstritten. Die Parteiführung unter Schröder, die das letztlich für die Partei entschieden hat, wirkte dann praktisch als Repräsentantin des neoliberalen Mainstreams. Das hat am Ende diejenigen enttäuscht, die in der SPD auch das Versprechen gesehen haben, dass man sich um sie kümmert. Genau auf die Rückgewinnung dieses verlorenen Vertrauens zielten die Korrekturen an der Agenda 2010 und zielt jetzt die Gerechtigkeitspolitik von Martin Schulz.

 

NG|FH: Ist das mit Blick auf Europa nicht so ähnlich gewesen? Wurden da nicht nach 2008 Solidaritätsgebote verletzt und Vertrauen verspielt?

 

Schwan: Dafür trägt die deutsche Europapolitik die Verantwortung, aber nach meiner Auffassung nur mittelbar die SPD. Sie war zwar in zwei großen Koalitionen dabei, einmal war sie in der Opposition. Sie hat allerdings gegenüber der Europapolitik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble die entscheidenden Defizite nicht genug benannt, kritisiert und zu ändern versucht. Die Defizite sind der grundlegende Mangel an Solidarität, die Ausrichtung nur an kurzfristigen nationalen Interessen, genauer sogar an den Wahlinteressen der Konservativen. Dies zusammen war meiner Ansicht nach entscheidend dafür, dass sich die Konflikte und Rivalitäten in Europa, die es natürlich zwischen den Staaten immer schon gab, noch verstärkt haben, weil die führende Macht sich nicht solidarisch verhalten hat, ja Vorschläge der Kommission für mehr Solidarität, z. B. in der Eurozone, strikt abgewehrt hat.

 

NG|FH: Kann man das wieder reparieren?

 

Schwan: Ich glaube, dass man Vertrauen wieder zurückgewinnen kann, wenn sich die deutsche Politik ändert. Man muss die Fehler eingestehen, verstehen, warum man sie gemacht hat, und erkennen, was sich ändern muss, damit sich so etwas nicht wiederholt. Und dazu, glaube ich, ist es einfach nötig, dass die SPD demnächst eine neue Europapolitik anführt, und zwar so, dass sie sich von ihren eigenen neoliberalen Versuchungen und Aktivitäten verabschiedet.

 

NG|FH: Was müsste jetzt passieren, um in Europa im Verhältnis der Mitgliedsländer zueinander neues Vertrauen zu gewinnen?

 

Schwan: Die Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Staatspräsidenten, der damit die EU vor dem Auseinanderbrechen gerettet hat, bietet uns eine Riesenchance, die wir unbedingt ergreifen müssen. Sonst machen wir uns schuldig am Scheitern Europas und also am wohlverstandenen Interesse Deutschlands, dessen Stabilität und Sicherheit von der Stabilität und Sicherheit der EU ganz und gar abhängt! Die Sozialdemokratie muss den Wählerinnen und Wählern offensiv erklären, dass das nationale Interesse Deutschlands – wie Richard von Weizsäcker nicht müde wurde zu betonen – darin besteht, in einem guten Verhältnis zu den europäischen Nachbarn zu leben. Das ergibt sich aus der deutschen Geschichte. Und dann kann man nicht kleinkariert gegeneinander aufrechnen, was Deutschland ins EU-Budget einzahlt, und was es herausbekommt. Hier muss man eine gewisse Großzügigkeit walten lassen, zumal Deutschland als größte Wirtschaftsmacht den größten ökonomischen Gewinn aus diesem Zusammenschluss zieht.

Wenn das erkannt ist, dann muss man daran gehen, ungenutztes wirtschaftliches Potenzial zu nutzen. Arbeitslosigkeit ist nicht nur menschlich eine Tragödie, sondern auch gesamtwirtschaftlich eine nicht zu verantwortende Verschwendung von Produktivkraft und möglichen Steuereinnahmen. Durch kluge neue Investitionen kann sie überwunden werden. Die bisherigen Regelungen wurden im Sinne des Neoliberalismus getroffen: ausgeglichener Haushalt, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Schuldenbremse, Defizitbremse und dergleichen. Daraus sollten Arbeitsplätze entstehen. Das ist aber seit Jahren nicht gelungen. Die Deutschen haben ja nicht gespart, sondern (z. B. mit dem Kurzarbeitergeld 2008) öffentlich investiert. Entweder muss man im Rahmen der bestehenden strikten Sparregeln Alternativen finden oder die Regelungen anders akzentuieren. Stabilität und Wachstum für Arbeitsplätze durch Investitionen in ganz Europa, insbesondere in den bedrängten Staaten, funktionieren nämlich nur, wenn man auch europäische Anleihen aufnimmt.

Die letzten Regierungen haben zwar erkannt, dass die Europäische Union für Deutschland auch wirtschaftlich hoch profitabel ist. Aber sie wollten der deutschen Gesellschaft die Wahrheit nicht zumuten, dass Deutschland zu diesem Zweck schon längst Bürgschaften übernommen hat. Sie hatten immer so getan, als ob Deutschland zahle – gezahlt wurde aber nicht, sondern gebürgt. Und diese Bürgschaft muss man offenlegen und europapolitisch bejahen, vor allen Dingen im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen.

Diese Investitionen müssen nachhaltig und im Alltag der Menschen spürbar sein, sie müssen die Arbeitslosigkeit überwinden und gerade auf kommunaler Ebene vonstattengehen. Die Menschen müssen über Investitionen mitbestimmen können. Und deswegen plädiere ich sehr dafür, dass diese Investitionstätigkeit vor allem durch die Kommunen erfolgt, insbesondere durch ein vorbereitendes Zusammenspiel von Politik, Unternehmen und der organisierten Zivilgesellschaft. Damit können Investitionen treffsicherer vorgenommen werden. 50 bis 60 % der Investitionen werden ja bereits in den Kommunen getätigt.

Die Kommunen müssen gestärkt werden. Wenn die Investitionen durch europäische Anleihen finanziert werden, kann über diesen »Umweg« auch die Identifikation mit der EU gestärkt werden. Das würde uns aus dem Dilemma befreien, dass eine Stärkung der europäischen Integration und des europäischen Zusammenhalts nur durch eine weitere Zentralisierung der Macht in Brüssel geschehen kann oder im Gegenteil von einer Renationalisierung torpediert wird. Auf kommunaler Ebene könnte Kooperation enger, genossenschaftlicher und partnerschaftlicher vonstattengehen und eine horizontal integrierende europäische Kooperation voranbringen.

Natürlich gibt es auch Konkurrenz zwischen den und innerhalb der Kommunen, aber die Konkurrenz zwischen den nationalen Regierungen um die Begünstigung ihres Standorts für Kapitalinvestitionen, die im Vertrag von Maastricht angelegt war, ist inzwischen tödlich für Europa. Sie bringt keine konstruktiven Projekte hervor, lediglich Abgrenzung, und macht Europa auch nicht wettbewerbsfähiger. Denn dazu gehört auch soziale Stabilität.

 

NG|FH: Angesichts des sehr ungleichen Entwicklungsstandes der Mitgliedsländer in Europa muss ein wirtschaftlich so starkes Land wie Deutschland, letztlich auch im eigenen Interesse, wahrscheinlich mehr geben als empfangen, damit Europa funktioniert und gute nachbarschaftliche Verhältnisse entstehen können. Kann man so ein Projekt den deutschen Wählern vermitteln? Man hat eher den Eindruck, die Parteien trauen sich nicht.

 

Schwan: Ich glaube schon, dass das möglich ist. Zunächst aber muss man fragen, was es heißt, mehr zu geben als man empfängt? Da kommt dann meist der schrecklich irreführende Begriff »Nettozahler« ins Spiel. Allein finanziell bekommen wir, wenn wir alle finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile zusammensehen – und allein das ist fair –, schon mehr heraus, als durch den Vergleich der Einzahlungen in den EU-Haushalt deutlich wird. Zur Politik gehört aber doch noch viel mehr. Wir gewinnen die Sicherheit und Stabilität, in einer freundschaftlichen Umgebung zu leben; wir gewinnen die Kooperationsbereitschaft der anderen; wir können Exportmärkte für unsere Wirtschaft, die bekanntlich sehr exportorientiert ist, besser erschließen; wir haben eine bessere Atmosphäre in Europa, einen höheren kulturellen Reichtum und vieles andere, was das Leben eigentlich erst lebenswert macht.

Nun finden aber manche, dass uns die Verbindung von Entgrenzung in Europa und Entgrenzung in anderen Kontinenten und den Fluchtbewegungen überfordert. Ich finde auch, dass man Heimat im Sinne von Zugehörigkeit braucht. Das kann in der Familie sein, im Freundeskreis, in der Ortschaft, wo man lebt, im eigenen Land. Aber das muss doch nicht im Gegensatz zu einer Öffnung zur Welt, gegenüber anderen Kulturen und Menschen stehen. Im Gegenteil, beides bedingt einander. Denn ohne Offenheit führen Heimat und Zugehörigkeit eher zu Verkarstung und Verengung und unterminieren unsere Zukunftschancen.

 

NG|FH: Sie sind ja seit einigen Jahren Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Dieses Gremium hat wenig bis keine Macht. Ist es deswegen wirkungslos? Worin besteht die Rolle der Grundwertekommission?

 

Schwan: Das hängt natürlich auch davon ab, was man unter Macht versteht. Wir haben sicher keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber dem Parteivorsitzenden, er muss sich nicht in allen Formulierungen nach den Papieren der Grundwertekommission richten! Das wäre eine absurde Annahme. Aber ich glaube, dass die Grundwertekommission die Chance hat, mit vielen klugen Mitgliedern Anhaltspunkte und Orientierungen für die Inhalte von guter und erfolgreicher sozialdemokratischer Politik zu liefern. Politik hat sich in den letzten Jahren hauptsächlich mit der formalen Kommunikation von Themen beschäftigt, die man später in Wahlerfolge ummünzen kann, und sich durch Vernachlässigung von Inhalten diskreditiert.

Die Menschen haben das gemerkt und sind zunehmend misstrauisch gegenüber der Politik geworden. Das Versprechen von Politik, an inhaltlichen Lösungen zu arbeiten, wurde so oft nicht eingelöst. Die Grundwertekommission kann in dieser Richtung viel leisten. Und sie wird umso »mächtiger«, das heißt einflussreicher sein, je mehr sie die Herausforderungen versteht, vor denen wir alle, aber eben auch politische Parteien wie die SPD, in der Demokratie der Bundesrepublik stehen. Von der Qualität unserer eigenen Arbeit hängt es ab, ob wir durchdachte und wirksame Antworten geben können. Ich habe den Eindruck, dass der Einfluss der Grundwertekommission in der letzten Zeit eher gewachsen ist.

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