Menü

Bücher über Japan Unter dem Fuji

Verglichen mit der Aufmerksamkeit, die der Tsunami vom März 2011 und der dadurch ausgelöste GAU von Fukushima in den Medien und der Politik Deutschlands fanden, scheint Japan heute aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden zu sein. Vergessen scheint inzwischen, dass man sich in den USA der 90er Jahre vor einer feindlichen Übernahme fürchtete, was Michael Crichton seinerzeit in seinem Wirtschaftsthriller Nippon Connection (1992) ausgemalt hat. Dabei könnte das letzte Vierteljahrhundert japanischer Geschichte ein Lehrstück nicht nur für die deutschen Europäer sein, ein Lehrstück vom Erlahmen einer der einst dynamischsten Volkswirtschaften und vom Altern einer Gesellschaft, die ihrem Nachwuchs von Kleinkindesbeinen an eine optimale Ausbildung zu geben suchte.

Exportorientierte Wirtschaften wie die japanische und die deutsche müssen Waren anbieten, die andere nicht oder nicht in einer vergleichbaren Qualität oder Quantität und/oder nicht zu einem vergleichbaren Preis produzieren können. Ein moderner Klassiker war hier der 1979 von Sony auf den Markt gebrachte Walkman, aber der ist längst schon von Smartphones überholt worden, für die das Abspielen von Tonaufzeichnungen nur eine von vielen Nutzungsmöglichkeiten ist. Erstmals seien die sechs teuersten börsennotierten Unternehmen der Welt »US-Digitalkonzerne« meldete Die Welt im Juni 2018. An der Spitze stand Apple, es folgte die Internethandelsplattform Amazon. Wie immer man auch zu Unterhaltungselektronik, Digitalisierung und Versandhandel stehen mag, so wird man nicht bestreiten können, dass die größten Profite mit Waren und Dienstleistungen erzielt werden, die nicht unmittelbar lebensnotwendig sind. Wie die Elektrifizierung und Motorisierung hat aber auch die Digitalisierung unsere Lebensverhältnisse in einem Ausmaß verändert, dass deren Produkte für viele Menschen quasi unentbehrlich geworden sind. Ob Strom oder Datenverarbeitung – ohne Netz scheint fast nichts mehr zu gehen. Dessen Hardware kann man auch in Billiglohnländern produzieren lassen. Souverän ist nun, wer über die Software gebietet.

Doch wächst auch das Innovative auf dem Überlieferten, und die Industrialisierung war in Deutschland und Japan besonders erfolgreich, weil sie an hoch entwickelte Handwerkstraditionen anknüpfen konnte. Zu den fünf Säulen der japanischen Lebenskunst »Ikigai«, so der Neurowissenschaftler und Buchautor Ken Mogi, zähle das Prinzip »klein anfangen«, was mit japanischem Understatement bedeute, einen persönlichen Standard zu erreichen, »den jeder und jede Einzelne unerschütterlich einhält«, ein Niveau der Qualität und Professionalität, das es zu halten gilt. Dies ist wichtiger als die im Westen so hoch geschätzte Originalität. Das den Japanern und Chinesen oft vorgeworfene Kopieren europäischer Errungenschaften lässt sich demnach auch als Respektbekundung gegenüber dem Meisterhaften verstehen.

Beständigkeit im Wechsel

Indem sich Japan dem Fremden annäherte, ist es sich selbst fremder geworden. Der Romancier Haruki Murakami hat dies schon 1994 in seinem Roman Mister Aufziehvogel in ein doppeltes Bild gefasst – das vom »Aufziehvogel«, dessen schnarrender Ruf jeden Morgen so klingt, als zöge er das Uhrwerk der Welt auf, und das des Titelhelden, dessen inneres Uhrwerk aus dem Takt geraten ist. Da sucht man nach einem Fixpunkt.

»Wie lieb und teuer / ist mir in der alten Heimat / der ›Glockenberg‹ Osuzu – / auch im Herbst / von Nebelschleiern überzogen«, dichtete 1912 Wakayama Bokusui (1885–1928). Freilich leitet dieser verklärte Blick auf die Heimat eine Folge von Versen ein, die um die Krankheit des Vaters und um Spannungen in der Familie kreisen: »Die Liebe des Vaters / wie ein schwarzer Vorhang«, heißt es nach dessen Tod und am Ende des Jahres: »Die Liebe der Mutter / einem Nagel ähnlich – ein Haus / dem Niedergang geweiht«. Im darauffolgenden Sommer schreit fern davon im Haus des Dichters ein Neugeborenes, und Bokusuis Gedicht wird zur Momentaufnahme nicht nur eines Generationenwechsels: »Vor meinem Fenster / Gewirr elektrischer Drähte / in alle Richtungen – / ein zerrissenes Spinnennetz / auch heute unter Wolkendecken«. Das Zeitalter der Elektronik, das Japan zur ökonomischen Weltmacht machte, wird hier schon an seinem Anfang von der Einsicht begleitet, wie fragil seine Netze sind. Dem steht der Blick auf den Berg Osuzu gegenüber – und auch der auf den fernen Fuji des Buchtitels – Blicke, die sich durch Jahrhunderte japanischer Malerei und Dichtung zurückverfolgen lassen. Bilder der Beständigkeit.

Beständig und fragil zugleich erscheinen auch die spannungsreichen Konstellationen der Familie. In seinem in Japan bereits 2009 erschienenem Roman Der nasse Tod schickt der Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe seinen Protagonisten Kogito Choko, der als sein Alter Ego agiert, in sein Heimatdorf zurück, wo ihn ein von der Mutter jahrzehntelang aufbewahrter roter Koffer erwartet. In ihm findet sich vielleicht die Erklärung dafür, warum sein Vater im Sommer 1945 während eines schweren Sturms in ein Boot gestiegen und bald darauf ertrunken ist.

Dass man seinem Elternhaus nie entkommt, beschreibt auch der langjährige Japan-Korrespondent Wieland Wagner in seinem Buch Japan – Abstieg in Würde anhand eines Junggesellen, der mit 35 Jahren immer noch in seinem Kinderzimmer lebt. Eine eigene Wohnung, eine eigene Familie gar, könne sich Yuma mit seinem Job in einem Supermarkt nicht leisten. Bis zum Jahr 2040, vermutet der Autor, dürften 40 % der Japaner/innen allein leben, und schon 2025 würde allein im Großraum Tokyo ein Drittel der über 75-jährigen Japaner/innen leben. Schon heute sei Japan ein Land im Pflegenotstand. Immer häufiger tauche in den Nachrichten der Begriff »Kaigo Satsujin« auf – ein »Pflegemord« von verzweifelten Kindern an ihren Eltern. Zugleich wachse die Zahl junger, hoch qualifizierter Menschen, die dem »Karoshi«, einem »Tod durch Überarbeitung«, zum Opfer fielen.

»Vor Jahrzehnten, als Japan noch wie eine Großfamilie funktionierte«, sinniert Wagner, »hätte ein Vorgesetzter oder eine ältere Nachbarin Yuma vielleicht eine Heiratskandidatin vorgestellt«. So lange es noch Großfamilien gab, kannte man die heutigen Pflegeprobleme nicht. Japans Verwandlung in eine führende Industrienation hat solche Verbindungen gekappt und die Menschen einem gnadenlosen Konkurrenzkampf ausgeliefert, der bereits in der Vorschule beginnt. Deflation und das Erstarken der ausländischen Konkurrenz haben Prozesse befördert, die auch uns nicht unvertraut sind. Während im Hinterland ganze Stadtviertel veröden, hält der Run auf das leuchtende Tokyo an – fast alle wollen dorthin, wo das Leben am teuersten ist.

Nach dem Tsunami von 2011 hat der GAU von Fukushima gezeigt, dass wir nicht Herr unserer Spitzentechnologien und ihrer möglichen Folgen sind. Es gibt nicht nur verbrannte, sondern auch vergiftete Erde. Das erste Lebewesen, das sich nach dem Atombombenabwurf in der verseuchten Erde Hiroshimas regte, soll ein Pilz gewesen sein – ein Matsutake, der in Japan zu den begehrtesten und teuersten Speisepilzen zählt. Das berichtet die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt, dessen Untertitel »Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus« diesem Kuriosum eine eminent politische Bedeutung zuspricht.

Kurios erscheint auch ein Ortstermin in der Stadt Aizu-Wakamatsu, den Wieland Wagner beschreibt. Von LED-Lampen bestrahlt und sorgfältig kontrolliert wachsen dort Salat und Spinat auf keimfreien Kunststoffpaletten in einem Fabrikgebäude, in dem man kein frisches Gemüse vermuten würde – handelt es sich doch um eine stillgelegte Halbleiterfabrik des Elektronikkonzerns Fujitsu, der wie viele einst den Weltmarkt dominierende Technikunternehmen des Landes von der Konkurrenz aus Asien und den USA abgehängt worden ist.

Prekäre Koexistenzen

Anders als Spinat, Salat und Champignons lässt sich der Matsutake-Pilz nicht fabrikmäßig züchten. Deshalb spannt Lowenhaupt Tsing einen weiten Bogen von der vergifteten Erde Hiroshimas zum US-Bundesstaat Oregon. Dort hat sich eine seltsame Subkultur entwickelt: Weiße Veteranen und aus dem laotischen Bergland geflüchtete Opfer des militärischen Engagements der USA in Asien, Mitglieder der amerikanischen indigenen Bevölkerung und Latinos bzw. Latinas ohne Papiere sammeln dort Pilze, die in Japan und unter japanisch-stämmigen US-Bürgern Spitzenpreise erzielen. Matsutake nämlich, so die Autorin, »sind Wildpilze, die vornehmlich in Wäldern vorkommen, die von Menschen gestört wurden«. Sie wachsen auch auf den »ruinierten Brachen«, die eine industrialisierte Holzwirtschaft hinterlassen hat. Und weil sie die Fähigkeit besitzen, durch ihr unterirdisches Geflecht Bäumen Nährstoffe zuzuführen, begünstigen sie die Entwicklung von Sekundärwäldern. Für die Anthropologin zeigen sie, »wie in gestörten Umgebungen Koexistenz möglich ist« und verbinden so »Geschichten prekärer Lebensverhältnisse mit denen prekärer Lebenswelten«. Wem dies zu weit hergeholt erscheint, der sollte einmal der Frage nachgehen, wer eigentlich all die Pfifferlinge und Steinpilze sammelt, die jeden Herbst in deutschen Supermärkten angeboten werden. Auch hier stieße man wohl auf eine präkapitalistische Sammlerkultur, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch manchen Deutschen beim Überleben verholfen hat.

Freilich sind die Ruinen des Kapitalismus nicht zwangsläufig dessen eigene, gehört doch der Begriff einer kreativen Zerstörung zum Standardrepertoire seiner Makroökonomie. Er beutet selbst noch jene Brachen aus, die er selbst geschaffen hat. Kaum im Sammelkorb, wird der Pilz zur Ware, die selbst vom Ende der Welt flugs dorthin verfrachtet wird, wo man am meisten dafür bezahlt. Das ist heute noch immer Japan. Aber schon 2005 hat der Filmemacher und Autor Ryu Murakami die zweibändige Dystopie In Liebe, Dein Vaterland in Japan veröffentlicht, in der sein bankrottes Land zum Ziel der Expansionspläne Nordkoreas wird, das sein Verhältnis zu den USA inzwischen deutlich verbessert hat. Angesichts der zarten Bande, die Donald Trump inzwischen nach Pjöngjang geknüpft hat, könnte man dieses Buch für prophetisch halten, aber Wagner weist auch auf japanische Tendenzen zu einer Remilitarisierung hin. Ob der Abstieg des Landes sich in Würde vollziehen wird, steht deshalb ebenso in den Sternen wie die Antwort auf die Frage, ob er sich friedlich vollziehen kann.

Wakayama Bokusui: In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter. Manesse, München 2018, 144 S., 16 €. – Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 448 S., 28 €. – Ken Mogi: Ikigai. Die japanische Lebenskunst. Dumont, Köln 2018, 176 S., 20 €. – Ryū Murakami: In Liebe, Dein Vaterland. Band I: Die Invasion. Septime, Wien 2018, 456 S., 26 €. – Kenzaburō Ōe: Der nasse Tod. Roman über meinen Vater. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 432 S., 25 €. – Wieland Wagner: Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt. DVA, München 2018, 256 S., 20 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben