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© picture alliance / ZB | Karlheinz Schindler

Unter dem Schleier der Öffentlichkeit

der öffentliche Streit der Meinungen, der im Idealfall dazu dient, die Bürger mit den Argumenten zu versorgen, die eine vernünftig begründete Wahlentscheidung erst möglich machen. Aber schon die Tatsache, dass die Parteien ihren Beitrag zur Entscheidungsfindung der Bürger gemeinhin »Wahlkampf« nennen, obwohl der martialische Begriff des Kampfes eigentlich dem demokratischen Ideal vernünftig abwägender Auseinandersetzung widerspricht, könnte misstrauisch machen.

Was wird eigentlich und mit welchen Mitteln und Methoden in einem Wahlkampf wie dem aktuellen Bundestagswahlkampf öffentlich verhandelt? Worum geht es und worum geht es nicht, obwohl davon womöglich auf allen Kanälen die Rede ist? Ist die Öffentlichkeit der Auseinandersetzung im Wahlkampf eine Garantie dafür, dass alle wichtigen politischen Themen zur Sprache kommen und nichts unter den Teppich gekehrt wird, was ans Licht gehört? Sind die Bilder und die Botschaften, die die Medien über und von den Wahlkämpfern liefern, eine halbwegs zuverlässige Grundlage für eine rationale Wahlentscheidung?

Reiner Haseloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat kurz vor der Landtagswahl in seinem Bundesland in einem Fernsehinterview eine erhellende Bemerkung gemacht. Er sei, sagte er, eigentlich ganz froh, dass er wegen Corona nicht so oft auf Marktplätzen auftreten müsse, weil man dort oft nur angepöbelt und angeschrien werde. Der Marktplatz, die Agora als öffentlicher Raum erschien ihm offenbar als Austragungsort politischer Kontroversen nicht besonders geeignet. Stattdessen konzentrierte er seinen Wahlkampf vor allem auf freundliche Plakate, die den Landesvater mal mit, mal ohne Gattin zeigten, und auf staatsmännische Auftritte mit ausgesuchtem Publikum. Und, wie wir sahen, hatte er damit Erfolg.

Mit dieser Taktik zog sich der Wahlkämpfer Reiner Haseloff aber keineswegs aus der Öffentlichkeit zurück. Er schuf sich vielmehr eine öffentliche Sphäre, in der er möglichst unbehelligt von lästigen Fragen und Widerspruch seine Position vertreten konnte. Denn Öffentlichkeit ist heute tatsächlich wie Niklas Luhmann zurecht betonte, nicht mehr wie noch im antiken griechischen Stadtstaat ein bestimmter Ort, an dem eine kleine Elite zusammenkam, um deliberativ Entscheidungen zu fällen, sondern eher eine medial organisierte Beobachtungssituation, die alle Beteiligten in eine Situation versetzt, bei der sie zugleich Akteure und Gegenstände der Beobachtung sind.

Wenn aber Öffentlichkeit sich vor allem dadurch auszeichnet, dass in ihr Personen miteinander vor einem Publikum agieren und zugleich um diese besondere Kommunikationssituation wissen, kann es nicht verwundern, dass das, was in dieser Öffentlichkeit passiert, nur sehr selten dem gleicht, was gemeinhin unter »Deliberation« verstanden wird, nämlich dem ergebnisoffenen argumentativen Streit um das, was dem Gemeinwohl dient. So etwas wie der Versuch, durch argumentative Auseinandersetzung eine möglichst breite Übereinstimmung in Sachfragen zu erzielen, findet in den modernen liberalen Demokratien zumeist nur in speziellen Gremien und vorzugsweise auf der kommunalen Ebene statt. Nur in Ausnahmefällen werden politische Entscheidungen von größerer Tragweite heute deliberativ getroffen und dann zumeist in Verbindung mit der Zufallsauswahl der Entscheidenden, z. B. bei der Bürgerversammlung in der Republik Irland, die 2018 unter anderem ein überraschend fortschrittliches Abtreibungsrecht für das katholisch geprägte Land erarbeitete.

Einer der Autoren, die die Deliberation in durch Zufallsauswahl zusammengesetzten Gremien generell der parlamentarischen Demokratie für überlegen halten ist David Van Reybrouck, etwa in seinem Buch Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, das 2016 erschien.

Dennoch gilt, dass eine demokratische Öffentlichkeit ganz ohne das Moment der Deliberation nicht denkbar ist. Für Jürgen Habermas z. B. ist Deliberation ganz allgemein eine argumentativ geführte gemeinsame Beratschlagung und Verständigung über öffentliche Angelegenheiten und damit ein wesentlicher Bestandteil jeder demokratischen Politik. In diesem Sinn schreibt auch Bernd Stegemann in seinem Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde: »Die ideale Funktion von Öffentlichkeit besteht darin, Themen sichtbar zu machen, damit sich die widersprüchlichen Interessen darüber eine Meinung bilden können, um dann in einem gegenseitigen Austausch ein Bild der komplexen Lage zu erzeugen.«

Freilich ist auch nach Stegemann der wirkliche Zustand der Öffentlichkeit heute weit von diesem Ideal entfernt, möglicherweise weiter als je zuvor. Die gerade in Wahlkampfzeiten so wichtigen Fernsehtalkshows machen das deutlich. »Die Teilnehmer reagieren zwar aufeinander, doch findet diese Kommunikation nicht statt, um den anderen besser zu verstehen, oder gar von dessen Argumenten überzeugt zu werden«, schreibt Stegemann. »Diese Kommunikation findet allein statt, um das Publikum von der eigenen Position zu überzeugen und die der anderen abzuwerten (…) Würden die Kombattanten ohne Publikum zusammensitzen und hätten sie die Aufgabe, für ein strittiges Thema Lösungsvorschläge zu erarbeiten, könnte eine gänzlich andere Kommunikation entstehen. Was öffentlich unvereinbar erscheint, könnte ohne Öffentlichkeit zu einem Kompromiss finden.«

Im Gegensatz zum (medien-)öffentlich ausgetragenen Wahlkampf der Parteien sind die ergebnisorientierten Verhandlungen in Parlamentsausschüssen und Koalitionsrunden nicht öffentlich. Und in der Tat kommt es hier erstaunlich oft zu mehr oder weniger tragfähigen Kompromissen zwischen Vertretern von Parteien, die ansonsten weit auseinanderliegende Positionen vertreten. Das ist unter pragmatischen Gesichtspunkten sicher positiv zu bewerten, hat aber für die Demokratie den großen Nachteil, dass mächtige Lobbys im Halbdunkel der Ausschüsse besonders ungehindert operieren können und wichtige Teile der Gesellschaft mit ihren Interessen dabei ausgeschlossen bleiben, dass das programmatische Profil der Parteien durch den Zwang zum Kompromiss fast zwangsläufig an Schärfe verliert und alle Beteiligten sich oft dem Vorwurf der Kungelei ausgesetzt sehen.

Nach aktuellen Umfragen halten 86 % der Bundesbürger die Demokratie für die richtige Staatsform. Allerdings ist nur eine Minderheit, nämlich 39 % mit dem tagtäglichen demokratischen Prozess zufrieden, in Westdeutschland 42 %, im Osten 28 %. Gleichzeitig kommt eine Allensbach-Umfrage zu dem Ergebnis, dass 78 % der Deutschen angeben, man könne seine Meinung heute in Deutschland nicht mehr oder nur noch mit Vorsicht sagen. Das hier sichtbar werdende gestörte Verhältnis zur Demokratie und zur demokratischen Öffentlichkeit schlägt sich einerseits in der hohen Zahl frustrierter Nichtwähler und der Wähler der AfD nieder, findet aber auch seinen Niederschlag in der wachsenden Zahl von Hassmails, Fake News und Verschwörungstheorien. Wir leben in einer Zeit permanenter massenhafter Erregung, in der, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem fesselnden Essay Die große Erregung schreibt, »miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation und der großen Gereiztheit erzeugen«. In einem solchen Klima haben es besonders jene Politiker und Parteien schwer, die die Wähler mit Argumenten überzeugen möchten.

Bernd Stegemann macht vor allem Prozesse der Hyperindividualisierung und Spaltung, die durch den Siegeszug der neoliberalen Wirtschaftstheorie und der mit ihr korrespondierenden postmodernen Philosophie bewirkt wurden, für diesen zugleich fragilen und explosiven Zustand der Demokratie und die Krise der Öffentlichkeit verantwortlich. Wie vor ihm Andreas Reckwitz sieht auch Stegemann die Leistungsfähigkeit der demokratischen Öffentlichkeit vor allem durch die neoliberale Ideologie und die mit ihr verbundene sozialkulturelle Spaltung zwischen einer urbanen, gebildeten und hochmobilen neuen Mittelschicht und einer neuen Unterschicht bedroht, die nicht über eine höhere Bildung und einen elaborierten Sprachgebrauch verfügt und sich daher in der globalisierten Gesellschaft nicht erfolgreich behaupten kann. Deliberation wird unter diesen Bedingungen, sofern sie überhaupt noch eine Rolle spielt, zu einem Gesellschaftsspiel der Bessergestellten.

Gerade unter den Bedingungen des Anthropozäns, so Stegemann, sind die anstehenden tiefgreifenden politischen Veränderungen nur in einer wirklich offenen Öffentlichkeit durchsetzbar. Um diese Offenheit zu schaffen, braucht es »den vorpolitischen, öffentlichen Raum, in dem Werte und Meinungen durch wechselseitige Begegnungen gebildet werden, um zu demokratischen Entscheidungen zu kommen. Vor allem wenn es um Entwicklungen geht, die den Horizont des aktuell Denkbaren überschreiten, ist eine breite und ergebnisoffene Verständigung notwendig. Denn erst wenn ausreichend viele Menschen ihre Meinung bilden konnten, sind Entscheidungen, die den bisher gültigen Rahmen infrage stellen, überhaupt möglich.«

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