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© picture alliance / Westend61 | Anke Scheibe

Susan Neiman über die identitätspolitische Diskussion in den USA Unterschiede respektieren, das Gemeinsame bewahren

NG FH: Die neue identitätspolitische Diskussion kommt im Wesentlichen aus den USA, also von Gruppen, die identitätspolitische Ansprüche erheben. Einer der Auslöser war das Buch Der Glanz der Vergangenheit von Mark Lilla, in dem er die These vertritt, dass der Niedergang der Linken weiter nichts ist als die verdiente Antwort auf deren Konzentrierung auf Identitätspolitik.

Mittlerweile ist die Diskussion auch bei uns entflammt und Identitätspolitik wird meistens als eine Chiffre für den Niedergang der Linken betrachtet. Hier setzt meine erste Frage an: Können Sie kurz berichten, was in den USA gerade passiert ist? Trifft diese Diskussion tatsächlich einen realen Punkt oder ist sie mehr oder weniger ein Gespinst einiger Intellektueller?

Susan Neiman: Leider ist sie kein Gespinst. Ich bin zum Teil mit Lillas Buch einverstanden, ein Problem ist aber, dass er ursprünglich von rechts kommt und manches nicht im Blick hat. Doch er spricht ein reales Problem an. Als Philosophin bin ich überzeugt, dass dieses Problem viel mit der Verbreitung der Theorien von Michel Foucault zu tun hat. Als Historiker war dieser sehr interessant und er hat viele Themen in die Diskussion eingeführt, die die übrige Geschichtsforschung nicht beachtet hatte. Philosophisch war er aber eine Katastrophe. Foucault ist immer sehr schwammig, und wenn man ihn zu oft und zu unkritisch liest, bekommt man den Eindruck, dass es überhaupt keine Werte und keine Moral mehr gibt, nur Macht die Grundlage ist. Und wenn amerikanische Studenten heute ein philosophisches Werk lesen und nicht explizit Philosophie studieren, dann ist es zumeist Foucaults Discipline and PunishÜberwachen und Strafen.

Und diese Haltung ist extrem verbreitet. Im Grunde – und das ist das Schreckliche, weil Foucault als Linker galt – gibt es sehr viele Ähnlichkeiten mit Carl Schmitts »Wer Menschheit sagt, will betrügen« – also Moral und Politik haben nichts miteinander zu tun und die fundamentalen politischen Kategorien sind Freund und Feind. Auch Carl Schmitt wurde übrigens in den 80er, mehr noch in den 90er Jahren in Amerika sehr viel gelesen.

NG FH: Aber wie ist das mit dem Vorwurf, die Demokratische Partei, die demokratische Linke, die demokratischen Sozialisten in den USA hätten in den letzten Jahrzehnten die wichtigen Fragen vergessen und nur noch Identitätspolitik gemacht. Ist das eine Fiktion oder ist da etwas dran?

Neiman: Da ist viel dran, aber nicht alles stimmt. Was ich zum Beispiel extrem traurig finde: Black Lives Matter war eine universalistische Bewegung. Da waren mehr Weiße als Schwarze beteiligt. Es ging wirklich um Empörung über das, was tatsächlich – und trotz der Proteste – immer wieder passiert, nämlich dass unbewaffnete Schwarze, einmal sogar nachts im eigenen Bett, von Polizisten erschossen wurden. Das ging wirklich quer durch die Gesellschaft, es war sehr bewegend. Auch weiße Polizisten sind auf der Straße auf die Knie gegangen. Viele Mitglieder der Demokraten im Kongress haben mitgemacht. Haben genauso lange gekniet wie George Floyd um Luft rang, 8 Minuten, 46 Sekunden.

Was dann passiert ist, ist wirklich schwer zu verstehen. Denn es fing tatsächlich universalistisch an.

NG FH: Passt zu dieser Position irgendeine Identitätspolitik?

Neiman: Eine gute Frage, worauf die Antwort eigentlich »nein« heißen müsste, aber in den letzten Monaten wird Black Lives Matter als Identitätspolitik gesehen – sowohl von rechts als auch von links. Einer meiner großen Helden ist Paul Robeson, US-amerikanischer Schauspieler, Sänger, Bürgerrechtler und Sozialist, gut befreundet mit Albert Einstein. Für solche großen Geister war es selbstverständlich, dass man sich für andere Kulturen, Geschichten und Sprachen interessiert und diese möglichst auch erlernt, damit man die anderen Kulturen auch schätzen kann. Aber die Dinge, die wir gemeinsam haben, dass wir geboren werden und sterben, dass wir schwach geboren sind und deshalb in Familien aufwachsen, dass Familien nicht alleine leben und es deshalb Gesellschaften gibt usw. – diese Dinge sind doch fundamentaler als die Unterschiede, die uns trennen. Und es ist absolut möglich, diese Unterschiede wertzuschätzen, ohne das Gemeinsame zu verlieren.

Leider gibt es derzeit nicht genügend Stimmen, auch nicht unter Linken, die etwas dazu sagen.

NG FH: Ich frage mich jetzt, weil ja auch viele Linke in verschiedenen Bereichen der Identitätspolitik aktiv und tätig sind, ob wir verschiedene Arten von Identitätspolitik unterscheiden müssen? Also eine inklusive Identitätspolitik, z. B. eine feministische oder afroamerikanische, die Menschen, die aus dem Gemeinsamen, aus dem Universellen, ausgeschlossen sind, wieder ins Gemeinsame, ins Universelle hineinholen. Und daneben eine exklusive, z. B. ethnische, in der Menschen ihre eigenen Bereiche für sich wollen. Spielt das eine Rolle in den USA?

Neiman: Das ist kompliziert. Robeson hat sich z. B. für die streikenden Minenarbeiter in Wales eingesetzt und für die republikanischen Truppen in Spanien. Einstein hat sich, als er nach Princeton kam, für die radikalsten schwarzen Gegner des Rassismus wie Robeson und W. E. B. Du Bois eingesetzt. Bei den Alt-Linken war es selbstverständlich, dass man diese gegenseitige Solidarität praktizierte.

Ich bin in den Südstaaten in der Zeit der Rassentrennung groß geworden und meine Mutter hat sich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Da war es selbstverständlich, dass es um Menschenrechte ging und nicht um Identitätspolitik. Auch heute gibt es das. Es hat mich gefreut, dass in meiner Heimatstadt Atlanta mit Jon Ossoff und Raphael Warnock ein Jude und ein Schwarzer explizit zusammen gekämpft und sich explizit auf die Geschichte der Solidarität zwischen Schwarzen und Juden während der Bürgerrechtsbewegung bezogen haben. Es gibt also durchaus Ecken, wo man diese Art von – Sie haben es als inklusive Identitätspolitik bezeichnet – wo man das wiederzubeleben versucht.

NG FH: Sollte man das dann überhaupt noch Identitätspolitik nennen oder einfach universalistische Gleichheitspolitik?

Neiman: Vielleicht wurde das in den 60er Jahren noch zu wenig beachtet, aber neuerdings schätzt man ausdrücklich die verschiedenen Kulturen, man freut sich auf das, was man jetzt Diversität nennt. Und das ist schon gut so, aber mein Herz hängt wie erwähnt immer noch an Einstein und Robeson oder auch an Martin Luther King und meinem Rabbiner damals in Atlanta, die bei den wichtigen Senatswahlen jetzt in Georgia immer wieder beschworen wurden. Alle waren Universalisten, auch weil sie kulturelle und historische Vielfalt schätzen konnten.

NG FH: Würden Sie denn das Konzept der Identitätspolitik als überflüssig und irreführend ansehen? Nach dem Motto: Wir bleiben beim guten alten egalitären Universalismus und sehen zu, dass jeder, egal aus welcher Kultur er kommt und welches Geschlecht er hat, einbezogen wird?

Neiman: Was die Identitätspolitik in die Diskussion eingebracht hat – und an dieser Stelle liegt Lilla falsch – ist, dass in früheren Zeiten der Universalismus doch andere, nicht europäische Kulturen und auch Frauen zu wenig beachtet hat. Es wird ja immer der Aufklärung vorgeworfen, dass es ihr um weiße Männer ging, die ihre Interessen und Kultur in der Welt verbreiten wollten. Das stimmt aber überhaupt nicht.

Die Aufklärer waren doch diejenigen, die den Vorwurf des Eurozentrismus in die Welt gebracht haben. Sie waren diejenigen, die gesagt und geschrieben haben – das fing bei Montesquieu an –, man solle etwas von allen Menschen lernen, von den Persern, den Chinesen genauso wie von den Afrikanern. Und sie haben andere Kulturen benutzt, um Europa zu kritisieren. Das ist belegt. Der postkolonialen Theorie scheint das völlig entgangen zu sein. Und manche Leute beschreiben Kant als Kolonialisten, obwohl er eine radikale Kritik des Kolonialismus verfasst hat. In seinem Buch Zum Ewigen Frieden hat er den Chinesen und Japanern dazu gratuliert, dass sie die Europäer nicht hineingelassen haben.

NG FH: Wenn ich Sie richtig verstehe, kommt es darauf an, dass der Universalismus Gültigkeit besitzt, gerade der Universalismus der Aufklärung. Dieses Ziel verbindet uns. Das heißt aber nicht, dass man kulturelle Identitäten anderer negiert, sondern einbezieht ins Gemeinsame.

Neiman: Absolut.

NG FH: Können da Spannungsverhältnisse entstehen, etwa dadurch, dass jemand sagt, meine kulturelle Identität oder meine Geschlechtsidentität verbietet es mir, dass ich mich einbeziehen lasse in das, was Ihr hier im Sinne der europäischen Aufklärung formuliert habt?

Neiman: Darauf gebe ich Ihnen zwei Antworten:

Zum einen: Ich bin eine Frau und wenn ich auf alle Autoren verzichten würde, die schon einmal etwas Dummes über Frauen geschrieben haben, dann wäre mein Leben ziemlich langweilig. Ich kann darüber hinwegsehen.

Zweitens – und das hat Lilla völlig übersehen und das ist sehr problematisch: Die dominante Identitätspolitik ist weiße Identitätspolitik. Das hat man bei Trump gesehen, das sieht man bei der AfD, bei vielen rechten nationalistischen Politikern. Und hier gibt es ein Problem – dazu gibt es in den USA unter dem Oberbegriff Critical Whiteness Studies auch einige sehr gute theoretische Arbeiten – nämlich in der Richtung, dass man Weiß gar nicht als ethnische Gruppe ansieht, und dass es doch eigentlich meist Weiße sind, die gerade ihre Identität in den Vordergrund stellen, aber sie tun es unbewusst.

NG FH: Was für eine Politik empfehlen Sie denn der amerikanischen Linken, also den demokratischen Sozialisten? Welche Art von Politik könnten die machen, die einerseits viel besser ist als die jetzige und andererseits aber auch eine Chance hat, in den USA Unterstützung zu finden?

Neiman: Ein Beispiel aus der Praxis: Die Demokratischen Sozialisten Amerikas hatten im Sommer 2020 einen sehr guten schwarzen Politologen eingeladen, Adolph Reed. Der ist ein großer Kritiker der Identitätspolitik und er sagt, wir haben alle das Klassenthema vergessen. Da haben sie ihn wieder ausgeladen, weil er ihrer Ansicht nach nicht genug über das Thema Rasse sprechen wollte. Wie kann man so etwas machen?

Hier ist mein Vorschlag, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt eine Chance hat, umgesetzt zu werden: Wir müssen zurück zu einem universalistischen Diskurs bei gleichzeitiger Anerkennung aller Unterschiede. Schwierig, wenn man bedenkt, dass es auch ein gewisses Niveau an Wut in den USA gibt.

NG FH: Wut?

Neiman: Ja, der Wutpegel ist unglaublich gestiegen. Und ich rede nicht nur von den bekannten Milizen, die Trump unterstützen. Ich rede auch nicht von den armen Leuten, die zwei oder drei Jobs parallel machen müssen, um nicht obdachlos zu werden, davon gibt es Abermillionen. Ich rede auch vom Mittelstand. Sie wissen wahrscheinlich, dass wir in den USA keinen Sozialstaat haben, aber auch Sie wissen wahrscheinlich nicht, wie schlimm es ist.

Man weiß natürlich, dass wir keine universelle Krankenversicherung haben, dieser Debatte ist man gefolgt. Aber als die Pandemie ausbrach, musste ich den Europäern erzählen, dass wir auch kein Recht auf Krankschreibung haben. Das ist natürlich selbstzerstörerisch, gesundheitlich, aber auch ökonomisch. Wenn ich Amerikanern von dem deutschen und europäischen Begriff Krankschreibung erzähle, denken sie, ich rede vom Himmel. In Amerika hängt das vom einzelnen Arbeitgeber ab. Man hat eine Zahl von fixierten Tagen, fünf bis zehn, die man krank sein darf. Wenn die verbraucht sind, ist es dein Pech.

Amerikaner wissen nicht, was sie nicht haben, aber für viele ist das Leben dort wahnsinnig hart, selbst für die Mittelklasse. Ein kleines Beispiel: Mein Bruder und seine Frau sind Mittelständler mit zwei Kindern, einem guten Einkommen und einem netten Haus. Aber sie müssen horrende Summen für die Universitäten ihrer Kinder zahlen. Als die Kinder noch klein waren, haben beide Eltern einen Großteil ihrer Zeit als Chauffeure verbringen müssen, weil es überhaupt keinen öffentlichen Nahverkehr gibt. Und das trifft auf die meisten amerikanischen Orte zu.

Also nicht nur die Ärmsten, von denen es Millionen gibt, stehen unter Druck, den sie aber selber nicht merken, weil sie nicht wissen, dass es auch anders sein könnte. Auch der Mittelstand hat Schwierigkeiten.

NG FH: Und bei all dem frage ich mich, warum Reformen, die diese Zustände beseitigen würden, keine Chance haben, mal eine Unterstützung durch die Mehrheit zu bekommen? Dann habe ich das Buch Strangers in Their Own Land von Arlie Russel Hochschild gelesen. Wenn es den Leuten auch sehr, sehr schlecht geht, dann sagen die einen: »Wir sind Amerikaner, wir sind Cowboys, das halten wir durch. Wir sind doch Individualisten, wir wollen vom Staat nichts haben.« Und die anderen sagen: »Wir sind Christen, wir wollen ein schönes christliches Leben bis zum Schluss, damit wir belohnt werden. Und es ist absolut nicht gottgefällig, wenn wir diese kommunistischen Dinge hier verwirklichen.«

Gibt es also Stimmungen, die immer wieder geschürt und am Leben erhalten werden, und die dann dafür sorgen, dass bei solchen Vorschlägen die Massenmedien und die republikanischen Politiker sagen: »Das ist alles Kommunismus. Wenn Ihr so etwas hier einführt, dann verliert Ihr Eure Freiheit und Euren Charakter als Amerikaner.«

Neiman: Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass es schlimmer als in den 50er Jahren ist. Damals kannten wenigstens die meisten noch einige Sozialisten oder Kommunisten. Heute ist das nicht mehr der Fall und trotzdem benutzt man den Sozialismus- oder Kommunismusvorwurf, als ob es mit dem Bösen gleichgesetzt wäre.

NG FH: Offenbar mit großem Erfolg bei Wahlen.

Neiman: Ich glaube, dass das der Grund ist, warum Bernie Sanders in den Vorwahlen verloren hat. Vor der Wahl in South Carolina hat irgendjemand ein Interview gefunden, in dem er in den 70er Jahren das kubanische Gesundheitssystem gelobt hat. Er hätte übrigens auch das kubanische Bildungssystem loben können, aber das hat er nicht getan. Sofort hat man gesagt: Sieh mal, der wird hier den Kommunismus einführen. Ich finde, dass er das Richtige gesagt hat: »Ich verurteile alle autoritären Regierungen, ob in Kuba, Saudi-Arabien oder China, aber die Kubaner haben ein gutes Gesundheitssystem.«

NG FH: Kann er damit aber diese Mauer durchdringen?

Neiman: Das ist der Punkt! Aber es gibt ein wenig Hoffnung. Unter den jungen Menschen unter 35 ist Sozialismus kein Schimpfwort mehr, Kapitalismus ist das Schimpfwort. Die sind noch nicht an der Macht, aber man sieht es an den Wahlen in Georgia. Die unsägliche Kelly Loeffler, republikanische Ex-Senatorin, die sogar zusammen mit einem Ex-Ku-Klux-Klan-Chef ihre Wahlkampagne machte, hat gegen Raphael Warnock, den Nachfolger von Martin Luther King verloren. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass die Kirche, in der er als Assistent arbeitete, einmal Fidel Castro eingeladen hat, um eine Rede zu halten, als dieser bei der UNO war. Das wollten sie ernsthaft als Beweis dafür anführen, um zu zeigen, dass auch Warnock ein Kommunist sei.

NG FH: Gibt es in absehbarer Zeit eine Chance, diese Mauer zu durchbrechen oder muss man feststellen, dass diese Dinge in der amerikanischen Öffentlichkeit bei dem gegebenen Mediensystem und den vorhandenen Mentalitäten nicht zu vermitteln sind und die Amerikaner immer wieder gegen ihre eigenen Interessen wählen?

Neiman: Ich bin inzwischen hoffnungsvoller, weil ich sehe, wie sich das von Generation zu Generation verändert und wir ja gute junge Politikerinnen und Politiker wie Alexandra Ocasio-Cortez haben. Die Tatsache aber, dass 74 Millionen Trump gewählt haben, beschäftigt mich sehr, wie viele andere Amerikaner auch. Der einzige Grund, warum wir keinen Staatsstreich hatten, ist der, dass er die Militärs solange beleidigt hat, dass auch sie nicht mehr hinter ihm stehen.

NG FH: Können wir von Joe Biden etwas Besseres erwarten?

Neiman: Ich kenne viele junge Leute, die eigentlich gar nicht wählen wollten, darunter mindestens eins meiner Kinder, weil sie Biden einfach viel zu mittelmäßig fanden. Er war auch nicht mein Kandidat, aber, mein Gott, es geht um Faschismus – ja oder nein.

Und ich glaube, dass er zunächst einmal dieses Abgleiten in wirklich faschistische Methoden wird stoppen können. Mit der Mehrheit im Senat kann er schon einiges bewegen, und er hat erstaunlich gut angefangen. Möge es ihm gelingen.

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