So wie sich Preußen nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon im Jahre 1806 unter Rückbesinnung auf die eigenen geistigen Kräfte zu erneuern versuchte, so gab es auch 1918, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, in Deutschland Bestrebungen, durch eine Anspannung aller geistigen Fähigkeiten wieder eine geachtete Stellung in der Welt zu erreichen. Das wurde auch und gerade mittels neuer Universitäten versucht. So kam es schon vor der juristischen Etablierung der Weimarer Republik zur Gründung von zwei neuen Hochschulen: der Hamburgischen Universität am 28. März 1919 und der Universität zu Köln wenige Monate später, am 12. Juni. Gerade in Köln hatte Oberbürgermeister Konrad Adenauer den Aspekt der geistigen Erneuerung hervorgehoben.
In Hamburg war die Universitätsgründung besonders von den Sozialdemokraten, die in der Bürgerschaft die absolute Mehrheit hatten, aber mit DDP und Zentrum in der »Weimarer Koalition« gemeinsam regierten, vorangetrieben worden. Es sollte eine Reformuniversität sein, offen auch für jüdische Wissenschaftler. So wurde auf den zweiten philosophischen Lehrstuhl der Berliner Privatdozent Ernst Cassirer (1874–1945) berufen, der seit 13 Jahren auf ein Ordinariat wartete. In der Fachwelt hatte er längst einen Namen, war aber als Jude und aufgrund seiner Nähe zum Neukantianismus des Marburger Philosophen Hermann Cohen immer wieder gescheitert.
Seit Längerem schon ist eine Cassirer-Renaissance zu verzeichnen. Zwischen 1997 und 2007 wurde an der Universität Hamburg (so ihr heutiger Name) eine 25-bändige Werkausgabe fertiggestellt, die Cassirers immense Publikationstätigkeit eindrucksvoll dokumentiert. Auch sind mehrere Biografien und Einzeldarstellungen erschienen. Zuletzt wurde Cassirer von dem Philosophiehistoriker Wolfram Eilenberger in dem vielgelobten Buch Zeit der Zauberer in die Reihe der Ausnahmephilosophen der 20er Jahre gestellt, neben Walter Benjamin, Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger.
Cassirers Hamburger Jahre dauerten von 1919 bis 1933. Ihnen hat die Journalistin Susanne Wittek jetzt eine gut lesbare und passend bebilderte Darstellung gewidmet. Wie so oft wird auch hier ein Buch über einen großen jüdischen Wissenschaftler zu einem Buch der Kultur- und Geistesgeschichte der jeweiligen Zeit, die in Vertreibung und Exil mündet.
Zur kaum überschaubaren Familie Cassirer gehörten neben Ernst Cassirer als bekannteste Namen dessen Vettern Bruno Cassirer, der die legendäre Berliner Kunst- und Verlagsanstalt gründete, und der Kunsthändler Paul Cassirer, der mit der Schauspielerin Tilla Durieux verheiratet war und sich während der Scheidungsverhandlung erschoss, da er die anstehende Trennung von ihr nicht ertrug. Das Leben von Ernst Cassirer verlief in weniger dramatischen Bahnen. Diese zeigten sich auch und gerade in seiner Hamburger Zeit, die reich an Anerkennung und Erfolgen war, 1933 aber mit seiner abrupten Flucht endete.
Witteks Buch zeichnet Cassirers Hamburger Zeit fast Jahr für Jahr nach. Hier entstanden seine bekanntesten Arbeiten, so die dreibändige Philosophie der symbolischen Formen und Die Philosophie der Aufklärung – letztere ein Buch, das in seiner Anschaulichkeit noch immer als Meisterwerk zur Philosophie des 18. Jahrhunderts gilt. Daneben hat Cassirer immer wieder seinem Abgott Johann Wolfgang von Goethe gehuldigt; seine Frau Toni hat in der Beschreibung ihrer gemeinsamen Zeit geradezu von einer »Wesensverwandtschaft« mit dem Weimarer Dichter gesprochen.
Neben unzähligen Vorträgen im In- und Ausland war die in Fachkreisen berühmte »Davoser Disputation« vom Frühjahr 1929 ein Höhepunkt in Cassirers öffentlichem Auftreten. Auf diesem alljährlichen Hochschulkurs trafen Cassirer und der 13 Jahre jüngere Martin Heidegger aufeinander, hier der in der Tradition Immanuel Kants stehende Philosoph aus Hamburg, dort der den »Mensch in seiner Geworfenheit« denkende Philosoph aus Freiburg, der kurz zuvor sein epochales Werk Sein und Zeit veröffentlicht hatte. Es wurde ein in der Sache kontroverses, in der Form verbindliches Gespräch, sodass Heidegger danach bedauerte, Cassirer sei allzu freundlich gewesen, dass er ihn gar nicht richtig habe attackieren können.
Seine schönste und fruchtbarste Tätigkeit fand Cassirer in der vom Kunsthistoriker Aby Warburg gegründeten »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek«, die schon damals ein Eldorado für Kulturwissenschaftler aus aller Welt war. Cassirer und Warburg waren Wesensverwandte, die sich gegenseitig bereicherten und zu wissenschaftlichen Höchstleistungen antrieben. Cassirer hat immer wieder dankbar bekundet, wieviel Anregungen er von Warburg und dessen Bibliothek erhalten habe; Warburg wiederum hat dem Freund nie vergessen, dass er, als er psychisch schwer erkrankt war, durch Cassirers anregende Wissensfreude wieder ins Leben zurückfinden konnte.
Im Juni 1928 erreichte Cassirer ein Ruf an die ebenfalls noch junge Universität Frankfurt als Nachfolger von Max Scheler. Cassirer war nicht abgeneigt, und der Zuruf eines Verwandten »Hamburg ist die Stadt der Hamburg-Amerika-Linie, Frankfurt aber die Stadt Goethes!« war durchaus verlockend. In dieser Situation lief der ansonsten manchmal etwas weltfremd wirkende Warburg zu großer Form auf. Er entfachte eine Pressekampagne, die bald die ganze Stadt bis in die Spitze des Senats ergriff, um Cassirer in Hamburg zu halten. Das gelang schließlich, und Warburg notierte im Tagebuch der Bibliothek: »Uff! Ist das eine Erleichterung!«
Ein äußerer Höhepunkt in Cassirers Hamburger Zeit war sein Rektorat 1929/30. Er war der einzige jüdische Universitätsrektor der Weimarer Republik (und erst der vierte jüdische Uni-Rektor in Deutschland überhaupt). Er übte dieses Amt offensichtlich gern aus und absolvierte gewissenhaft auch »unphilosophische« Termine wie Ausstellungseröffnungen und Pferderennen. Das herausragende Ereignis dieser Monate war die Verfassungsfeier im Juni 1930. Außerhalb Preußens gab es Feiern wegen der ablehnenden Stellung vieler Akademiker zur Republik nicht. Cassirer setzte in Hamburg gegen erheblichen Widerstand eine solche Feier durch und würdigte in einer temperamentvollen Rede die Weimarer Reichsverfassung als große denkerische Leistung des deutschen Volkes »in Zeiten furchtbaren Drucks«.
Die Feier wurde von zahlreichen Korporationen und Professoren boykottiert. Damit kündigte sich bereits die Entwicklung der nächsten Jahre an, in denen die Zahl der Anhänger des Nationalsozialismus an der Universität kontinuierlich zunahm. Im Februar 1933 beendete Cassirer seine Vorlesungen. Nach dem Zeugnis seiner Frau wollte er nicht mehr in Deutschland leben, nachdem »der Wille des Führers« zu Recht und Gesetz erklärt und dies ohne Protest von den Juristen quittiert worden war. Mit Schrecken registrierte er die Parteinahme Heideggers für den Nationalsozialismus. Als am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen wurde, verlor fast ein Fünftel der Hamburger Universitätslehrer ihre Stellung; viele standen vor dem Nichts, einige begingen Selbstmord.
Am 2. Mai 1933 verließ Cassirer Hamburg endgültig. Zuvor hatte er sich in einem Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät gegen Gerüchte verwahrt, er habe aus gesundheitlichen Gründen um Beurlaubung gebeten. Er verwies auf die Unmöglichkeit, wie bisher lesen und lehren zu können und schloss mit den Worten: »So muss ich, hochverehrter Herr Dekan, fortan das Band als gelöst ansehen, das mich bisher mit der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg verbunden hat.« Er fügte hinzu: »Die Jahre meiner Wirksamkeit an der Hamburgischen Universität werden mir unverloren und unvergessen sein.«
Susanne Wittek schließt mit den Jahren des Exils, das Cassirer zunächst nach Oxford, dann nach Göteborg und schließlich – ab Sommer 1941 – in die USA führte. Als die Cassirers am 4. Juni 1941 in New York ankamen, wurden sie von 17 Angehörigen erwartet, die zuvor schon in Amerika gestrandet waren. Mindestens sieben Familienangehörige wurden Opfer des Holocaust. Cassirer selbst hat das Ende des NS-Regimes nicht mehr erlebt, am 13. April 1945 erlag er einem Herzversagen. Einen Tag zuvor war der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt gestorben. Die Columbia University, an der Cassirer zuletzt gelehrt hatte, setzte das Sternenbanner auf halbmast und fügte die Bekanntmachung hinzu: »The University Flag is at Half Staff in Mourning for Franklin Delano Roosevelt – 1882–1945 President oft the United States – Ernest Alfred Cassirer 1945 Visiting Prof. of Philosophy.«
Das letzte Kapitel zeigt, wie zögerlich nach 1945 die Rezeption von Cassirers Leben und Werk einsetzte. Nach vereinzelten Anfängen raffte sich die Universität erst in den 90er Jahren zu einem nachhaltigen Gedenken auf. Im Vorwort der Cassirer-Forscherin Birgit Recki heißt es, in diesem Buch werde bewusst ein »größeres Leserpublikum« angesprochen. Man möchte der Autorin bestätigen, dass ihr eine ungewöhnlich gute Verbindung von Verständlichkeit und vertiefter Interpretation gelungen ist, nicht zuletzt in der Darstellung der Davoser Disputation und der philosophischen Hauptwerke Cassirers.
Susanne Wittek: »So muss ich fortan das Band als gelöst ansehen«. Ernst Cassirers Hamburger Jahre 1919–1933. Wallstein, Göttingen 2019, 240 S., 24,90 €.
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