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© picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Über die (Un)Sichtbarkeit von Frauen Ursprung der Welt statt Heimchen am Steinzeitherd

Schon in der Urgeschichte taten Frauen Dinge, die ihnen manche gar nicht zugetraut hätten: Sie gingen zur Jagd, schufen Kunst und genossen einen hohen Status. Die Forschung beginnt gerade erst, sich von Geschlechterklischees aus dem 19. Jahrhundert zu befreien. Diese neue Sichtbarkeit ist für die Gegenwart von großer Bedeutung.

Als das amerikanische Model Emily Ratajkowski einmal in Leggins aus einem anstrengenden Shooting in New York auf die Straße trat und einen Moment für sich zu haben glaubte, kam ein Mann auf sie zu, starrte ihr in den Schritt und sagte: »Ich kann deine Pussy sehen«. Die junge Frau spürte eine »stechende Scham«, schreibt sie in ihrem Buch My Body, das soeben auch auf Deutsch erschienen ist.

Als Ende 2017 eine Facebook-Nutzerin Bilder der prähistorischen Venus von Willendorf postete, zensierte die Plattform die Fotos wegen Pornografie. Später entschuldigte sich das Unternehmen und erklärte, für Statuen gälten natürlich Ausnahmen.

Als im August 2021 die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, dauerte es nur drei Monate, bis das »Ministerium für die Förderung der Tugend und Verhütung des Lasters« TV-Sender anwies, keine Filme oder Serien mehr zu zeigen, in denen Frauen eine Rolle spielten.

Anfänge gäbe es viele, um vom kulturübergreifenden Unsichtbarmachen von Frauen, ihren Körpern und ihren Beiträgen zum Fortkommen der Menschheit zu erzählen. Zwar weiß das heutige aufmerksamkeitsökonomische Wertschöpfungssystem die Sichtbarkeit des weiblichen Körpers für sich zu nutzen, solange dieser die Merkmale einer von heteronormativen Männern definierten »Fuckability« erfüllt. Doch schon Frauen ab Mitte 30 sind, zumindest in deutschen Kinofilmen von 2017 bis 2020, weniger präsent als ihre männlichen Kollegen. Das hat Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock in der kürzlich veröffentlichten Studie »Sichtbarkeit und Vielfalt« zur audiovisuellen Diversität dargelegt. Die weibliche Hauptfigur sei demnach »jung, schlank und wird im Kontext von Partnerschaft und Beziehung erzählt«. Männer hingegen hätten »erkennbare Berufe, sind auch mal übergewichtig und werden insgesamt vielschichtiger dargestellt«.

Die Sprache weiß es: Nicht gesehen zu werden heißt, kein Ansehen zu besitzen. Warum ist das so, warum betrifft es vor allem Frauen? Weibliche Unsichtbarkeit: Wie alles begann lautet der programmatische Titel eines Buches, mit dem die französische Urgeschichtlerin Marylène Patou-Mathis derzeit auch in Deutschland einigen Eindruck macht. Mit einem lauten Tusch beginnt sie ihren Text: »Nein! Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen!« Könnte es nicht sein, fragt sie, dass auch Frauen »die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben?«

Die Handsignaturen vieler berühmter Höhlenmalereien, werden inzwischen weitgehend Frauen zugeordnet. Waren die ersten Höhlenforscher noch davon überzeugt, dass das Eindringen in Höhlen – das sagt ihnen ja schon die Biologie! – schon immer nur Männersache gewesen sein konnte, kraxelten Frauen tatsächlich an unwegsamen Höhlenwänden herum und malten.

In anderen Bereichen gibt es der Forscherin zufolge zwar keinen belastbaren Beweis für weibliche Urheberschaft. Aber, und das ist das Entscheidende: eben auch keinen dafür, dass ein Mann am Werk war. Die Venus von Willendorf etwa kann ebenso gut von einer Frau erschaffen worden sein. Allein die Darstellung eines üppigen weiblichen Körpers als »Venus« zu bezeichnen, nach einer römischen Gottheit aus einer völlig anderen Epoche, sagt vor allem eines: dass nach Auffassung der Namensgeber eine nackte Frau nur zum Vergnügen des Mannes abgebildet worden sein kann. Eines von vielen Beispielen, wie alte Zeiten dem patriarchalen Denken der Gegenwart unterstellt wurden und werden.

Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch dumm, denn es vernebelt den wissenschaftlichen Blick. Schon die Skelette unserer Vorfahren entsprechen oft nicht den heutigen Erwartungen an weibliche und männliche Beschaffenheiten. Muskelansätze und Verschleißerscheinungen an Knochen von Neandertalerinnen etwa beweisen, dass diese gewohnheitsmäßig den Speer warfen. Ein 1880 auf der schwedischen Insel Björkö entdecktes Grab galt jahrzehntelang als Referenz zur Identifikation bestatteter Wikingeranführer. Wer sonst sollte dermaßen reich, mitsamt Schwert, zwei Lanzen und 25 Pfeilen, zwei Pferden und einem Spielbrett mit Figuren bestattet worden sein als ein Mann? 2014 wurde das Skelett durch DNA-Analysen als eindeutig weiblich identifiziert. »Die patriarchalische westliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte die Vorstellung, es habe Kriegerinnen gegeben, nicht akzeptieren«, schreibt Patou-Mathis.

Überkommene Vorstellungen und Klischees

Angenehmerweise sieht die Autorin von einem triumphierenden oder aktivistischen Ton ab und hält sich stattdessen akribisch an Nachweisbarkeiten. Sie trägt zusammen, zu welchen gesicherten Erkenntnissen neue Analysetechniken bei der Untersuchung archäologischer Relikte beitragen, welche Fortschritte die Wissenschaft bei der Interpretation menschlicher Fossilien macht und wo (noch) Grenzen existieren. Sicher ist: Die Erkenntnisse stellten »viele überkommene Vorstellungen und Klischees« infrage.

Allein diese Fragen zu stellen, ob wirklich »immer schon« der Mann die Blaupause des Menschen gewesen war, ob als Künstler, Jäger, Wissenschaftler oder Krieger, oder ob es sich dabei nicht eher um eine Rückprojektion von gesellschaftlichen Standards des 19. Jahrhunderts handelt, als die Ur- und Frühgeschichte entstand, werten Autoren wie Georg Diez in der Zeit schlicht als eine »Revolution«. Revolutionen haben es freilich oft an sich, dass nur die Rollen zwischen Profitierenden und Unterdrückten getauscht werden, die Machtverhältnisse aber dieselben bleiben. Heißt mehr weibliche Sichtbarkeit zu erreichen womöglich, sich »einfach nur in ein bestehendes System hineinzuemanzipieren«, wie es die Feministin Antje Schrupp kürzlich in einem Interview auf Radiocorax formulierte?

Man darf den Titel von Gustave Courbets als »provokant« geltendem Gemälde Der Ursprung der Welt von 1866 durchaus wörtlich nehmen, um zu erahnen, dass Donald Trumps abfällig-übergriffiger Spruch »Grab them by the pussy« und die Frage, wie der Raubbau an der Natur, das Metallzeitalter, die Kriege eigentlich anfingen, eben doch zusammenhängen könnten. Verfechterinnen der in den 1970er Jahren aufkommenden Theorie von einer Muttergottheit in paläolithischer Zeit – also noch vor der Domestizierung der Tiere, die der Unterwerfung der Frauen vorausgegangen sei – sind überzeugt, dass die Präsentation weiblicher Nacktheit schlichtweg keine Entwertung der Frau bedeutet habe, weil dieser Körper nicht als Objekt, sondern als schöpferisches Subjekt begriffen worden sei.

In seiner Darstellung zeigte sich demnach die Wertschätzung jenes Körpers, der als einziger imstande ist, neues Leben hervorzubringen. Männliche Fruchtbarkeit soll noch nicht den Stellenwert besessen haben, den das Patriarchat ihr dann zuerkannte. Bis die neuen Hirtenreligionen aus der für alle eindeutig sichtbaren Tatsache, dass jeder Mensch aus einem Frauenleib auf die Welt kommt, eine schwer zu beweisende Glaubensfrage gemacht und die Autorschaft fürs Leben gewaltsam von der Frau auf den Mann übertragen haben: die Frau entsteht aus der Rippe Adams. Analog wurde einstmals »heiliges« weibliches Blutvergießen bei Menstruation und Geburt als »unrein« diffamiert und in die Unsichtbarkeit verbannt, männliches, kriegerisches hingegen aufs Podest gestellt.

Antworten auf die Frage, wie »alles begann«, brennen der verunsicherten Gegenwart unter den Nägeln, wie der große internationale Erfolg von Büchern wie Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit von David Graeber und David Wengrow oder der fast schon popkulturelle Hype um die Bücher Yuval Noah Hararis oder James Suzmans zeigt. Auch wenn heute niemand davor gefeit ist, die Vorzeit mit buntesten Rückprojektionen wünschenswerter Zustände zu illuminieren, so käme ein neuer Blick auf den weiblichen Anteil an der Menschheitsgeschichte nicht nur Frauen zugute.

Aus vielen steinernen Funden lässt sich derzeit noch keine brauchbare DNA beschaffen. Was aber bleibt, ist, das Mosaik der Leerstellen weiblicher Sichtbarkeit zu vervollständigen. In ihrem fundiert und lebendig geschriebenen Buch Frauen, die die Wissenschaft veränderten – Von der Antike bis zur Gegenwart postulieren die amerikanischen Wissenschaftshistorikerinnen Anna Reser und Leila McNeill: »Statt einfach zu akzeptieren, dass es Bereiche gibt, in denen Frauen nicht auftauchen, sollten wir fragen, warum sie dort nicht zu finden sind und wer ihnen den Zugang verweigert hat«. Erst wenn man die Frage auf diese Weise neu formuliere, könne eine Lücke in den historischen Aufzeichnungen neu interpretiert werden, »als Beleg für ein bestimmtes Handeln«. Vergessen sei, genau wie das Erinnern, ein aktiver Akt.

Mehr Sichtbarkeit allein ist dennoch nicht die Lösung aller Probleme. 2008 untersuchte die Wiener Kunsthistorikerin und Kulturwissenschafterin Johanna Schaffer in ihrem Buch Ambivalenzen der Sichtbarkeit den Begriff aus einer herrschaftskritischen Perspektive. Sie regt an, »Forderungen nach Sichtbarkeit so zu verschieben, dass sie eher mit reflexivem Potential denn quantitativem Gewicht aufgeladen werden.«

Dass erhöhte Sichtbarkeit nicht automatisch Empowerment bedeutet, konnte man erst kürzlich an den wütenden Reaktionen sehen, die der Sängerin Adele entgegenschlugen, nachdem sie 45 Kilogramm abgenommen hatte. Für viele einstige Fans war das ein Verrat an der Idee der »Body Positivity«. Die damit sonst so eng verknüpfte Norm der Selbstermächtigung war mit der scheinbaren Anpassung an das gängige Schönheitsideal, für das sich die Sängerin offenbar entschieden hatte, hinfällig geworden.

Die popkulturell sichtbare Frau hat nun einmal, wie in der Mehrheit deutscher Kinofilme, nicht viel mehr als ihre Hülle. Ihre Beziehung ist, als lebten wir noch in der Zeit von Effi Briest, das Verdienst ihrer (schönen) Hülle. Jedenfalls, solange sie unter 35 ist. Als das Model Emily Ratajkowski 2013 durch ihren halbnackten Auftritt in dem Musikvideo zu Robin Thickes Blurred Lines berühmt wurde, war sie 21. Ihre Reflexionen über die Ambivalenzen der eigenen Sichtbarkeit in ihrem Buch My Body lesen sich wie ein so nüchterner wie ergreifender, ergebnisoffener Prozess. Wie amüsant, schreibt sie über einen übergriffigen Fotografen, der sie erst dann respektvoll behandelte, nachdem sie Mutter geworden war, »dass Männer die Lebenszyklen von Frauen derart vereinfachen! Vom Sexobjekt zur Mutter zur ... was? Unsichtbaren?«

Ratajkowski stellt ihrem Buch ein Zitat des britischen Malers und Kunstkritikers John Berger voran. Er schrieb 1981 in Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt: »Man malte eine nackte Frau, weil man sie gern betrachtete; man gab ihr einen Spiegel in die Hand, nannte das Gemälde Eitelkeit und verurteilte damit moralisch eben jene Frau, deren Nacktheit man zum eigenen Vergnügen abgebildet hatte. In Wahrheit jedoch hatte der Spiegel eine andere Funktion. Er sollte die Frau zur Komplizin machen, sodass auch sie sich zuallererst als Anblick begriff«.

My Body endet denn auch mit einem Spiegel – und überwindet ihn. Ihn lässt die Autorin sich während der Geburt ihres Sohnes übers Bett hängen. Sie wird zu ihrer eigenen Komplizin, beobachtet, wie der Körper zur Autorität wird und registriert die (ver)formende Kraft, die hier am Werk ist. »Wie benebelt« nimmt sie ihren Jungen in den Arm und gibt sich selbst einen Abglanz von Göttlichkeit: »Fleisch von meinem Fleisch, dachte ich.« Der Spiegel wird beiseitegeschoben, aber sie kann ihn noch immer sehen, jenen »Ort«, aus dem der neue Mensch gekommen ist: »meinen Körper«.

Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit: Wie alles begann. Hanser, München 2021, 288 S., 24 €. – Emily Ratajkowski: My Body. Was es heißt, eine Frau zu sein. Penguin, München 2022, 240 S., 20 €. – Anna Reser/Leila McNeill: Frauen, die die Wissenschaft verändern. Von der Antike bis zur Gegenwart. Haupt, Bern 2022, 272 S., 36 €.

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