Zu einer der größten europäischen Regionen, der Metropole Ruhr, liegt eine kaum noch überschaubare Zahl von Studien und Forschungsansätzen, Sammel- und Bildbänden vor. Und doch fördert die von Wolfgang Roters, Gerhard Seltmann und Christoph Zöpel veröffentlichte Untersuchung Ruhr. Vorurteile – Wirklichkeiten – Herausforderungen Neues zutage. Da wäre zunächst die Diagnose, dass aus der Fülle der inzwischen vorgelegten Arbeiten mittlerweile ein selbstbezogenes System entstanden ist, das sich bisweilen von einer empirischen Fundierung losgelöst hat und das dazu neigt, irgendwann gewonnene Erkenntnisse ohne neuerliche Überprüfung weiter zu verbreiten. Die Autoren wollen einen Beitrag zur Gegenwart und Zukunft des Ruhrgebietes leisten und brechen dafür verkrustete Narrative auf.
Dies geschieht dadurch, indem sie zunächst kommunikative Muster historisch dekonstruieren. Im ersten Teil der Untersuchung werden die langen, weit vor die (Groß-)Industrialisierung reichenden Entwicklungslinien herausgearbeitet, die die Region wirtschaftlich, sozial und kulturell geformt haben. Dies allein zeigt: »Ruhr« ist nur historisch zu verstehen. Geschichtlich gewachsen sind demnach Fremd- wie Selbstverständnis der Region. Und es wird gezeigt, wie öffentliche Wahrnehmung und empirische Wirklichkeit auseinanderfallen.
Die Erfahrung der Steinkohlegewinnung durch den Tiefbergbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die dadurch ermöglichte Stahlproduktion und damit ausgelösten Einwanderungsbewegungen zwischen 1850 und 1950 prägen das öffentliche Bewusstsein bis heute. Für einige Jahrzehnte war das Ruhrgebiet die führende deutsche Industrieregion, schuf Arbeit und bescheidenen Wohlstand, lieferte Material für zwei Weltkriege; es befeuerte die Gründungsidee der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und schob das bundesdeutsche Wirtschaftswunder maßgebend an. Doch schon in den 80er Jahren setzte eine tiefgreifende Deindustrialisierung ein, die ihren Endpunkt im Jahr 2018 mit dem Ende des Steinkohlebergbaus fand.
Der luzide historische Abriss beleuchtet überdies Aspekte, die sonst kaum Erwähnung finden. So werden institutionelle, räumliche, infrastrukturelle und funktionale Faktoren analysiert, die ebenfalls bis in die Gegenwart wirken. So wird die preußische Politik beschrieben, die eine moderne Urbanisierung und die Ausbildung einer metropolitanen Funktion gezielt verhinderte – eine Weichenstellung, die erst mit der Gründung der Universitäten in Dortmund und Bochum in den 60er Jahren teilweise korrigiert wurde. Die institutionelle Zergliederung, die der polyzentrischen Städteregion eine adäquate Governance-Struktur verweigerte, wirkt dagegen fort, auch wenn sich die interkommunale Kooperation auf vielen Feldern stark verbessert hat. Bis heute wird das »Ruhrgebiet« durch drei Regierungsbezirke von außen regiert.
Die Einwohner selbst halten recht viel von ihrer Region und verstehen sich als zuverlässige, zupackende und ehrliche Menschen; Vielfalt betrachten sie als Stärke. Vor allem die Jüngeren blicken optimistisch in die Zukunft ihrer Region. Doch die Fremdwahrnehmung sieht anders aus: Befeuert durch fragwürdige Rankings wird das überkommene Bild von einer rückwärtsgewandten Absteigerregion verfestigt, in der das düstere Grau einer unheimlichen Industrieagglomeration das gesamte Leben überschattet.
Die Autoren identifizieren 13 Stereotype, die sie der Wirklichkeit gegenüberstellen. Einige von ihnen sind so erfolgreich, dass selbst die Einwohner des Ruhrgebiets sie für bare Münze nehmen. So wird die an sich schon paradoxe Ansicht widerlegt, das Ruhrgebiet sei immer noch eine Region der Arbeiter, die aber keine Arbeit mehr hätten. Das Gegenteil ist der Fall, denn den klassischen Industriearbeiter gibt es kaum noch, dennoch liegt die Erwerbsquote mit 46 % über dem Niveau der 60er Jahre, der Blütezeit der Industriearbeit. Dem Klischee einer bildungsfernen Region wird mit Zahlen und Fakten über wissensintensive Unternehmen und Start-ups und der Beschreibung einer außergewöhnlich dichten Hochschullandschaft mit zehntausenden von Studierenden widersprochen. Wissenstransfer ist an der Ruhr längst zu einem signifikanten Wirtschaftsfaktor geworden.
Auch der geläufigen Annahme, die Ruhrregion sei die Stauregion Nummer eins in Deutschland, widerspricht die Studie. Denn die Staudichte und ‑intensität im Ruhrgebiet sei wesentlich geringer als in Berlin, Hamburg oder München und der dadurch verursachte volkswirtschaftliche Schaden fällt entsprechend geringer aus. Die Erreichbarkeit der Stadtzentren mit dem Auto sei im Vergleich zu anderen Großstädten oder Metropolregionen geradezu herausragend gut, wie auch die durchschnittlichen, tatsächlich gefahrenen innerstädtischen Geschwindigkeiten deutlich über dem Niveau anderer Ballungsräume lägen.
Von außen wird das Ruhrgebiet bis heute als ein »kulturloser« Raum gesehen. Hier sind quantitative Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen zwar schwierig, aber die Bestandsaufnahme der Autoren listet zahlreiche Kulturangebote mit überregionalem Renommee und nicht selten internationaler Ausstrahlung auf. Weltweit weise keine Region eine dichtere Theaterlandschaft auf, dazu kämen sechs Ruhrgebietsorchester, 200 Museen und eine Vielzahl an Festivals.
Gleichwohl zeichnet die Studie kein Bild vom Ruhrgebiet als einer verkannten Insel der Glückseligen. Sie belegt zum Beispiel eine auffällig unterdurchschnittliche finanzielle Ausstattung von Forschung und Lehre an den Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen. Zwischen 1996 und 2016 flossen rund 768 Millionen Euro nach München oder 365 Millionen Euro nach Berlin, an die Ruhr gelangten gerade einmal 129 Millionen. Die EU investierte im Jahr 2017 lediglich sieben Euro pro Einwohner in die Forschung an der Ruhr, noch weniger waren es nur in Bielefeld. Auch die Lehre ist deutlich unterfinanziert, mit 66 Studierenden pro Hochschulprofessor/in ist die Betreuungsrelation so schlecht wie nirgendwo sonst in Deutschland. Entsprechend hinke die Region trotz einer immensen Aufholjagd auch in der wissensintensiven Produktion noch hinter anderen Regionen der Republik her. Und die EU-Wirtschaftsförderung fällt deutlich hinter das Niveau von Regionen mit ähnlichen Herausforderungen in Ostdeutschland zurück.
Genügend spezialisierte Fachkräfte und eine leistungsfähige Forschung sind von überragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Ruhrregion. Dabei kommt es jedoch nicht nur auf eine gerechte Teilhabe an Forschungsgeldern oder Projektmitteln des Bundes an, sondern ebenso auf die Einführung funktionierender regionaler Innovationssysteme – was andere Studien belegen.
Die Klage, man habe es an der Ruhr immer noch mit einem innovationsfeindlichen Milieu zu tun, rücken Roters, Seltmann und Zöpel zurecht. Ihre Studie geht tiefer, weil sie fragen, wer denn das Milieu innovationsfeindlich gemacht habe. Wie auch immer: Das Ruhrgebiet sollte schleunigst den Ausgang aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit wählen, denn es hat so einiges zu bieten. Neben den benannten hard skills sind dies nicht zuletzt seine soft skills. Die Einwohner des Ruhrgebiets haben eine bemerkenswerte Integrationsgeschichte geschrieben, können mit kultureller Heterogenität umgehen und verstehen Solidarität als einen Grundwert moderner Urbanität.
Das Ruhrgebiet sollte sich dieser Stärken bewusst sein und gern gehegte Vorurteile zurückweisen. Es hat das Potenzial, über sich hinaus zu wachsen.
Wolfgang Roters/Gerhard Seltmann/Christoph Zöpel: Ruhr. Vorurteile – Wirklichkeiten – Herausforderungen. Eine Studie der Stiftung Mercator, Essen 2019. Abrufbar unter: https://www.stiftung-mercator.de/de/publikation/ruhr-vorurteile-wirklich keiten-herausforderungen/
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