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Neue Vorschläge für eine sozialdemokratische Zukunft Utopie als Motor

Die Sozialdemokratie, die über einen langen Zeitraum richtungsweisend war – unabhängig davon, ob sie an der Macht war oder nicht –, wird mittlerweile getrieben, statt selbst Antrieb zu sein. Sie ist visionslos. Und das gerade in Zeiten tiefer Umbrüche, aber auch großer Chancen. Wir sind uns einig: Das sozialdemokratische Versprechen auf ein Leben in Wohlstand, Würde und Frieden ist nach wie vor hochaktuell. Doch damit es wieder glaubwürdig wird, müssen wir es neu denken.

Das philosophische Fundament sozialdemokratischer Politik seit dem Zweiten Weltkrieg umfasst drei Kernbausteine: die praktische Realisierung und Wahrung der Menschenwürde, die nachhaltige Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität (Wohlstand) sowie die Sicherung eines Lebens in Frieden.

Zwischen Würde und Wohlstand besteht ein grundsätzliches Spannungsverhältnis: Wohlstandsvermehrung ist ohne Produktivitätssteigerung nicht möglich. Das bedeutet immer wieder das Umkrempeln – oft sogar das Zerstören – konkreter Lebenswelten. Diese Spannung hat die Sozialdemokratie seit dem Zweiten Weltkrieg mit zwei Ansätzen aufzulösen versucht. Während der keynesianisch geprägten Ära war der Fokus auf Vollbeschäftigung und die Stabilität existierender Lebenswelten gerichtet und bescherte einen jahrzehntelangen, bemerkenswerten Erfolg. In den 70er Jahren aber verlief sich diese Strategie in wirtschaftlicher Verkrustung, einer wachsenden Inflation und steigender Arbeitslosigkeit. Die danach folgende Politik der Flexibilisierung und Deregulierung führte vor allem in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den USA zu einer geringeren Arbeitslosigkeit, einer niedrigeren Inflationsrate und zu einer Modernisierung der Wirtschaft. Die Grenzen dieses Ansatzes sind jedoch spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 offensichtlich: wachsende Ungleichheit, der damit einhergehende Verlust von Solidarität und Gemeinschaftsgefühl, das Entstehen eines neuen Prekariats und ein stetig wachsender Zeit- und Leistungsdruck.

Die SPD hatte immer eine Art Brückenfunktion – zwischen denjenigen, denen es gut geht und denen, die ins Abseits gedrängt zu werden drohen oder sich bereits dort befinden. Doch heute gelingt es ihr nicht mehr, diese Brücken zu schlagen. Der Anspruch, Würde und Wohlstand gleichzeitig zu ermöglichen, ist im jetzigen Rahmen zum Scheitern verurteilt.

Getrieben von den Krisen reagiert Politik zunehmend nur noch. Öffentliche Debatten über richtungsweisende Entscheidungen werden demobilisiert, Entscheidungen im Eiltempo in kleinen Kreisen getroffen. Europapolitik, Finanzkrise, Flucht und Asyl, Arbeitsmarktpolitik: Die Rhetorik der Alternativlosigkeit hat in den letzten Jahren die Politik geprägt. Sie hat die Menschen in ihrem Glauben, die Politik könne die Zukunft positiv gestalten, enttäuscht. Doch: Dauerkrise und Internationalisierung sind Alibis. Große und unübersichtliche Herausforderungen gab es schon immer. Jürgen Habermas hat es einmal positiv formuliert: »Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut.«

Wo die Zukunft keine Sicherheit mehr verspricht, tun es scheinbar die Reaktionären. Sie glorifizieren vergangene Zeiten, in denen die Welt übersichtlicher, die Herausforderungen lösbarer erschienen. Die beschworene Nostalgie gibt vielen Menschen Halt, die unsicher und ungewiss in die Zukunft blicken. In dieser Wunschwelt setzen sie sich gegen das vermeintlich Unübersichtliche, Unbekannte (Migration, Globalisierung, Digitalisierung) zur Wehr – selten produktiv, manchmal gewaltsam. Progressive Politik muss durch das Ausformulieren des eigenen Gestaltungsanspruchs die Richtung vorgeben und so die Entstehung eines Vakuums verhindern. Diesen Anspruch zu formulieren erfordert Mut. Diesen hat die Sozialdemokratie in der Vergangenheit gezeigt und sie könnte mit ihm heute noch eine neue gesellschaftliche Vision, eine Utopie formulieren. Dabei ist klar: Eine solche Utopie ist weniger ein Ziel als ein Motor. »Eine Utopie ist wie der Horizont. Im selben Maße, wie man sich ihm nähert, weicht er zurück und bleibt unerreichbar. Aber aus einem ganz bestimmten Grund: Damit wir gehen«, schreibt der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano. Und genau das ist die historische Aufgabe der Sozialdemokratie: die Menschen zum Gehen zu ermutigen.

Wir unternehmen einen Versuch und skizzieren Grundzüge einer neuen sozialdemokratischen Utopie, die die Grundwerte Würde, Wohlstand und Frieden auf neue Füße stellt. Klar ist, dass dies eine Diskussionsgrundlage ist, kein vollendetes Konzept.

Entfaltung und Zusammenhalt

Antrieb jeder Politik ist ein bestimmtes Menschenbild. Im Herzen des Neoliberalismus steht der Homo oeconomicus, dessen Ziel die Maximierung seines (Human-)Kapitals ist. Unsere Vision hingegen ist vom aristotelischen Menschenbild geprägt: die Erfüllung des Menschen als Ergebnis der Entfaltung seiner vielfältigen Veranlagungen. Wir wollen weg vom Gedanken, die Hauptaufgabe unseres Bildungssystems sei die Produktion arbeitsmarktfähiger Menschen. Der Mensch soll frei sein, akademische, künstlerische, handwerkliche und sportliche Talente zu entwickeln und zwar ein Leben lang. (Aus-)Bildung soll nicht nur Mittel zum Zweck sein, sondern Zweck ihrer selbst. Ein verpflichtendes soziales Jahr für Jugendliche und gesetzlich festgeschriebene, bezahlte Sabbatjahre für Berufstätige könnten Lebensläufe produktiv aufbrechen und mehr Freiraum schaffen für nicht-erwerbsorientierte Entfaltungsmöglichkeiten, denen viele Menschen vielleicht schon heute gerne nachgingen, für die sie aber oft weder ausreichend zeitliche noch finanzielle Ressourcen haben.

Damit Menschen in diesem Freiraum aber Orientierung finden, sind neue Rollenbilder und Lebensziele nötig. Bereits heute arbeiten viele Menschen im kulturellen Bereich. Wir wollen diesen Bereich stärken und gleichzeitig kulturelle Tätigkeiten auch für Menschen öffnen, die sich beruflich nicht dazu berufen fühlen. Damit dies geschieht, darf Kultur nicht bloß ein Angebot von und für die Oberschicht oder Kulturschaffende sein, sondern muss die Menschen überall abholen; vor allem dort, wo ihr Umfeld ihnen gegenwärtig keinen automatischen Zugang zu Kultur ermöglicht. Gerade in Zeiten, in denen Lebensrealitäten zunehmend auseinanderdriften, müssen Verbindungen zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus gestärkt werden, damit die Gesellschaft nicht zu einer Ansammlung isolierter Biotope verkommt. Eine bürgerorientierte, nachhaltige Stadtentwicklungspolitik kann geografische, soziale Spaltungen abschwächen und das Wahlrecht ab 16 Jahren demografischen Ungleichgewichten entgegenwirken.

In unserer Utopie wird die Automatisierung entfesselt. Sie zerstört Jobs, aber keine Existenzen. Dank eines bedingungslosen Grundeinkommens können Menschen auch ohne durchgehendes Beschäftigungsverhältnis in Würde leben. Denn: Durch Automatisierung können sie weniger arbeiten, ohne dass die Wirtschaftskraft sinkt. Es entsteht mehr Freiraum für selbstbestimmte Tätigkeiten. Dadurch wird der oben beschriebene Kulturwandel ermöglicht. Die heute so wichtige Unterscheidung zwischen »erwerbstätig« und »nicht erwerbstätig« verliert ihre Bedeutung; Menschen gehen Tätigkeiten nach, die sie aus ihrem Innersten heraus motivieren, anstatt Lohnarbeit, die oft nur durch Gehalt – falls überhaupt – motiviert.

So schafft diese Vision einen doppelten Freiheitsgewinn: Das bedingungslose Grundeinkommen schafft die Freiheit »nein« sagen zu können, sodass monotone oder anderweitig unattraktive Lohnarbeit langfristig verschwindet – oder deutlich höher vergütet werden muss. Wer auf dem Arbeitsmarkt trotzdem keinen Raum zur Entfaltung findet, ist durch das Grundeinkommen befreit vom Zwang, sich feilbieten zu müssen. Und wer in Erwerbsarbeit Erfüllung findet oder zusätzlichen Wohlstand erwerben möchte, kann auf dem Arbeitsmarkt leichter eine gut bezahlte Position finden.

An der Oberfläche geht es unserer Gesellschaft gut. Aber darunter rumort es. Die Infrastruktur unserer politischen Willensbildung ist veraltet: Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Vereine, die einst flächendeckend Menschen in den politischen Prozess einbanden, haben an Verwurzelung verloren. Wo früher vertikale Strukturen den Austausch über soziale Schichten hinweg erleichtert haben, ist heute die Rolle horizontaler Netzwerke, in denen Menschen mit ihresgleichen zusammenkommen, zentral. So können politische Entscheidungsprozesse immer weniger nachvollzogen werden und die Legitimität unserer Demokratie schwindet. Um die politische Willensbildung in dieser Utopie demokratischer zu gestalten, fügen wir zwei neue Elemente hinzu: ein Legislativrecht für Bürger/innen und eine parlamentarische Loskammer. Denn: Demokratie bedeutet, dass der Demos souverän ist.

Dieses Prinzip gilt zeitlos. Es muss aber regelmäßig neu umgesetzt werden. Etwa im Kontext der Digitalisierung, die positiv wie negativ nie dagewesene Möglichkeiten schafft. Schon heute bilden sich neue Machtzentren außerhalb demokratischer Kontrolle und ohne demokratische Legitimation: ob durch den Privatbesitz einer kritischen (Netz-)Infrastruktur, persönlicher Daten oder entscheidender Kommunikationsmittel, durch die größer werdende Rolle künstlicher Intelligenz oder durch die Bildung neuer Machtfülle bei Geheimdiensten. Daher brauchen wir Gesetze, die die Würde des Menschen und die Souveränität der Bürger als oberstes Gut auch im digitalen Zeitalter schützen.

Auch die Medienlandschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Einnahmen brechen weg, Redaktionen schrumpfen, der kritische Auftrag wird vernachlässigt, die Glaubwürdigkeit herausgefordert. Es muss genügend Journalisten geben, die mit einem ausreichenden finanziellen Spielraum ausgestattet sind, um eine kritische Berichterstattung in der Breite zu ermöglichen. Durch lesergesteuerte, staatlich finanzierte Subventionen wollen wir ein Doppelziel erreichen: eine ausreichende Finanzierung und redaktionelle Freiheit. Zudem werden Monopolstellungen einzelner Medienunternehmen strikt verhindert.

Nationale Alleingänge im 21. Jahrhundert führen in die Sackgassen der Kleinstaaterei. Wir dürfen den Ängsten, die nationalistische Bewegungen schüren und ausnutzen, nicht nachgeben. Wir müssen eigene Antworten formulieren. Mit viel Pathos begründen Politiker die Wichtigkeit des vereinten Europas immer wieder mit dem Blick in die kriegerische Vergangenheit des Kontinents. Doch das reicht nicht aus. Wir benötigen vor allem den Blick in die Zukunft. Grenzenlose Mobilität, neue Sprachen, andere Kulturen, europäische Liebesbeziehungen: Viele Errungenschaften der EU sind für Teile der jüngeren Generationen eine Selbstverständlichkeit, sie sind Teil des Alltags, den sie leben.

Europa ist für viele Menschen ein Versprechen des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs, der Gerechtigkeit und der gemeinsamen außenpolitischen Stärke unserer Wertegemeinschaft. Doch viele dieser Versprechen haben Risse erhalten: Zu viele Menschen profitieren davon nicht. Jeder einzelne Mensch muss die Möglichkeit haben, die Vorteile eines vereinten Europas im Alltag zu spüren. Ideen, wie das gelingen kann, gibt es zuhauf. Nur finden sie viel zu selten Fürsprecher in der Politik. Skeptiker und Verfechter der kleinen Schritte bestimmen den Diskurs. Das geht auf Kosten einer gemeinsamen Idee, mit der sich Menschen europaweit identifizieren können und für die sie sich einsetzen wollen. Die EU braucht eine Vision, ein Narrativ, das in die Zukunft gerichtet ist. Eine echte europäische Regierung, eine Stärkung der Regionen, ein europäisches Mitbestimmungsgesetz für Arbeitnehmer, eine werteorientierte europäische Außenpolitik – das wäre ein Anfang.

Dies ist nur die knappe Skizze einer ausführlichen Utopie. Wichtiger als die Details sind der Ansatz und die Ambition, die hinter utopischem Denken stecken. Politische Kurzsichtigkeit und das künstliche Verengen der politischen Debatten müssen beendet werden. Utopie bedeutet auch, die Grenzen des Denkbaren aufzubrechen. Wir können so viel mehr als bisher geschieht – genau das dürfen wir in der Erneuerungsdebatte der Sozialdemokratie nicht vergessen.

(Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung des »Pariser Manifests«. Den kompletten Text finden Sie unter www.morgenmachen.eu)

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