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Der Schweizer Theatermacher Milo Rau gibt am 07.11.2017 in Berlin Anweisungen zum "Sturm auf den Reichstag" als Aktion zum Ende des sogenannten Weltparlaments. Drei Tage lang hatten internationale Wissenschaftler, Aktivisten, Kulturschaffende aus aller Welt in der Berliner Schaubühne über die Zukunft der Welt debattiert. © picture alliance / Michael Kappeler/dpa | Michael Kappeler

Milo Raus künstlerische Entwürfe für eine demokratischere Zukunft Utopische Institutionen

Was ist Politik? Das gängige Verständnis der etablierten Politikwissenschaft antwortet auf diese Frage mit den politischen Strukturen, Prozessen und Inhalten, also dem Dreiklang aus polity, politics und policy. Einer Reihe von Denkbewegungen erscheint dieser Ansatz allerdings als zu eng. In bewusster Abgrenzung wird dann lieber von dem Politischen gesprochen, einer Sphäre also, die sich gerade nicht in institutionell etablierten und zumeist repräsentativ organisierten Foren erschöpft, sondern die auch für eine kritische Infragestellung eben dieser steht.

Für eine solche Perspektive stehen etwa die Theorieansätze, die landläufig unter dem Begriff Radikale Demokratie zusammengefasst werden und denen so unterschiedliche Denker:innen wie Jacques Rancière, Jacques Derrida, Étienne Balibar, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau zugerechnet werden.

Das Politische und sein genuin demokratisches Moment zeichnet sich ihren Interpretationen zufolge gerade durch eine Herausforderung und kritische Befragung der gegebenen Ordnung aus – und dies oftmals außerhalb oder in entschiedener Abkehr von etablierten Institutionen. Beispiele dafür wären der Arabische Frühling oder die Bewegungen Occupy Wall Street und Fridays for Future. Allerdings muss man betonen, dass längst nicht alle zivilen Protestbewegungen als genuin demokratisch zu bezeichnen sind.

Radikaldemokratisch sind solche Bewegungen nur dann zu nennen, wenn sie auf alternative Lebens- und (Selbst-)Regierungsweisen abzielen, die den Protest gegen mangelnde (sozial-)demokratische Strukturen und für die Ausweitung demokratischer Werte wie Gleichheit, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und radikale Inklusion zum Anlass nehmen; wenn sie also aus demokratischen Grundprinzipien heraus handeln und diese dort einfordern, wo sie nicht oder nur ungenügend realisiert werden oder wo bestimmte Personen und Interessen strukturell von ihnen ausgeschlossen bleiben.

Doch welcher Platz bleibt in diesen emphatischen Sichtweisen noch für die tragenden gesellschaftlichen Institutionen übrig? Die Frage des Politischen jenseits institutionell legitimierter Strukturen zu stellen, führt am Ende nämlich oft dazu, dass deren Potenzial und damit ihre entscheidende Rolle im demokratischen Prozess vernachlässigt, übergangen oder gar ausgeblendet wird. Doch ohne das soziale Rückgrat von Institutionen sind demokratische Gesellschaften auch nicht funktionsfähig. Keine Demokratie kann nur im Modus des »Präsentischen«, der spontanen Aktion oder Versammlung bestehen.

Es kann also nicht um die Aushöhlung öffentlicher Institutionen gehen, vielmehr ist es eine zentrale Aufgabe, zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement außerhalb dieser Strukturen und demjenigen von etablierten Institutionen einen lebendigen Austausch und einen wechselseitigen Lernprozess zu befördern, um so langfristige Transformationen anzustoßen. Und das kann nicht nur die Aufgabe von Wissenschaft und Bildung sein. Vielmehr wird dieser Prozess gerade auch durch künstlerische Interventionen immer wieder befruchtet und vorangetrieben. In besonderer Weise zeigt dies die Arbeit des international renommierten Schweizer Regisseurs und Autors Milo Rau.

Entwurf utopischer Institutionen

Zwei bahnbrechende Arbeiten Raus stehen insbesondere für seine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Institutionen beziehungsweise für den Entwurf von utopischen Institutionen: das Kongo Tribunal von 2015 sowie die General Assembly von 2017. In beiden widmet sich Rau den komplexen Verwicklungen, Konfliktfeldern und Menschenrechtsverletzungen in unserer globalisierten Welt und schafft dabei aus einem theatral-performativen Ansatz heraus neue Formen internationaler demokratischer Aushandlung.

Das von Rau ins Leben gerufene Kongo Tribunal, ein Film- und Theaterprojekt, fand 2015 in Bukavu im Ostkongo sowie parallel in Berlin statt, um die Hintergründe des damals seit bald 20 Jahren andauernden Bürgerkrieges zu ermitteln. Präsidiert von einem halb kongolesisch, halb international besetzten Expertengremium sowie zwei Anwälten des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wurden mittels Anhörungen von Opfern, Augenzeug:innen, Milizionär:innen, Politiker:innen, UNO- und NGO-Angehörigen sowie Rohstoffhändler:innen und lokalen Menschenrechtsaktivist:innen zentrale Konflikte des Kongo-Krieges beleuchtet, etwa das Massaker im Dorf Mutarule und Zwangsumsiedlungen enteigneter Schürfer.

Während sich die Anhörungen im Ostkongo drei konkreten, aber bisher von keinem Gericht verhandelten Fällen widmeten, konzentrierten sich die Berliner Gespräche auf die Verstrickung und Mitverantwortung der EU, der Weltbank, der internationalen Gemeinschaft und der multinationalen Unternehmen. Rau selbst bezeichnet das Kongo Tribunal in seinem Essayband Das geschichtliche Gefühl als Versuch, »eine utopische Rechtsinstitution auf Augenhöhe der globalen Wirtschaft« zu entwickeln. Zusammen mit lokalen und internationalen Jurist:innen, Zeug:innen und rund 1.000 Zuschauenden wurde so ein »utopischer Rechtsraum« geschaffen, der lokales Bodenrecht, universales Menschenrecht und internationales Wirtschaftsrecht zusammenführte, um auf globaler Ebene mit echten Richtern und internationalen Jury-Mitgliedern Wirtschaftsverbrechen verhandeln zu können.

Milo Rau dazu: »Die Opfer riefen diese letztlich fiktive Institution an, weil es keine andere gab. Und durch ihre Anrufung wurde sie real, [...] Die Idee des Kongo Tribunals war es, mit einer symbolischen Handlung eine Institution in Arbeit zu zeigen, die es nicht gibt, die es aber geben sollte«. Ein dokumentarischer Film, der 2017 in die Kinos kam, bewirkte zumindest, dass die kongolesische Regierung angeklagt wurde und zwei Minister zurücktreten mussten.

Mit dem Kongo Tribunal schloss Milo Rau eine Beschäftigung mit Zentralafrika ab, die er mit der Theater-, Film- und Buchproduktion Hate Radio (über den ruandischen Genozid) 2011 in Angriff genommen hatte.

Den Marginalisierten Gehör verschaffen

Die General Assembly, die 2017 in Berlin stattfand, beruht auf einem ähnlichen Grundgedanken: Sie sollte den Stimmlosen und Marginalisierten, die von keiner (supra-)nationalen Institution angemessen vertreten werden, international Gehör verschaffen. Dabei konzentrierte sich die General Assembly auf die Perspektive und Anliegen von Menschen, die von den globalen Auswirkungen deutscher Politik betroffen sind, in ihr aber kein Mitspracherecht und keinerlei Repräsentation besitzen: Geflüchtete, Arbeitsmigrant:innen, Textil- und Minenarbeiter:innen, Kleinbauern und -bäuerinnen, Kinder, aber auch auf Tiere, Pflanzen oder Dinge.

In fünf Plenarsitzungen mit 60 Abgeordneten entstand so ein noch nie dagewesenes Weltparlament, das sich für die Formierung einer globalen demokratischen Weltgemeinschaft und die Artikulation ganz unterschiedlicher Perspektiven, Nöte und Anliegen einsetzte. Zentral war dabei die Frage, wessen Forderungen nach Unabhängigkeit, Unversehrtheit und Würde gehört beziehungsweise missachtet werden und wie die Würde aller Menschen mit der gegenwärtigen Rolle von Nationalstaaten, ökologischer und politischer Souveränität und technologischen Entwicklungen vereinbar ist oder durch diese zunichte gemacht wird. Die Tagung dieses Weltparlaments mündete in der Verabschiedung einer »Charta für das 21. Jahrhundert«. Eine Website begleitete die Veranstaltung mit einem Livestream und dient mit Analysen und Statements der Abgeordneten als künftiges Archiv dieses in gewisser Weise radikaldemokratischen oder gar utopischen »Gipfeltreffens«.

Milo Rau geht es bei diesen Arbeiten zum einen darum, lokale und globale Themen und Verantwortlichkeiten miteinander zu verschränken. Zweitens um das Erschaffen von Institutionen, die noch nicht bestehen, die aber angesichts globaler Macht- und Ausbeutungsverhältnisse dringend benötigt werden. Schließlich geht es ihm durch den künstlerischen Akt der Anrufung bislang inexistenter Institutionen um ein Aufzeigen der (positiven) Veränderbarkeit und Demokratisierbarkeit von Institutionen. Somit nutzt Rau das urdemokratische Moment der Versammlung zur Schaffung utopischer Räume, welche die theatrale Geste der Fiktion und des »So-tun-als-ob« hinter sich lassen, um in gänzlich neuen und oftmals für undenkbar gehaltenen Zusammensetzungen eine tatsächliche und mitunter politisch folgenreiche Basis für Verhandlungen zu schaffen.

Erschaffung eines auf Kooperation angelegten Kontextes

Raus künstlerische Entwicklung, mit anfänglichen Projekten vor allem im Bereich des dokumentarischen Theaters bis hin zu bahnbrechenden Projekten wie dem Kongo Tribunal und der General Assembly sowie die Gründung des »International Institute for Political Murder« (IIPM) zeigt, dass es ihm als Künstler um die Erschaffung eines übergeordneten, auf Kooperation angelegten Kontextes geht, welcher der modellhaften Erprobung und – wie Rau es formuliert – der »methodologischen« Vorbereitung zukunftsfähiger Institutionen dient.

Während Kunstschaffende, radikaldemokratischen Theoretiker*innen nicht unähnlich, lange Zeit jeder Form von institutioneller Rahmung eher skeptisch gegenüberstanden, wendet sich Rau also ganz bewusst den Institutionen zu: ihrer Notwendigkeit, ihrer Verantwortung und ihrem demokratischen Potenzial, aber auch ihrem gegenwärtigen Versagen. Zugleich entwickelt er in seinen Arbeiten mithilfe grenzüberschreitender Kooperationen die Grundlage für jene Institutionen, an denen es weiterhin mangelt, um die mannigfaltigen Verstrickungen, demokratischen Defizite und skandalösen Menschenrechtsverletzungen unserer heutigen Welt zuallererst in einer öffentlichen Arena sichtbar und in einem nächsten Schritt verhandelbar zu machen.

Damit ermöglichen Raus Arbeiten an der Schnittstelle von performativer und politischer Praxis genau jene Lern- und Gestaltungsprozesse, die im Austausch von zivilgesellschaftlichem, basisdemokratischem Engagement (wie ihn radikaldemokratische Ansätze stark machen) und den Wirkmöglichkeiten von etablierten Institutionen entstehen.

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