Anfang des 20. Jahrhunderts zählte Venezuela zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Mit der Ausbeutung des Öls erlebte es seit den 20er Jahren einen rasanten Aufschwung. Die aus der Studentenbewegung von 1928 hervorgegangenen Parteien sahen in dem »schwarzen Gold« die Möglichkeit zur Entwicklung. »Sembrar el petroleo« (Das Erdöl aussäen) hieß ein Essay, den sich die nach marxistischen Anfängen sozialdemokratisch ausgerichtete Partei Acción Democrática (AD) zu eigen machte. 1958 endete eine Militärdiktatur und es begann eine präsidentielle Demokratie, während der die AD und die christlich-soziale COPEI im Wechsel regierten. In den 60er und 70er Jahren nahm Venezuela Exilierte aus Diktaturen auf, u. a. die Schriftstellerin Isabel Allende. Mit der »Konferenz von Caracas« unter Beteiligung von Willy Brandt, Bruno Kreisky, Olaf Palme u. a. m. fand 1976 erstmals ein Treffen der Sozialistischen Internationale (SI) in der südlichen Hemisphäre statt.
2020 nähert sich die Situation wieder der vor 100 Jahren an. Bei der Ernährungslage liegt Venezuela hinter Haiti. Die Präsidentschaften des Ex-Militärs Hugo Chávez ab 1999 und nach seinem Tod 2013 von Nicolás Maduro zählen zu den autoritären Regimen. Rund fünf Millionen Venezolaner leben im Ausland, fast zwei Millionen im Nachbarland Kolumbien. Es handelt sich um die umfangreichste Auswanderung aus einem Land ohne Krieg oder Naturkatastrophen. Die Ölförderung, die bei Amtsantritt von Chávez bei 3,5 Millionen Barrel am Tag lag, sank auf 700.000. Die Raffineriekapazität betrug rund eine Million Barrel, mittlerweile erreicht sie gerade noch 10.000. Aufgrund von Misswirtschaft und des US-Embargos gegen die staatliche Ölfirma PDVSA war das Land im Mai/Juni 2020 auf iranische Benzinimporte angewiesen.
Wie konnte es dazu kommen? Zum einen erwies sich das Öl als schlecht wachsende Pflanze. Der Boom in den 70er Jahren unter AD-Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP genannt) und unter Chávez ab 2003 hatte negative Auswirkungen auf den produzierenden Bereich. CAP hatte in seiner ersten Regierungszeit nach der Verstaatlichung der Öl- und Eisenerzvorkommen 1975/76 durch den Ausbau von PDVSA, einem Stipendienprogramm und eine aktive Außenpolitik den Versuch unternommen, die Petrodollars zu nutzen. Die Korruptionsfälle seiner ersten Amtszeit verhinderten nicht, dass er 1988 erneut in der Erwartung gewählt wurde, die Zeiten des Booms mögen zurückkehren. Drei Wochen nach einer opulenten Einführungsfeier mit Fidel Castro und Felipe González verabschiedete CAP ein neoliberales Anpassungsprogramm, das eine Erhöhung der Benzinpreise zur Folge hatte und einen Volksaufruhr hervorrief. Der sogenannte Caracazo wurde vom Militär niedergeschlagen, nach offiziellen Angaben gab es 300 Tote, wahrscheinlich waren es wesentlich mehr.
Damit begann der Aufstieg von Chávez, der 1992 mit einem gescheiterten Staatsstreich gegen CAP die politische Bühne betrat. Er musste vorübergehend in Festungshaft, bereiste danach das Land und besuchte Kuba, woraus sich eine Art Vater-Sohn-Beziehung zu Castro ergab. Nach seinem deutlichen Wahlsieg 1998 resultierte daraus ein gewinnbringender Austausch: Chávez erhielt sozusagen revolutionäre Weihen, obwohl er durch freie Wahlen an die Macht gelangte. Auch Teile der Mittel- und Oberschichten hatten den Anti-Politiker gewählt. Kuba wiederum gewann nach dem Wegfall der Sowjetunion einen finanziellen Förderer.
Chávez Wahlerfolg basierte auf der Kritik der alten politischen Klasse und dem Versprechen einer Verfassungsgebenden Versammlung. Schon 1999 wurde eine Verfassung verabschiedet, in der die Parteien nicht mehr vorkommen und Venezuela in »Bolivarische Republik« umbenannt wurde. Die etablierten Schichten und die Gewerkschaften riefen zu Streiks und Demonstrationen auf, die 2002 in einem Staatsstreich kulminierten. Zwei Tage später war Chávez wieder im Amt, er ging sogar gestärkt daraus hervor. Im Zuge des enormen Ölpreisanstiegs und des sich zwischen 2003 und 2013 mehr als verdoppelnden Bruttoinlandsproduktes verteilte er Petrodollars über die sogenannten misiones, Programme zur Armutsbekämpfung, aber auch zur Festigung der Macht von Chávez. Ab 2005 sprach er vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, der zunächst mit einem Import- und Konsumboom einherging. Damit übernahm er die vakant gewordene Rolle eines linken Hoffnungsträgers.
Seine Ausstrahlung basierte neben seinem Charisma auf den finanziellen Mitteln. Die Hilfeleistungen für andere Länder waren erheblich, selbst Londoner Busse kamen 2007 durch verbilligtes Erdöl in den Genuss bolivarischer Subventionen. Chávez tauschte die alten Eliten im Außenamt aus und schmiedete neue internationale Bündnisse. Er unterstützte nationalistisch-antiimperialistisch auftretende Präsidentschaftskandidaten und gründete mit ALBA, der Bolivarischen Allianz für die Völker Amerikas, eine eigene Regionalorganisation. Die Kontakte zu den traditionellen Verbündeten USA und Kolumbien verschlechterten sich rapide, dagegen nahm die Zahl seiner Reisen nach Kuba, Libyen, dem Irak und Iran, Russland und China deutlich zu.
Die US-Regierungen, deren Interesse an Lateinamerika seit 9/11 abnahm, folgten lange Zeit der sogenannten Maisto-Doktrin: Man solle Chávez nicht nach dem beurteilen, was er verkündet, sondern anhand seiner Taten, so der ehemalige US-Botschafter in Caracas. Und bisher habe er stets Öl in die USA geliefert. Die kubanische Präsenz, vorübergehend sollen 40.000 Berater und Mediziner zur Abzahlung der Ölschulden im Lande gewesen sein, sowie die Kooperation mit China und Russland führten jedoch sowohl im republikanischen als auch im demokratischen Lager zur Beunruhigung. Zur Zuspitzung der politischen Lage trugen die Wahlen zur Nationalversammlung 2015 bei, bei der die Opposition die Mehrheit erringen konnte. Nachdem sich Maduro 2018 nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen zum Sieger proklamierte, nutzte der junge Politiker Juan Guaidó von der Voluntad Popular, Mitglied der SI, 2019 die turnusmäßige Wahl zum Vorsitzenden der Nationalversammlung, um sich mit einer gewagten Auslegung der Verfassung zum Interimspräsidenten zu erklären.
Guaidó erhielt schnell die Unterstützung der USA, von Pedro Sánchez, der in Spanien unter dem Druck der konservativen Opposition stand, der Bundesrepublik und über 50 meist westlicher Länder. 14 (latein-)amerikanische Länder haben sich in der Lima-Gruppe mit dem Ziel einer Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela zusammengefunden. Hauptziel dürfte eine Lösung des Migrationsproblems sein. Dies erklärt, warum etliche sogar mit dem von der Trump-Regierung betriebenen Ziel eines Regimewechsels einverstanden wären. Maduro wiederum hat die Unterstützung Russlands, Chinas, Kubas, Nicaraguas und vieler südlicher Staaten.
Anfangs besaß Guaidó mit seinem Versprechen von freien Wahlen, humanitärer Hilfe und einem Wechsel breite Akzeptanz. Seine Strategie und die der USA setzten auf eine Spaltung der Streitkräfte, bislang wechselten aber nur wenige Uniformierte die Seiten. Da von den bis zu 2.000 Generälen etliche an dem Import-Export-Geschäft beteiligt sind, müssten sie bei einer paktierten Transition irgendwie »berücksichtigt« werden. Die bolivarische Miliz, die colectivos, und die im Staatsapparat Beschäftigten halten nach wie vor zu Maduro, vor allem sie profitieren von der »Vaterlandskarte«, für die man Lebensmittel u. a. aus der Türkei erhält. Darüber hinaus müsste eine Exit-Option für die Maduro-Familie und den engeren Führungskreis gefunden werden, beide sind umfangreich. Zu Hause verlor der Interimspräsident an Bedeutung. Nachdem die angekündigten humanitären Lieferungen aus Kolumbien und ein theatralischer Rebellionsversuch scheiterten, setzten viele auf Abwanderung (exit) und weniger auf Opposition (voice), zumal einige der größten Demonstrationen der lateinamerikanischen Geschichte in den vergangenen Jahren erfolgslos blieben. Die Corona-Krise hat allerdings die Abwanderung gestoppt, 90.000 Venezolaner sind in den vergangenen Monaten aus und über Kolumbien zurückgekehrt.
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datanálisis vom Juni lehnt eine Mehrheit sowohl Maduro als auch Guaidó ab. Insofern trifft das Bild von einem »Gleichgewicht der Schwäche« (NZZ) zu, wobei Maduro als Machtinhaber am längeren Hebel sitzt. Seine »Verbündeten« muss er indessen mit Gold, Drogengeldern oder Verpfändung von Ölvorräten bezahlen. Von den durch das US-Embargo für Venezuela verlorengegangen Märkten profitiert anscheinend Russland. Guaidó wiederum hat einseitig auf internationale Unterstützung gesetzt, Regimewechsel beginnen jedoch im Innern. Er hat längere Auslandsreisen unternommen, indessen wächst die Skepsis. Laut den Erinnerungen von John Bolton hält Präsident Trump ihn für schwach. Bei seinem jüngsten Aufenthalt in Spanien wurde er nur von der Außenministerin empfangen, Sánchez sprach von ihm als dem Oppositionsführer.
Die Opposition bzw. 27 (!) Parteien haben sich schnell auf eine Nichtteilnahme an den vom Regime anberaumten Wahlen am 6. Dezember 2020 verständigt, nachdem Oppositionspolitiker ausgeschlossen und einige linke Parteienführungen vom Obersten Gericht abgesetzt wurden, eine verständliche Haltung. In der Vergangenheit hat sich Wahlboykott indessen nicht ausgezahlt, diesmal könnte Maduro versuchen, eine Art Blockparteiensystem zu inszenieren. Angesichts der massiven Abwanderung stellt sich die Frage, ob die aktiven Personen überhaupt in den Parteien sind bzw. ob sie ihre Zukunft noch in Venezuela sehen.
Unterdessen schreitet der Staatsverfall nach den harten Embargomaßnahmen und mit der Corona-Krise voran. In Teilen des Landes herrschen mafiaähnliche Strukturen mit häufigen Kontrollen und der Eintreibung von Wegezoll. Für die zuletzt von norwegischer Seite unternommenen Verhandlungen sind dies schlechte Voraussetzungen. Es fällt auf, dass sowohl von dem neokonservativen Venezuela-Beauftragten der US-Regierung Elliott Abrahams, aber mittlerweile auch von der eher progressiven venezolanischen Bischofskonferenz der Gedanke geäußert wurde, man müsse eine Lösung jenseits der »beiden« Präsidenten finden. Die verfahrene Situation erlaubt nur das ernüchternde Fazit, dass der Höhepunkt der Krise bzw. der Tiefpunkt für die Venezolaner noch bevorstehen.
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