Umberto Eco hat einmal die Kulturkritiker unterteilt: in Apokalyptiker und Integrierte. Die einen sehen furchtbar schwarz, die anderen wiegeln ab und finden, eigentlich fügten sich die derzeitigen Entwicklungen doch ganz passabel ineinander. Naturgemäß begegnet man diesen beiden Haltungen in der Frage, wie es mit der Gesellschaft weitergehen soll – zumal das anscheinend unbegrenzte Wachstum im Widerspruch zur Endlichkeit natürlicher Ressourcen steht. Erstere mahnen mit großem moralischen Impetus mehr Verzicht an. Anders die »funktionale« Deutung: Sie kocht das Drama auf kleiner Flamme und hält ein paar überschaubare Modifikationen für völlig ausreichend.
So ähnlich muss man wohl auch den Stand der Dinge hinsichtlich der Debatte über die »nachhaltige Stadt« beschreiben. Diese ist von inneren Widersprüchen geprägt, was sich an einem ihrer Evergreens illustrieren lässt – der Flächenfrage. Die Pro-Kopf-Wohnfläche hatte sich in Deutschland von zehn Quadratmetern (1900) auf ca. 20 in den 50er Jahren verdoppelt. Bis zum Jahr 2000 verdoppelte sich die Größe nochmals auf ca. 40 Quadratmeter. Und aktuell nimmt jede Person im Durchschnitt etwa 48 Quadratmeter Wohnfläche in Anspruch. Der Flächenverbrauch für Siedlungs- und Infrastrukturbau, der vor 20 Jahren bundesweit noch rund 120 Hektar pro Tag betrug, hat sich zwar auf aktuell 56 reduziert, doch das entspricht immer noch pro Jahr der Fläche Stuttgarts. Dieser Flächenverbrauch findet vornehmlich in den Metropolregionen statt – in den suburban strukturierten Siedlungsgebieten. Nun ist es zwar nachvollziehbar, dass dies angeprangert wird, zumal Grund und Boden ja eine wertvolle und nicht vermehrbare Ressource darstellt. Doch die Forderung nach festen Grenzen und staatlichen Vorgaben greift hier zu kurz. Zum einen würde dies die kommunale Planungshoheit und Selbstverwaltung aushebeln – immerhin ein hohes Gut im föderalen Funktionsgefüge. Zum anderen gibt es keinen exakten, in naturwissenschaftlichem Sinne messbaren Schwellenwert. Vielmehr handelt es sich um einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Und dieser findet natürlich unter ungleichen Ausgangsbedingungen statt: Den Flächenverbrauch auf 20 Hektar am Tag oder die Wohnfläche pro Kopf auf 30 Quadratmeter zurückzuführen heißt auch, diejenigen Ansprüche an den Raum, die bereits realisiert sind, gegenüber zukünftigen eindeutig zu bevorzugen. Mit welchem Recht?
Gleichwohl gibt es einige Wegzeichen, die urbanistisch hoffen lassen – etwa die Anpassung der Städte an den Klimawandel. Seit 20 Jahren sind weder Himmel noch Erde noch das, was sie zuvor gewesen waren. Das Klima, von Naturwissenschaft und Technik künstlich beeinflusst, greift unmittelbar auf das Lebensgefühl der Zeitgenossen durch. Holzschnittartig gesagt: Die Durchschnittstemperaturen steigen weiter; die sogenannten Starkregenereignisse nehmen zu und es wird, verstärkt noch durch die Bautätigkeit des Menschen, öfter zu Hochwasser, zumindest zu Überflutungen kommen. Klimakatastrophen häufen sich weltweit.
Exemplarisch seien hier zwei Aspekte adressiert, die namentlich in den Städten zu Buche schlagen. Zum einen die Hitzeperioden: In vielen Quartieren kühlt die Luft nachts nicht mehr ab. Während im Umland die Temperatur an einem sehr heißen Sommertag gegen Mitternacht auf, sagen wir, 18 Grad sinkt, verharrt sie in den dicht bebauten Innenstädten bei 28 Grad. Und dieses Problem verschärft sich, weil die Hitzewellen nicht mehr bloß zwei bis drei Tage dauern, sondern Wochen. Wenn es nachts während der Ruhephase heiß bleibt, fehlt die Erholung – und das kann vor allem für alte und kranke Menschen tödliche Folgen haben. Lösungsansätze dafür sind bekannt: mehr Grün, mehr Wasserflächen, Erhalt und Ausbau der Frischluftkorridore, um dem Aufheizen der Metropolen entgegenzuwirken und die kühle Luft aus dem Umland ins Urbane zu leiten. Doch das Freihalten von sogenannten Kaltluftschneisen, d. h. größeren zusammenhängenden Grünräumen, die sich weit in die Stadt hinein verzweigen, steht unter enormen Konkurrenzdruck durch andere Nutzungen (etwa dem Wohnungsbau).
Zum anderen der Extremregen: Diesbezüglich wird seit einiger Zeit das Konzept der sogenannten Schwammstadt (sponge city) breit diskutiert. Grundsätzlich gilt, dass das Wasser nicht mehr, wie früher, schnell in Rohre und Kanäle abgeleitet, sondern möglichst lange zurückgehalten werden sollte, um zu größeren Teilen als in der Vergangenheit üblich zu versickern oder zu verdunsten. Tiefbeete, Retention (z. B. durch abflussverzögernde Begrünung) auf dem Dach, dezentrale Mulden und Rigolen (unter der Geländeoberfläche installierte Regenwasserauffangbecken), durchlässige Befestigungen, Wasserspeicher und mechanische Drosselelemente können zusammen eine außerordentliche Wirkung erzeugen. Und Überschwemmungsflächen lassen sich so gestalten, dass sie die meiste Zeit als öffentliche Grünräume Aufenthaltsqualitäten bieten, etwa indem Uferbereiche terrassiert werden.
Es zeichnet sich immer mehr ab, dass das Ziel der Weltgemeinschaft, die Erwärmung auf maximal zwei Grad gegenüber dem postindustriellen Niveau zu begrenzen, nicht erreicht wird. Dennoch ist es wohlfeil, über eine fehlende Vision von klimagerechten und CO2-neutralen Städten zu lamentieren. Denn an Ideen, wie Städte dem Klimawandel begegnen können, mangelt es nicht – die Probleme liegen eher in der Umsetzung. Städte existieren, weshalb gewisse Gegebenheiten sich nicht so leicht ändern lassen; wie zum Beispiel die Kanalisation. Sie wurde zu Zeiten gebaut, als man noch nicht mit dem jetzt immer häufiger auftretenden Starkregen gerechnet hat. Deshalb läuft die Kanalisation bei starkem Regen in Deutschland auch häufig voll (und über).
Fraglos spielt künftig auch das Grün am und auf dem Gebäude eine wichtige Rolle: Begrünungen sorgen für Verdunstungskühlung und ausgleichende Luftbefeuchtung, binden Stäube und regulieren das Stadtklima. An den Fassaden entfaltet es eine hitzemildernde Wirkung, da die Abstrahlung einer Hauswand spürbar vermindert wird. Auf dem Dach wirkt es dem Wärmeinseleffekt entgegen und verhindert das Aufheizen von Gebäuden. Gleichzeitig verzögert es den oberirdischen Abfluss von Wasser. Dennoch ist »Grün« keine hinreichende Antwort auf die Frage, wie unsere Städte insgesamt resilienter gegenüber Klimarisiken werden. Einerseits geht es um die Akzeptanz von Ungewissheiten: Wir müssen klären, ob und inwieweit ein Risikomanagement auf einer solchen Basis geeignet ist, in der Praxis die Klimarisiken bzw. die Verwundbarkeiten an unseren Infrastruktursystemen zu begrenzen. Andererseits müssen wir uns mit einer besseren Verankerung von integrierten Klimaschutz- und Klimaanpassungsstrategien im »alltäglichen Handeln« beschäftigen: Nicht nur in der Regionalplanung oder der Stadtentwicklung, sondern auch bei den privaten Bauherren und Immobilieneigentümern. Und ganz dezidiert stellt sich die Frage nach einer sinnvollen Verzahnung der einzelnen Klimaschutzmaßnahmen (z. B. in den Fachplanungen, beim Technologieeinsatz), um tatsächlich Synergien nutzen zu können und bei Zielkonflikten – die es zuhauf gibt – frühzeitig Lösungswege zu finden.
Eine weitere Wegmarkierung stellt die sich intensivierende Diskussion um die Alltagsmobilität dar. Denn sucht man heute nach dem wirkmächtigsten Hebel, mit dem man Lebensqualität und Nachhaltigkeit in unseren Städten steigern kann, dann liegt dieser wohl im Stadt- und Regionalverkehr. Doch den entscheidenden Hinweis für die Zukunft der Mobilität gibt wohl kaum der neueste Prospekt eines Autoherstellers. Was jüngst im Dieselskandal kulminierte, ist Teil einer Umkehrung der viralen Erfolgsgeschichte des Pkw in einen gigantischen Problemberg der Moderne: Schadstoff- und Lärmemissionen machen die Stadtbewohner zunehmend krank. Hinzu kommt die durchaus verheerende Flächenbilanz der »autofreundlichen Stadt«, in der wir ein Drittel der Flächen zum Fahren und Abstellen »des Deutschen liebsten Kindes« hergegeben haben. Untersuchungen belegen, dass eine Pkw-Fahrt von zu Hause zur Arbeit 90‑mal mehr Raum beansprucht als dieselbe Fahrt mit Bus oder Straßenbahn, und beträchtlich mehr, als wenn ein Fahrrad benutzt worden wäre. Selbst in Kopenhagen, einer der Fahrradhauptstädte der Welt, sind 66 % des Straßenraumes den Autos vorbehalten, während nur 9 % der Fahrten mit diesem Verkehrsmittel unternommen werden.
Indes, wie kann man umschwenken? So wie das Pkw-Bashing besserwissender Experten wohlfeil ist und ohne große gesellschaftliche Kraftanstrengungen – und ohne eine andere Haltung zur Art des Unterwegsseins – wohl folgenlos bleiben wird, so klar sind auch Konflikte vorprogrammiert, wenn Vorteile und Begünstigungen des privaten Autos wie die oft noch kostenfreie Nutzung des öffentlichen Raumes zum Parken angetastet werden. Dabei handelt es sich um versteckte Subventionen, aber niemand verzichtet gerne auf liebgewordene Privilegien. Zudem ist es kurzfristig unmöglich, alle Autofahrer der alltäglichen Rush-Hour zusätzlich in die vorhandenen Busse und Bahnen zu quetschen.
Für eine gesellschaftlich getragene Transformation müssten alle Verkehrsteilnehmer erst einmal abrüsten. Und die Hoffnung, dass alsbald selbstfahrende Autos, Drohnentaxis und Hyperloops alle Mobilitätsprobleme lösen, ist trügerisch. Vorweg sollte man lieber über so etwas Banales wie Parkregeln und Radwege reden, weil eben das die »tiefhängenden Früchte« sind, die die Städte heute ernten können, um positive Resultate in näherer Zukunft zu erhalten. (Genau dies passiert ja derzeit in den meisten deutschen Städten.) In jedem Fall aber braucht es Konzepte, die das Miteinander der verschiedenen Mobilitätsformen – nicht das aggressive Ausstechen des jeweils anderen im alltäglichen Straßenkampf – in den Mittelpunkt rücken.
Wie weiter? Ob nun CO2-Problematik (»Postfossile Stadt«, Degrowth), Ressourcenfragen (Urban Mining, Recycling City), Partizipation (Reclaim the City) oder flächendeckende Datenerfassung und -auswertung (Smart City, E-Commerce): Viele grundlegende Entwicklungen und Herausforderungen, die die Städte – auch im Sinne der Nachhaltigkeit – prägen, können an dieser Stelle nicht vertieft werden. Gleichwohl lassen sich durchaus einige urbanistische Konsequenzen ableiten. Es geht letztlich weniger um ein idealtypisches »Neuerfinden«, sondern um angemessenes Verbessern, um das sinnfällige Ergänzen und gescheite Verdichten der bestehenden Städte. Urbanismus darf sich nicht auf ästhetisch motivierte Zukunftsbilder beschränken, sondern muss in weiten Bereichen ein flexibles Offenhalten und Spielräume für zukünftige Entwicklungen beinhalten.
Eben das wäre auch eine Konsequenz aus den Erfahrungen mit der COVID‑19-Pandemie. In Zeiten von Schließungen jeglicher Freizeitangebote und Kontaktsperren bekommt der Aufenthalt draußen und in der Natur allein oder zu zweit eine hohe Relevanz. Der grüne Fleck mitten in der Großstadt, sonst vor allem Hundeauslaufgebiet, ersetzt im Moment Sportstudio, Restaurantterrasse, Spielplatz und für manche bei schönem Wetter das Büro. Der öffentliche Freiraum ist ein Erlebnisort, der vielerlei Formen des Verhaltens ermöglicht – und darin offenbart sich auch eine gewisse »Krisentauglichkeit«. Und wenn es eine eindeutige Schlussfolgerung aus der Coronakrise gibt, dann die, dass die öffentliche Daseinsvorsorge keinem Effizienz-Dogma unterworfen werden darf. Daraus sind wiederum städtebaulich Konsequenzen zu ziehen. Wenn man Dichte als urbanes Konzept versteht, als wichtig für die soziale Struktur – weil Menschen sich miteinander auseinandersetzen müssen –, dann bedeutet das zugleich, dass man Plätze und Grünanlagen, dass man öffentliche Räume schafft. Und die bemessen sich weniger nach Quadratmetern denn nach ihrer Qualität, und die wiederum ist in vielen Stadtentwicklungsprojekten defizitär.
All das berührt die Frage nach der Rationalität planenden Handelns. Rekurriert man auf den Begriff des »prinzipiellen Irrtumsvorbehalts« (Johann Jessen), dann ist urbane Planung in dem Maße rational, wie sie Irrtümer und Fehler erlaubt, ihre Ergebnisse also auch wieder zurückgenommen werden können. Weil es keine exakten Wirkungsanalysen zum Klimawandel gibt, weil Nachhaltigkeit Notwendigkeit, Bedürfnis und Mythos in einem zu sein scheint, weil wir nicht alle Risiken und Verwundbarkeiten in unseren stadträumlichen Konstellationen kennen, brauchen wir strategische Ansätze, die im Zweifel revidierbar, also fehlerfreundlich sind. Und genau das sollten wir aus der vorherigen Debatte über die Atomtechnik eigentlich gelernt haben.
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