Die aktuellen, zum Teil noch nicht abgeschlossenen politischen Eruptionen in einer Reihe lateinamerikanischer Länder (Venezuela, Brasilien, Honduras, Guatemala, Peru, El Salvador, Chile, Kolumbien, Nicaragua u. a.) haben Schockwellen ausgelöst. Im Kontext anderer autoritärer und von Konfrontationen gekennzeichneter Entwicklungen ist die zuvor undenkbare Vorstellung bedauerlicherweise wieder auf der Tagesordnung, der Kontinent könnte schrittweise in ein neues Zeitalter der Diktaturen und autoritären Regime (die sich von denen der 60er Jahre allerdings unterscheiden) rutschen. Die vielfältigen negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie haben diese Hypothese noch untermauert.
Belege dafür ergeben sich aus dem autoritären Abgleiten mehrerer (rechter und linker, konservativer und fortschrittlicher) Regierungen sowie der zunehmenden Ermächtigung des Militärs und dem Auftreten paramilitärischer Kräfte als letztem Rückhalt abgewirtschafteter Regime. Polarisierende Angriffe unbeugsamer Oppositionskräfte, die weitverbreitete Korruption sowie die beschleunigte Rückkehr dessen, was Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts als »Demokratie niedriger Intensität« oder »defekte Demokratie« bezeichnet wurde, weisen in dieselbe Richtung. In einem Bericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) von 2004 heißt es zur Lage der Demokratie in Lateinamerika: »(...) auch in Regionen mit einem wirksamen Rechtssystem ist ihre Umsetzung von diskriminierenden Verzerrungen zu Lasten mehrerer Minderheiten, aber auch von Mehrheiten wie zum Beispiel Frauen, ethnischen Gruppen und Armen begleitet. Ein solches verkürztes Rechtssystem führt zur Herausbildung einer sogenannten Staatsbürgerschaft geringer Intensität.«
Luis Maira, linker ehemaliger Minister in Chile brachte Ende 2009 in der Nueva Sociedad aus der Perspektive des spezifisch südamerikanischen Fortschrittsdenkens seine Verwunderung über die »unzureichende Aufarbeitung« sowie das »begrenzte Verständnis« zum Ausdruck, das seiner Meinung nach die intellektuellen und regierenden Eliten Südamerikas hinsichtlich der Größenordnung und der Folgen der globalen Krise von 2008 an den Tag gelegt hatten. Maira unterstrich zunächst die äußerst einflussreiche Rolle neokonservativer Think-Tanks beim Aufstieg rechter politischer Kräfte in den vergangenen Jahrzehnten, um danach darauf aufmerksam zu machen, dass auf der Gegenseite nichts Vergleichbares geschehen war, was seiner Ansicht nach im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Rückkehr zu »einer post-neokonservativen Phase in der Region« sehr wichtig wäre. Nachdem er zunächst die bekannte Auffassung Immanuel Wallersteins zitiert, wonach die Regierung Barack Obamas paradoxerweise dem »Moment der Vergeltung von rechts« gedient haben könnte, verweist er darauf, dass das fehlende strategische Denken linker Regierungen und Parteien, die den politischen Wandel der vergangenen Jahre auf dem südamerikanischen Subkontinent vorangetrieben haben, unter Umständen einen möglichen »Pendeleffekt« begünstigt haben. »Dabei stellt sich die Frage«, schließt Maira, »ob uns noch genügend Zeit bleibt, um die Fehler bei der Charakterisierung der Krise zu korrigieren und die politische Initiative zurückzugewinnen (…).«
Knapp ein Jahrzehnt später gewinnen seine damaligen Hinweise fast prophetischen Charakter. Trotz der unverkennbaren Erfolge, die die fortschrittlichen Kräfte u. a. auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Umverteilung und der Sozialpolitik vorzuweisen haben, begnügten sie sich auf anderen wesentlichen Politikfeldern mit weniger anspruchsvollen Konzepten, etwa bei politischen Reformen in Richtung einer effektiven Vertiefung der Demokratie, bei der Suche nach Alternativen für die internationale Integration der Region oder bei der Formulierung einer Entwicklungsalternative, die ökologische Nachhaltigkeit mit Änderungen der Produktions- und Exportstruktur und sozialer Gerechtigkeit verbindet.
Es gibt zudem Hinweise, dass der derzeitige Rechtsruck über einen »normalen« politischen Wechsel, wie er in jeder Demokratie üblich ist, hinausgeht. Einige der vielen extremistischen Vorschläge scheinen auf die Zerstörung des Erbes des »fortschrittlichen Zyklus« und die Konsolidierung von Regimen zu setzen, die mit der Geschichte brechen und dabei das neokonservative Profil einer harten Rechten von sehr zweifelhafter demokratischer Glaubwürdigkeit haben. Auch hier stellt sich die Frage, ob es die fortschrittlichen Regierungen während des »rosaroten Jahrzehnts« nicht versäumt haben, zu grundsätzlichen Fragen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels Konzepte zu entwickeln, und ob sie nicht dadurch die heutige Wende befördert haben.
Konsolidierung der Transformation
Für den Weg, wie eine partizipative Demokratie gestaltet werden könnte, die die klassische repräsentative Demokratie ersetzen würde, gibt es neben einigen vereinfachenden Vorschlägen, die sich in dem – häufig rhetorischen – Ruf nach erweiterten Mitwirkungsmöglichkeiten erschöpfen, auch grundsätzliche Forderungen nach einer neuen demokratischen Führung für die linken und fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas. Eine partizipativere Demokratie kann nämlich nicht dadurch erreicht werden, indem nahestehende Aktivisten und Gruppen gestärkt (und kooptiert) werden. Ebenso wenig lässt sie sich auf dem Weg zunehmender plebiszitärer Entscheidungen (die häufig manipuliert und bei negativen Ergebnissen sogar missachtet werden) oder der drohenden Ausschaltung der repräsentativen Entscheidungsräume errichten. Noch weniger geeignet wäre der Versuch, eine »kommunalistische« Entscheidungslogik durchzusetzen, die dem Grundsatz der Volkssouveränität widerspricht. Alle Formen autoritärer und ausschließlicher Machtausübung, wie wir sie in den vergangenen 15 Jahren erlebt haben, stehen trotz größerer Verteilungsgerechtigkeit letztlich der Konsolidierung der Transformationen im Weg, wenn sie keine strukturellen Veränderungen einschließlich institutioneller Reformen zur Vertiefung der Demokratie und zum Abschluss von Vereinbarungen mit den Gegnern zum Ziel haben.
In mehreren Ländern der sogenannten »bolivarischen« Gruppe (u. a. Venezuela, Ecuador, Bolivien und Nicaragua) bezog der Amtsantritt fortschrittlicher Regierungen nach den »eingeschränkten Demokratien« der 90er Jahre seine Legitimität unter anderem aus der Ankündigung grundsätzlicher Verfassungsreformen mit starken Veränderungen gegenüber dem bestehenden institutionellen Gefüge, die in einigen Aspekten den Charakter eines Bruchs annehmen.
Diesen Veränderungen lagen zwar mehrere konvergierende Elemente zugrunde (unter anderem die Institutionalisierung einer »in einer Person verkörperten Führung« durch die Stärkung des Präsidialsystems, der in einigen Fällen erfolgte Übergang zur unbegrenzten direkten Wiederwahl und die Einführung von Partizipationsmechanismen), doch die in der Verfassung verankerten Lösungen deckten sich nicht mit der daraus folgenden Praxis. Wenn man einmal beiseite lässt, dass sämtliche linken und fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas immer wieder als »populistisch« bezeichnet werden, in der Regel um sie damit zu stigmatisieren, lassen sich selbst zwischen den auf eine Neuordnung ausgerichteten Regimen Differenzen beobachten. Deshalb ist es ein Irrtum zu glauben, man könne die »partizipative, protagonische Demokratie« des »Chavismus« und vor allem des »Madurismus«, den »Plurinationalen Staat« Bolivien von Evo Morales, in dem alle anerkannten indigenen Völker dieselben Rechte haben sollen wie die übrigen Bürger, und die »Bürgerrevolution« von Rafael Correa in Ecuador, die von seinem Nachfolger Lenín Moreno abgebrochen wurde, unter einem Dach zusammenfassen.
Demokratiedefizite
Unabhängig von ihren Unterschieden weisen alle genannten Projekte unverkennbare »Demokratiedefizite« auf: u. a. Probleme bei der Regelung der Nachfolge und die Herausbildung einer »in einer Person verkörperten Führung« (wobei die Projekte mit Führern identifiziert werden, die messianische Züge aufweisen); Aushöhlung wesentlicher demokratischer Grundsätze wie der »Volkssouveränität« und auf Manipulation und Willkür beruhende Beseitigung von Restriktionen, die die Machtkonzentration beschränken; Beseitigung der Autonomie und unter Umständen sogar der Unabhängigkeit von zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Akteuren; häufige Konflikte mit der Judikativen; Ermächtigung des Militärs und Stärkung paramilitärischer Einheiten – auf gesetzlichem Weg oder jenseits der Legalität –, die als die letzten Garanten für die Kontinuität der von zivilen Akteuren und Militärs gebildeten Regime dargestellt werden; anhaltende Entlegitimierung von oppositionellen Parteien und Bewegungen und Verweigerung ihrer Anerkennung als vollwertige Gesprächspartner.
Das Problem der Demokratiedefizite betraf allerdings auch andere traditionell linke oder fortschrittliche, nationalpopulär ausgerichtete Regierungen. Als Phänomen kontinentalen Ausmaßes zog sich die Korruption quer durch die politischen Systeme, insbesondere in Brasilien und Argentinien, wo sie zum Beispiel die Arbeiterpartei und den Kirchnerismus betraf. Unabhängig von den erfolgten und immer noch stattfindenden Übergriffen und Verfolgungen durch die Justiz gibt es überzeugende und belegte Erkenntnisse, die das Vorliegen schwerwiegender Korruptionsvorgänge beweisen. Das belegt einmal mehr die alte Weisheit, dass »Korruption weder links noch rechts ist«, es bestätigt aber auch, dass sie für die Linke stets mit weitaus zerstörerischen und langwierigeren Auswirkungen auf ihre politische Legitimierung verbunden ist.
In Brasilien gelangen den Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff keine Fortschritte bei der Reform des politischen Systems, die ganz offensichtlich unverzichtbar sind, um angesichts der allgemeinen Fragmentierung des Parteiensystems und der Existenz von eindeutig gegensätzlichen parteienübergreifenden Fraktionen (wie z. B. die »Großgrundbesitzerfraktion« und die »evangelikale Fraktion«) die Regierbarkeit nachhaltig zu gestalten und damit aufrecht zu erhalten.
In Chile ist unabhängig von der Bilanz der drei großen Reformvorhaben der zweiten Regierung Michelle Bachelet (Verfassungs-, Bildungs- und Steuerreform) festzuhalten, dass die letzte Regierung der »Nueva Mayoría« zur Spaltung der chilenischen Linken und zu dem führte, was Joaquín Brunner sehr eloquent als das »Ende einer Illusion« bezeichnete.
In Nicaragua droht das Abgleiten des »Ortega-Murillo-Regimes« mit seiner neoliberalen Politik und staatsterroristischen Praktiken gegen seine Gegner das Erbe der Sandinistischen Revolution von 1979 auszulöschen.
In El Salvador bedeutet der spektakuläre Aufstieg des neuen Präsidenten Nayib Bukele, der aus den Reihen der linken Partei FMLN (vormals eine marxistisch orientierte Guerillabewegung) hervorgegangen war, dann jedoch eine neue, dem Gedankengut der neuen Rechten nahestehende Partei bildete, einen Bruch mit dem über drei Jahrzehnte durchgängigen Zweiparteiensystem (bipartidismo). Auch in Uruguay, das häufig als eine »Ausnahme« unter den fortschrittlichen Regierungen dargestellt wird, ist die Wahlniederlage der Frente Amplio 2019 unter anderem auf eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit ihrer dritten Regierungsperiode zurückzuführen.
Verstärkt durch die neue, extremistische Außenpolitik der Regierung Trump mit ihrem zwanghaften Bestreben, die »dreifache Tyrannei« (in Kuba, Nicaragua und Venezuela) zu stürzen, trägt die katastrophale Lage Venezuelas – deren weitere Entwicklung auch zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels ungewiss war – noch zusätzlich dazu bei, die bisherige Bilanz, aber auch die kurz- und mittelfristigen Herausforderungen für die Linke und die lateinamerikanischen fortschrittlichen Bewegungen noch dramatischer werden zu lassen. Hinzu kommen jetzt noch die äußerst schwerwiegenden negativen Auswirkungen, die die Pandemie in mehrfacher Hinsicht haben wird, und deren Epizentrum zurzeit in Lateinamerika liegt.
Die Veränderungen der Demokratie in Lateinamerika, die sich im Rahmen globaler Prozesse vollziehen, dabei jedoch regionale Besonderheiten aufweisen, stellen heute neue, zum Teil auch radikale Herausforderungen mit ungewissem Ausgang dar. Durch die Aushöhlung demokratischer Überzeugungen, den Verzicht auf Ethik als Grundprinzip ihrer Identität und die internationale Rückendeckung für diktatorische Regime könnten die linken und fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas ihre im Einsatz für die sozialen Kämpfe der Bevölkerung und gegen die staatsterroristischen Diktaturen über Jahrzehnte hart erworbene Legitimität verlieren. Wie bereits beschrieben, wird die Demokratiefrage erneut zu einem zentralen Anliegen, und das Vorgehen angesichts einer dramatischen Situation wie im heutigen Venezuela kann die Zukunft der Linken auf dem Kontinent über Jahre belasten. Und dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem eine unbestritten demokratische Führung ohne Behinderungen, ohne Relativierungen und doppelte Moral nötig ist; zu einem Zeitpunkt also, an dem auf dem Kontinent genau dies wieder auf dem Spiel steht: die politische und soziale Demokratie als Grundlage des Zusammenlebens und der Vertiefung bestehender Rechte, der Grundfreiheiten und der Gleichheit, insbesondere für die Ärmsten einer Region mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit.
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