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picture alliance / Wolfram Steinberg | Wolfram Steinberg

Der Druck von Rechts nimmt zu Verdrehte Wahrheiten, angezweifelte Wahlen

Eine demokratisch verfasste Gesellschaft verlangt ihren Mitgliedern Offenheit, Toleranz und gegenseitige Achtung ab. Denn anders als in autoritären Systemen beruht sie auf dem Streit der Argumente, der Möglichkeit zur Kritik und dem zivilen Austragen politischer Dispute. Regierungen müssen sich dem Urteil der Bürger/innen stellen – turnusmäßig in Wahlen, tagtäglich in der (medialen) Öffentlichkeit. Zugleich geht das demokratische Prinzip über die Politik hinaus: Der Anspruch der Partizipation, verstanden als Mitwirken an der Entscheidungsfindung und als Teilhabe an den Früchten gemeinsamer Anstrengungen, wirkt als Ideal in das gesellschaftliche Zusammenleben hinein. Trotz fester institutioneller Strukturen, in Deutschland abgesichert durch das Grundgesetz, ist der demokratische Konsens aber zerbrechlich.

Damit das parlamentarische Regierungssystem nicht zu einer leeren Hülle verkommt, müssen die Grundzüge von Freiheit und Gleichheit, von Repräsentation und Partizipation stets aufs Neue anerkannt und verwirklicht werden. Ein Blick auf den Zustand der Demokratie ist jedoch angesichts der aktuellen Stärke rechter und rechtspopulistischer Kräfte ernüchternd: Bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen erreichte der erstmals 2018 gewählte Jair Bolsonaro jüngst die Stichwahl, aus den Parlamentswahlen in Italien ging die postfaschistische Partei »Brüder Italiens« als stärkste Kraft hervor. Bereits mehrfach zog Marine Le Pen in Frankreich in die letzte Runde der Präsidentschaftswahlen ein – so auch in diesem Frühjahr.

Der schillernde Populismusbegriff brachte in den letzten Jahren zahlreiche Versuche hervor, ihn definitorisch zu fassen. Als gemeinsamer Kern der weitstreuenden Konzepte schält sich der immer wieder von Populistinnen und Populisten betonte Antagonismus von »Volk« und Elite heraus. Der Rechtspopulismus treibt die gesellschaftliche Spaltung gleich doppelt voran: Auf der vertikalen Ebene scheidet er ein konstruiertes »Volk« von einer vermeintlich korrupten Elite. Die Opposition gegen die politische Elite verlässt dabei den Boden einer in Demokratien gewollten kritischen Haltung gegenüber Regierenden. Vielmehr schüren populistische Parteien tiefes Misstrauen in Politikerinnen und Politiker und leisten Politikverdrossenheit Vorschub.

Auf der horizontalen Ebene neigt der Rechtspopulismus einer ethnischen Fundierung des »Volkes« zu, was der fundamentalen Offenheit des demos widerspricht und Feindbilddenken begünstigt. In einer übersteigerten und verdrehten Vorstellung von Volkssouveränität argumentieren populistische Kräfte gegen die komplexen Verfahren der politischen Entscheidungsfindung parlamentarischer Demokratien.

Rütteln an Institutionen

Als Herrschaft der Vielen hegt die Demokratie als Regierungssystem den Anspruch, die Bürgerinnen und Bürger an Verfahren der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Hierzu gehören Proteste ebenso wie innovative Formate der Bürgerbeteiligung, etwa Bürgerhaushalte, aber auch formalisierte und turnusmäßige Wahlen. Die Gewissheit friedlicher Regierungswechsel durch Abstimmungen erhielt jedoch am 6. Januar 2021 Risse, als Anhängerinnen und Anhänger des damals noch amtierenden, aber nicht im Amt bestätigten Präsidenten der USA, Donald Trump, gewaltvoll ins Kapitol eindrangen. Das Ereignis ist auch als Verdichtung des bereits Wochen zuvor wabernden Gerüchts einer »geklauten« Wahl im Falle einer Niederlage Trumps zu deuten.

Der Schaden für die Demokratie geht dabei über diese Ereignisse hinaus, erodiert doch allein das Gerücht das Vertrauen in ein Verfahren, ohne das die bevölkerungsstarken liberalen Demokratien nicht auskommen können. Wie stark derartige Diskurse nationale Grenzen überschreiten, belegt der Wahlkampf im Vorfeld der Wahlen in Brasilien 2022. So schürte Bolsonaro als amtierender Präsident – wie paradox! – Argwohn gegen das elektronische Wahlsystem des Landes. Die Mutmaßungen über Sicherheitslücken etablierten die Dichotomie einer durch Bolsonaro gewonnenen oder ungültigen Wahl. In den USA wie in Brasilien drohten Wahlverfahren und -ergebnisse zur Interpretationssache rechtspopulistischer Protagonisten zu verkommen.

Trump und Bolsonaro profitierten dabei von der mehr oder weniger ungefilterten Kommunikation mit ihren Unterstützerinnen und Unterstützern. Hatte sich Trump zumindest in einem geregelten Verfahren in der Republikanischen Partei als Kandidat für die Wahlen 2016 durchgesetzt, gelang Bolsonaro das Erreichen des Präsidentschaftsamtes 2018 ohne großen institutionellen Rückhalt. Zwar profitierte er von der Inhaftierung des populären ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (Lula), der aufgrund einer inzwischen ausgesetzten Haftstrafe wegen Korruptionsvorwürfen nicht kandidieren konnte. Die Wählerinnen und Wähler aber mobilisierte Bolsonaro ohne institutionellen Rückenwind in erster Linie über die sozialen Medien, durch den direkten und regen Austausch mit seinen Followern, Authentizität suggerierend und Emotionen schürend.

Die Taktung von Nachrichten und politischen Entscheidungen in der vordigitalen Zeit erscheint geradezu träge – zuvorderst dann, wenn sie mit hastigen und schwallartigen Twitter-Tiraden kontrastiert wird. Freilich, die sozialen Medien weiten den politischen Raum. Das Hoffen auf eine inklusive, pulsierende digitale Demokratie lief jedoch in der Praxis ins Leere. Wen wundern noch die zahllosen Falschmeldungen, etwa über vermeintlich geschlossene Supermärkte in Pandemiezeiten, wenn die journalistische Barriere und die Zeit zur Überprüfung von Meldungen fehlt?

Ein nostalgischer Rückblick in die vordigitale Zeit verbietet sich dennoch: Lügen in der Politik sind kein neues Phänomen. Bereits Ende der 60er Jahre erregte Hannah Arendt mit ihren Aufsätzen über Wahrheit und Lüge Aufsehen: Politik braucht Debatte und Austausch, sie ist per se kontingent und daher verhandelbar. Was aber wahr ist, kann nicht das Ergebnis des politischen Streits sein. Wahrheit entzieht sich somit der Politik. Arendt verdeutlicht ihre Position mit der von Leibniz inspirierten Unterscheidung in Tatsachenwahrheiten (etwa historische Fakten oder Statistiken) und Vernunftwahrheiten (zum Beispiel mathematische Gesetze). Tatsachenwahrheiten sind für sie ungleich gefährdeter: Sind sie einmal verdreht oder vergessen, lassen sie sich nicht wiederherstellen.

In der Präsidentschaft Donald Trumps erodierte das Verhältnis von Wahrheit und Politik gleich doppelt: Einerseits log er über schlichte Tatsachen, andererseits brandmarkte er Richtigstellungen und Gegenargumente als »Fake News«, sich zum Richter über Wahrheit und Lüge erhebend. Gerade in Zeiten der Coronapandemie offenbarte sich die Distanz zwischen Wahrheit, empirischen Erkenntnissen und dem US-Präsident, dessen alternative Behandlungsmöglichkeiten einer Coronaerkrankung teils nicht nur ohne wissenschaftliche Evidenz, sondern auch gesundheitsgefährdend waren. Auch der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro verschloss sich der pandemischen Wirklichkeit. Sowohl in den USA als auch in Brasilien fehlten weitgehende Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, was enorme Fall- und Todeszahlen nach sich zog.

Mit Trump und Bolsonaro fachten zwei im Amt stehende Präsidenten den rechtspopulistischen Diskurs an. Was zunächst widersprüchlich erscheint – immerhin gehören Präsidenten qua Amt zur von Populisten sonst abgewerteten politischen Elite – ist auch in den Demokratien in Europa zu beobachten. Das Etikettieren von Rechtspopulismus als Protestphänomen ist jedenfalls zu kurz gegriffen. So steht etwa mit Viktor Orbán in Ungarn seit Jahren ein Politiker des rechtspopulistischen Spektrums in Regierungsverantwortung. Die Ausrichtung der populistischen Bewegungen und Parteien auf eine – meist – charismatische Person dient dabei der Reduktion von Unsicherheit und dem Aufbau einer klaren Identifikationsfigur. Der Niederländer Geert Wilders trieb dies auf die Spitze: Er blieb das einzige Mitglied seiner Partij voor de Vrijheid – in Deutschland aufgrund der Verpflichtung von Parteien zu innerparteilicher Demokratie eine Unmöglichkeit.

Die prominenten Kandidatinnen und Kandidaten einer rechtspopulistischen Partei müssen nicht unbedingt männlich sein, wie Marine Le Pen in Frankreich bereits seit einigen Jahren beweist. In direkter Nachfolge ihres Vaters – von dem sie sich zwischenzeitlich in einer öffentlichen Familienfehde distanziert hat – zielt Le Pen dabei auf das französische Präsidentenamt. Die hierbei verfolgte Strategie der dédiabolisation (Entteufelung) soll die Partei dabei für eine Mehrheit in Frankreich anschlussfähig machen. Einher ging hiermit die Umbenennung der Partei vom militarisierten »Front National« (FN, Nationale Front) hin zum weicherklingenden »Rassemblement National« (RN, Nationale Versammlung) im Jahr 2018. Sowohl 2018 als auch 2022 erreichte Le Pen die letzte Runde der Präsidentschaftswahlen.

Auch an der Spitze der postfaschistischen Fratelli d’Italia steht mit Giorgia Meloni eine Frau. Der ehemaligen Jugendministerin im vierten Kabinett Silvio Berlusconis (2008 bis 2011) gelang es, die zuvor kleine Splitterpartei erstmals bei den Kommunalwahlen im Juni 2022 in der Wählergunst zu steigern. Dies gab ihr Rückenwind im kurzen Wahlkampf vor den vorgezogenen Parlamentswahlen im September 2022, in dem sie für eine Koalition mit Matteo Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia warb. Ihre Kampagne unter den Schlagworten »Gott, Familie, Vaterland« verfing in der Wählerschaft: Meloni steigerte das Wahlergebnis ihrer Partei im Vergleich zu 2018 um mehr als das Sechsfache und ihr Rechtsbündnis erreichte die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments.

Verantwortung von Parteien und Gesellschaft

Rechtspopulistische Kräfte fordern demokratische Gesellschaften heraus: über das Säen von Zweifel an zentralen Institutionen der Demokratie, etwa Wahlen, über Lügen im Amt, das Abkanzeln empirischer Tatsachen als »Fake News« oder das Tilgen von Komplexität zugunsten simplifizierter Lösungen. Die Spaltung der Gesellschaft durch rechtspopulistische Kräfte macht nicht an der Trennung von »Volk« und »Elite« Halt, sondern sie erodiert gemeinsame Öffentlichkeiten und kreiert Räume des Gegenwissens. Tatsachenwahrheiten – etwa Wahlergebnisse – geraten zur Auslegungssache. Dem Argwohn gegen Wahlen entgegenzuwirken, ist vor allem dann schwierig, wenn das Misstrauen nicht nur die politische Elite, sondern auch den gesamten Staatsapparat trifft. Der Beweis eines nicht vorliegenden Fehlers ist darüber hinaus ungleich schwerer als das Offenlegen von Unregelmäßigkeiten.

Das Amalgam aus geschürtem Misstrauen in die politische Elite, dem Antasten von Tatsachenwahrheiten und dem gestreuten Argwohn gegenüber Wahlen erweist sich als Herausforderung für die Demokratie durch rechtspopulistische Diskurse auch jenseits konkreter Regierungsbeteiligungen. Denn selbst wenn Kandidatinnen und Kandidaten die direkte Wiederwahl verfehlen – wie Donald Trump – oder in der Endrunde der Wahlen scheitern – wie Marine Le Pen –, dominieren sie doch die Diskurse vor den jeweiligen Wahlterminen. Dies bestätigte sich auch in Italien und Brasilien in diesem Herbst sowie im Vorfeld der wichtigen Midterm-Wahlen in den USA, bei denen Trump Kandidatinnen und Kandidaten der Republikanischen Partei unterstützte.

Ist eine Wiederwahl Donald Trumps wahrscheinlich? In erster Linie hängt dies vom Verhalten der Republikanischen Partei ab. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt folgend tragen die Parteien bei der Auswahl ihrer Kandidatinnen und Kandidaten Verantwortung: Im politischen System der USA ist eine Kandidatur ohne Unterstützung einer der beiden großen Parteien beinahe aussichtslos. In parlamentarischen Regierungssystemen mit Verhältniswahlrecht haben hingegen Ein-Parteien-Regierungen Seltenheitswert. Ein cordon sanitaire der übrigen parlamentarischen Kräfte kann die Regierungsbeteiligung von rechtspopulistischen Parteien verhindern.

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