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AfghanischeVolleyballspielerin © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ebrahim Noroozi

Frauenrechte nach der Machtübernahme der Taliban Vergesst Afghanistan nicht

Die Taliban sind nicht in der Lage Afghanistan wirtschaftlich zu stabilisieren, die internationalen Sanktionen treffen primär die Bevölkerung. Um internationaler Verantwortung gerecht zu werden, braucht es einen Paradigmenwechsel in der aktuellen Afghanistan-Politik und es braucht eine Änderung des Sanktionsregimes.

In ihren ersten Pressekonferenzen nach dem Fall von Kabul stellten sich die Taliban noch als vermeintlich reformwillig dar – oder versuchten dies zumindest glauben zu machen. In Übereinstimmung mit der Scharia, so postulierten sie, sollten Mädchen und Frauen ihr Leben weiter frei leben können. Was dies konkret bedeute, das wolle man noch genauer definieren. Dass diese Äußerungen offenkundig nur dazu dienten, die Welt zu täuschen und nichts mit der sich rasch etablierenden, neuen Realität im Land zu tun haben sollten, zeigte sich in den darauffolgenden Wochen und Monaten durch Worte und Taten der neuen Machthaber.

Unverzüglich wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Mädchen und Jungen getrennt voneinander unterrichtet werden und die Erwerbsarbeit von Frauen und Männern ebenfalls getrennt erfolgt. Die Ausstrahlung von Fernsehsendungen mit weiblichen Hauptrollen ist seit November 2021 untersagt. Seit Dezember 2021 dürfen Frauen nicht mehr reisen, sofern sie sich nicht in männlicher Begleitung befinden und eine Wegstrecke von mehr als 72 Kilometern zurücklegen wollen. Dies gilt auch, wenn sie beabsichtigen die Landesgrenze zu überqueren.

Zudem wurden Taxifahrer angehalten, Frauen nur dann mitzunehmen, wenn sie den Hidschab tragen. Seit Januar 2022 wird seitens der offiziellen Machthaber kampagnenartig darauf hingewiesen, dass sich Frauen in der Öffentlichkeit verschleiern sollten. Handelte es sich Anfang desselben Jahres »nur« um eine Empfehlung – zweifelsfrei bereits mit restriktivem Charakter – so sind Frauen seit Mai 2022 auch offiziell dazu verpflichtet, in der Öffentlichkeit den Hidschab zu tragen.

Was konkret darunter zu verstehen ist, blieb bisher allerdings undefiniert. Im Verständnis der Taliban handelt es sich zumeist eben nicht nur um das Kopftuch. In ihrer Auslegung des Koran besteht Wesen und Sinn des Hidschab darin, dass lediglich die Augen und gegebenenfalls ein Teil der Stirnpartie unverhüllt bleiben dürfen. Die »angemessenste« Verschleierung sei ohnehin diejenige des gesamten Körpers, postulierten die neuen Machthaber zeitgleich. Darüber hinaus wurden im März 2022 die weiterführenden Schulen für Mädchen landesweit – nur wenige Stunden nach ihrer Wiedereröffnung – erneut und dauerhaft geschlossen. Das grundlegende Recht auf Bildung wurde ihnen abermals genommen.

Afghanistan verliert sein weibliches Gesicht

Die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Leben ist ein bewusst vorangetriebener Prozess. Und die Aussagen der Taliban, man wolle Frauenrechte wahren, sind wenig glaubwürdig. Zwar gibt es auch innerhalb der Taliban moderatere Kräfte, allerdings setzen sich bisher in der tatsächlichen Politik stets die radikaleren Gruppen durch. Ein wesentliches Indiz – neben den immer stärker fortschreitenden offiziellen Einschränkungen in Form von Ver- und Geboten sowie dem noch stärkeren informellen Druck staatlicherseits, welcher zunehmend zu weiteren Selbsteinschränkungen der Frauen in Afghanistan führt – sind die Ergebnisse, oder vielmehr Nicht-Ergebnisse, der »Großen Ulema-Versammlung« im Juli 2022.

Dieses von den Taliban einberufene, landesweite Treffen von Religionsgelehrten und Stammesvertreten hätte die religiöse Autorität besitzen können, eine religionsfundierte Lösung hinsichtlich der Frage aufzuzeigen, was Frauen- und Menschenrechte im Kontext der Scharia in Afghanistan und für die Taliban konkret bedeuten. Stattdessen wurde das Thema offenkundig nicht weiter vertieft, Antworten wurden nicht gegeben.

Frauen und Mädchen sind im doppelten Sinne die Leidtragenden der Taliban-Machtübernahme. Auf der einen Seite werden sie einer zunehmenden gesellschaftlichen Ausgrenzung ausgesetzt, können nicht mehr uneingeschränkt arbeiten gehen und sind inzwischen von Bildung ausgeschlossen. Auf der anderen Seite tragen sie in besonderem Maße die Auswirkungen der desolaten ökonomischen Situation im Land.

In den meisten Haushalten sank das Einkommen seit der Machtübernahme deutlich, mindestens zeitweilig gab es in vielen Familien nicht mehr genug zu essen – die Existenzen zahlloser Gemeinschaften sind akut bedroht. Afghanistan verliert sein weibliches Gesicht und das in Anbetracht immer größer werdender Herausforderungen für die afghanischen Frauen.

Katastrophale humanitäre Situation

Die humanitäre Situation in Afghanistan ist zudem katastrophal. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren im Jahr 2022 bis zu 97 Prozent der Menschen von Armut bedroht. Aus eigener Kraft werden die neuen Machthaber diese Herausforderung nicht bewältigen können. Menschlich ist das schrecklich und für die internationale Gemeinschaft ein Dilemma. Die direkte Verteilung von humanitärer Hilfe durch die Vereinten Nationen und NGOs vor Ort kann kurzfristig ein Stück weit Abhilfe schaffen. Sie ist aber keinesfalls ausreichend.

Verständlicherweise soll das Regime der Taliban nicht durch offizielle diplomatische Beziehungen legitimiert werden. Auf der anderen Seite braucht es die neuen Autoritäten, um mögliche Hilfen zielgerichtet zur Verfügung zu stellen. Die Nichtanerkennung der De-facto-Machthaber war eine politisch notwendige Maßnahme. Doch sollte anderthalb Jahre nach der gewaltsamen Machtübernahme darüber nachgedacht werden, ob die internationale Diplomatie nicht auch einen anderen Mechanismus definieren könnte, welcher einerseits die Machtübernahme weiterhin deutlich verurteilt, aber andererseits auch offizielle Verhandlungs- und Abstimmungsfähigkeit mit dem Regime ermöglicht.

Die Kritik an Menschenrechtsverletzungen, dem Weltbild und Machtmissbrauch der Taliban muss fortgesetzt deutlich artikuliert werden, gleichwohl sind offizielle diplomatische Kanäle nötig; informelle Kanäle werden vor allem über das Taliban-Verbindungsbüros in Doha gepflegt. Die Wiedereröffnung einer deutschen Vertretung in Kabul in Abwesenheit offizieller diplomatischer Beziehungen bleibt von der Sicherheitslage und den weiteren politischen Entwicklungen abhängig.

Darüber hinaus bedarf es einer umfassenden Diskussion hinsichtlich des aktuellen Sanktionsregimes. Ähnlich der Anerkennungs- beziehungsweise vielmehr Dialogfrage erscheint es sehr verständlich, dass nach der Machtübernahme der Taliban finanzielle Mittel in Milliardenhöhe eingefroren wurden. Doch die Befürworter dieser Maßnahmen – allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika – müssen sich fragen lassen, ob sie mit jenem Handeln nicht auch zur desolaten wirtschaftlichen Lage im Land beitragen.

Die De-facto-Machthaber besitzen nach wie vor weder die Ressourcen noch die Expertise Afghanistan ökonomisch und sozial zu stabilisieren. Gleichzeitig fehlen dem Land die gesperrten finanziellen Mittel. Allein in den USA lagen 2022 noch sieben Milliarden Dollar aus dem Bestand der afghanischen Zentralbank auf Eis. Im September wurde seitens der US-Regierung bekannt gegeben, dass davon nun 3,5 Milliarden in einen in Genf angesiedelten »Fund for the People of Afghanistan« überführt werden sollen.

Andere Länder wie Deutschland und Pakistan warben in der Vergangenheit für einen pragmatischeren und differenzierteren Ansatz zur Adressierung der akuten Notlage der afghanischen Bevölkerung. Immerhin, nicht zuletzt bedingt durch das beherzte Verhandeln der deutschen Bundesregierung mit den internationalen Partnern im UN-Sicherheitsrat, konnten Ende Dezember 2021 Ausnahmeregelungen von den Sanktionen erreicht werden, welche die humanitäre Hilfe überhaupt erst rechtssicher ermöglichten. Doch die fundamentale ökonomische und humanitäre Schieflage im Land bleibt bestehen.

Realitäten anerkennen

Die Taliban werden ihre Politik und Überzeugungen nicht auf Wunsch externer Akteure ändern. Und der internationalen Gemeinschaft fehlt es – trotz klarer Überzeugungen in Bezug auf die Wahrung von Frauen- und Menschenrechten – an wirkungsvollen Restriktionsmechanismen, die über Mahnungen und Forderungen hinausgehen könnten. Klassischerweise bedeutet ein solcher Gegensatz, dass ein Interessenausgleich gefunden und somit verhandelt werden muss.

Das entschiedenere Beschreiten dieses Weges erscheint essenziell, wenn den Menschen in Afghanistan wirksam geholfen werden soll. Andernfalls nimmt auch die internationale Gemeinschaft in Kauf, dass die Bevölkerung weiterhin leidet. Es mag aus der »westlichen« Perspektive schwierig sein, einen solchen Paradigmenwechsel vorzunehmen, da es sich um ein höchst sensibles und gleichsam emotionales Thema handelt. Aber im Interesse der Menschen im Land müssen alternative Mechanismen zu den bisher beschrittenen Wegen gefunden werden, um deren Not zu lindern.

Folgende Befunde sind dabei zentral: Erstens: Die Taliban werden mindestens mittelfristig die alleinigen Machthaber in Afghanistan bleiben. Sie werden ihre Positionen nicht grundlegend verändern, nur weil die internationale Gemeinschaft dies wünscht. Zugleich ist die internationale Gemeinschaft bereits seit der Machtübernahme von den De-facto-Machthabern abhängig, wenn sie humanitäre Hilfe in Afghanistan leisten und konkrete Projekte für die Bevölkerung umsetzen möchte.

Vor diesem Hintergrund muss das Verhältnis zwischen der illegitimen Taliban-Regierung und der internationalen Gemeinschaft sowie den Einzelstaaten neu definiert werden. Weder sollten die Taliban anerkannt noch ihr Agieren legitimiert werden, aber offizielle diplomatische Kanäle müssen etabliert werden, um die De-facto-Machthaber angemessen und belastbar adressieren sowie auch formal abgesichert mit ihnen verhandeln zu können.

Zweitens: Das Recht auf Bildung für Mädchen und Frauen muss gewahrt bleiben. Doch die internationale Gemeinschaft hat keine Möglichkeit, die Beschulung von Mädchen zu erzwingen. Die Taliban argumentieren fortwährend, dass die Entscheidung zur abermaligen Schließung der weiterführenden Schulen nicht damit im Zusammenhang stünde, dass Mädchen grundsätzlich nicht beschult werden sollten, sondern vielmehr darin begründet liege, dass eine Trennung von Jungen und Mädchen in den Einrichtungen momentan nicht hätte gewährleistet werden können.

Vor diesem Hintergrund muss darüber nachgedacht werden, ob für die internationale Gemeinschaft eine noch stärkere Förderung und die Etablierung weiterer Mädchenschulen als Übergangslösung vorstellbar erschiene. Im Sinne des uneingeschränkten Rechts auf Bildung und der Durchsetzung dieser wäre das im Sinne der afghanischen Mädchen zumindest eine mögliche, temporäre Notlösung, der unter Umständen auch die Taliban folgen könnten.

Drittens: Frauen und Familien benötigen wirtschaftliche Selbstständigkeit. Doch die aktuelle ökonomische Situation lässt diese in Afghanistan nur noch selten zu. Gleichzeitig bleibt fraglich, ob diese Eigenständigkeit im gesellschaftlichen Patriarchat Afghanistans überhaupt Akzeptanz findet. Dennoch sollte internationale Entwicklungszusammenarbeit eben jenen Ansatz auch zukünftig stärken. Rückzahlungsfreie Mikrodarlehen zum Aufbau einer eigenen Unternehmung, eines kleinen Familienbetriebs oder einer kollektiven Form der Produktion im Dorfverbund könnten auch weiterhin helfen, diese Eigenständigkeit zu erreichen.

Dabei hat die Orientierung auf solche Formen der Hilfe gleich zwei Effekte. Zum einen würde den Frauen und ihren Familien sehr direkt geholfen werden. Zum anderen könnte diese international beförderte, ökonomische Unabhängigkeit einen entscheidenden Faktor dafür darstellen, dass Menschen sich weder dafür entscheiden, sich den De-facto-Machthabern vorbehaltlos zu verschreiben noch sich lokal agierenden Terrorgruppen anzuschließen, die in Afghanistan auch deswegen erfolgreich rekrutieren, weil sie Geld und Unterstützung im Gegenzug für Gefolgschaft bieten.

Offenkundig gelang es in den letzten 20 Jahren nicht, Afghanistan dauerhaft und ohne internationale Unterstützung demokratisch und sozial zu stabilisieren. Die staatlichen Institutionen waren nicht ausreichend konsolidiert, die Politik fragmentiert und von Korruption geprägt. Zudem hat die westliche Allianz Afghanistan wohl nie gänzlich verstanden oder verstehen wollen. Der solitär verhandelte und dann sehr rasch vollzogene Truppenabzug der USA ließ viele weitere ausländische Akteure kopf- und ratlos zurück. Die Konsequenzen waren der chaotische Abzug aller westlichen militärischen Kräfte, die Machtübernahme der Taliban und das darauffolgende Leid von vielen Tausenden Menschen – insbesondere von Frauen und Kindern.

Die Akteure von damals besitzen auch nach ihren Truppenabzügen eine Verantwortung für Afghanistan. Die notwendige und nachvollziehbare Fokussierung Europas auf den russischen Krieg in der Ukraine, auf Zeitenwenden und deren Auswirkungen sowie die genaue Beobachtung der zunehmenden Spannungen im indopazifischen Raum dürfen nicht dazu führen, dass diejenigen, die seitens der internationalen Gemeinschaft, und auch seitens der Bundesrepublik über 20 Jahre unterstützt werden sollten, nun vergessen und auf sich selbst gestellt werden.

Es ist schmerzhaft, Afghanistan und seine Bevölkerung immer stärker leiden zu sehen. Und es ist besonders schmerzhaft, die unbeugsam vorangetriebene Entrechtung der Frauen beobachten zu müssen. Um ihr Leid zu lindern, ihre Rechte sukzessive wieder zu verhandeln und um die humanitäre Lage im Land am Hindukusch insgesamt zu verbessern, braucht es einen Paradigmenwechsel internationaler Afghanistan-Politik, der mindestens die Neujustierung des Sanktionsregimes und direkte, offizielle und gegenseitig verbindliche Gespräche mit den Taliban beinhalten muss.

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