Noch nie zuvor hatte das Thema mentale Gesundheit eine so hohe gesellschaftliche, aber auch mediale Präsenz wie heute. Ein Blick in die Bestsellerlisten belegt die wachsende Flut an Ratgebern zum Umgang mit Traumata, Achtsamkeit und Resilienz. Psychotherapiepodcasts erreichen ein breites Publikum, und auf Instagram finden sich unter dem Schlagwort #mentalhealth rund 56 Millionen Beiträge. Der Umgang mit psychischen Beschwerden scheint offener und akzeptierender zu werden – die gleichzeitig in den vergangenen Jahren stark gestiegene Anzahl diagnostizierter psychischer Erkrankungen steht in keinem Widerspruch dazu.
Die aktuell zunehmende Offenheit erscheint vor dem Hintergrund der langjährigen Repression und Stigmatisierung psychisch erkrankter Personen in Deutschland als keine Selbstverständlichkeit. Obwohl die beiden Weltkriege zu einer sprunghaften Zunahme und erhöhten Sichtbarkeit psychisch erkrankter, oft traumatisierter Menschen führten, blieb eine größere Akzeptanz psychischer Störungen aus.
Die Unterdrückung psychisch kranker Menschen erreichte während der Zeit des Nationalsozialismus in Form systematischer Verfolgung und Ermordung ihren tragischen Zenit. Aber noch bis in die 60er Jahre wurden psychische Beschwerden kaum in der Öffentlichkeit thematisiert beziehungsweise häufig als Simulation diffamiert. Durch gesundheitspolitische Reformen, wie sie im Rahmen der Psychiatrie-Enquête von 1975 gefordert wurden, kam es in den folgenden Dekaden zu allmählichen Fortschritten hinsichtlich der Behandlungs- und Lebensbedingungen für psychisch erkrankte Menschen.
»Bei Schizophrenie und Suchterkrankungen werden zunehmende Ablehnung und soziale Distanzierung beobachtet.«
Trotz positiver Entwicklungen sind psychische Störungen nach wie vor mit Stigmata behaftet, was für Betroffene oft als eine »zweite Krankheit« wahrgenommen wird und häufig in gesellschaftlicher Benachteiligung mündet. Die seit 30 Jahren fortlaufende Deutsche Langzeitstudie zum Stigma psychischer Erkrankungen untersucht systematisch gesellschaftliche Überzeugungen und Vorstellungen über psychische Störungen, die wiederum den Umgang mit diesen beeinflussen. Die aktuellen Ergebnisse zeigen eine zunehmende Normalisierung des Konzepts psychischer Krankheit sowie eine offenere Kommunikation über psychische Probleme in privaten und beruflichen Kontexten. Diese Entwicklung bezieht sich jedoch vor allem auf das Krankheitsbild der Depression – ein sogar gegenteiliger Trend ist hinsichtlich anderer Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie und Suchterkrankungen, zu beobachten, für welche zunehmende Ablehnung und soziale Distanzierung beobachtet werden.
Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung können etwa in der verschiedenen medialen Repräsentation gesehen werden, aber auch in der Ähnlichkeit oder eben Unähnlichkeit psychischer Symptome zum eigenen Erleben. Depressive Symptome, zu denen unter anderem Niedergeschlagenheit, Energielosigkeit oder Interessenverlust zählen, sind in milder Ausprägung Teil des Spektrums normalen psychischen Erlebens. Zudem zählen depressive Erkrankungen zu den häufigsten psychischen Störungen – im Laufe des Lebens ist jeder fünfte bis sechste Erwachsene mindestens einmal von einer Depression betroffen.
Neben Depressionen zählen Angststörungen sowie Suchterkrankungen zu den in Deutschland am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Über alle psychischen Störungsbilder hinweg sind jedes Jahr circa 18 Millionen Personen betroffen. Diese Zahl stellt das derzeitige Hoch eines in den letzten Jahren stetigen Anstiegs psychischer Krankheitsdiagnosen dar. Da gleichzeitig jedoch keine Zunahme in den epidemiologischen Daten psychischer Erkrankungen zu verzeichnen ist, deutet dies darauf hin, dass diese Entwicklung vor allem eine veränderte Bedeutung und Wahrnehmung der mentalen Gesundheit widerspiegelt, welche auch mit einer erhöhten Sensibilität gegenüber psychischen Beschwerden einhergeht. Die ausgebauten psychologischen Angebote können darüber hinaus dazu beitragen, dass psychische Erkrankungen eher als solche erkannt werden.
Obwohl die gestiegene Achtsamkeit in Bezug auf mentale Gesundheit als ein treibender Faktor dieser Entwicklungen gesehen werden kann, sollten auch gesellschaftliche Prozesse und Problematiken Beachtung finden. Da verschiedene soziale Gruppen unterschiedlich stark von psychischen Erkrankungen betroffen sind, wird der Einfluss von Umweltfaktoren sowie die bereits vom Robert-Koch-Institut (RKI) festgestellte soziale Ungleichheit bei Gesundheitschancen und Erkrankungsrisiken deutlich. Überproportional häufig und stark betroffen sind weibliche Personen, junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren, Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status sowie Menschen mit Migrationshintergrund, wobei insbesondere die beiden letztgenannten Gruppen aufgrund verschiedener Barrieren seltener Psychotherapie in Anspruch nehmen oder nehmen können.
Auswirkungen globaler Krisen
Spätestens seit der COVID-19-Pandemie und den assoziierten Quarantäne- und Isolationsbedingungen, die bei vielen Menschen mit vermehrten Ängsten, Sorgen und Stress einhergingen, ist deutlich geworden, dass neben gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen auch globale Krisen in ihren Auswirkungen auf die mentale Gesundheit betrachtet werden müssen. Klimawandel, Kriege sowie zunehmende soziale Unsicherheit durch Inflation sind Faktoren, die in ihrer Allgegenwärtigkeit und existenziellen Bedrohlichkeit von der World Health Organization (WHO) als Permakrise zusammengefasst und insbesondere von jungen Menschen als Gründe für zunehmende psychische Belastungen sowie sinkenden Optimismus genannt werden.
Fast die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen berichtet von Stress, Erschöpfung und Selbstzweifel – im Vergleich zu weniger als einem Fünftel der Menschen zwischen 50 und 69 Jahren. Daten der Mental Health Surveillance des RKI zeichnen ein noch drastischeres Bild: Seit 2021 wurden jeweils kritische Anstiege von Angst- und Depressionssymptomen sowie eine Abnahme der selbstberichteten psychischen Gesundheit insbesondere bei jungen Menschen verzeichnet.
Das Zusammenspiel dieser Entwicklungen verdeutlicht, dass der Bedarf an psychotherapeutischen Versorgungsangeboten, der sich bereits in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt hat, weiterhin hoch und im Wachstum begriffen ist. Bereits jetzt sind ambulante Therapieplätze oft erst nach einer sechs- bis neunmonatigen Wartezeit verfügbar, häufig in Verbindung mit einer kräftezehrenden Suche nach einem passenden Therapieangebot. Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert angesichts dieser sich zuspitzenden Versorgungssituation eine Zulassung von zusätzlichen 1.600 kassenärztlichen Psychotherapiesitzen.
Neben der dringend gebotenen quantitativen Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgungssituation müssen auch qualitative Fortschritte hinsichtlich diagnostischer und therapeutischer Verfahren adressiert werden: Je nach behandeltem Störungsbild, Psychotherapieverfahren und anderen therapierelevanten Faktoren schwankt der Anteil der behandelten Personen, die von Psychotherapie profitieren, zwischen 30 und 70 Prozent. Das Ziel der aktuellen klinisch-psychologischen Forschung ist es daher, wissenschaftliche Erkenntnisse schneller in die psychotherapeutische Praxis zu überführen. In spezialisierten Forschungszentren, wie dem kürzlich gegründeten Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), wird intensiv daran gearbeitet.
»Früherkennung und Prävention psychischer Erkrankungen gewinnen einen immer höheren Stellenwert.«
Konsens der psychologischen Wissenschaft ist mittlerweile, dass psychische Gesundheit durch eine Vielzahl von komplex interagierenden Faktoren bedingt wird – durch die Integration sozialer, biologischer, psychologischer und entwicklungsbezogener Wirkmechanismen werden effektivere diagnostische und therapeutische Prozesse entwickelt. Neben der Behandlung gewinnen hierbei die Früherkennung und Prävention psychischer Erkrankungen einen immer höheren Stellenwert. Durch die Identifikation von Risikofaktoren und die Entwicklung darauf aufbauender Präventionsprogramme könnten zukünftig vermehrt psychische Erkrankungen verhindert werden – ein Ansatz, der nicht nur effizienter ist als die Behandlung bereits bestehender Erkrankungen, sondern auch den individuellen Leidensdruck und die Einschränkung der Lebensqualität vermindern könnte.
Einen krankheitsübergreifenden Faktor, der im Sinne der Prävention psychischer Erkrankungen als vielversprechender Ansatzpunkt gesehen wird, stellt Einsamkeit dar. Gleichfalls verstärkt durch die COVID-19-Pandemie erfährt das schmerzhafte Gefühl, welches durch eine Diskrepanz zwischen den gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen entsteht, eine erhöhte politische Aufmerksamkeit. Einsamkeit und psychische Erkrankungen wie Depression und Angststörungen stehen in einem starken, wechselseitigen Zusammenhang – ebenso leiden die physische Gesundheit sowie die gesellschaftliche Teilhabe unter hoher Einsamkeit.
Auch in diesem Kontext sind jüngere Menschen stärker betroffen als Ältere: So gibt jede zehnte Person zwischen 16 und 30 Jahren an, sehr einsam zu sein. Singuläre Lebensformen, fehlende soziale Einbindungsmöglichkeiten, aber auch einsamkeitsförderliche Arbeitsstrukturen wie Homeoffice sind einige Faktoren, die die Zunahme von Einsamkeitsempfindungen miterklären können. Durch die verstärkte Förderung von kommunalen Projekten, die Orte für Austausch und Engagement bieten, versucht die Bundesregierung, diesem Trend und den zahlreichen negativen Effekten von Einsamkeit entgegenzuwirken.
»Psychische Gesundheit war noch nie nur eine Angelegenheit des Individuums.«
Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass psychische Gesundheit längst nicht mehr nur eine Angelegenheit des Individuums ist – und auch noch nie war. Gesellschaftliche Prozesse und globale Krisen beeinflussen unsere psychische Verfassung ebenso wie eine noch nicht gänzlich fassbare Anzahl an biologischen und persönlichkeitsbezogenen Faktoren. Die Komplexität dieser Wirkmechanismen mag überfordern und der Beliebtheit von einfachen Antworten auf die Frage, wie wir unsere psychische Gesundheit erhalten oder wiederherstellen können, Auftrieb verleihen. Die Allgegenwärtigkeit von »Psycho-Themen« in den sozialen und anderen populären Medien kann dabei zwar positive Aspekte wie die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen fördern, jedoch auch zu einer Pathologisierung normalpsychologischer Prozesse beitragen.
Umso dringlicher ist es, die strukturellen Bedingungen zu identifizieren, die zur Entstehung psychischer Erkrankungen beitragen, präventive Maßnahmen zu ergreifen und leicht zugängliche psychotherapeutische Angebote für Betroffene bereitzustellen – diese Aufgaben stellen die aktuell zentralen Herausforderungen an Politik und Gesundheitssystem dar.
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