Die Berichterstattung der hiesigen Medien erfasst bei Weitem nicht die Gesamtheit der derzeit stattfindenden kriegerischen Ereignisse mit teilweise genozidalen Zügen und manchmal hunderttausenden Todesopfern. Neben der Ukraine und Gaza seien hier vor allem Syrien, der Jemen, der Sudan und Südsudan, Äthiopien und Somalia genant. Die Interventions- und Bürgerkriege im Irak und in Afghanistan, die auf prekäre Weise beendet zu sein scheinen, mal beiseite gelassen. Nur flüchtig und inhaltlich meist diffus tauchten die Kriege zwischen den südkaukasischen Republiken Aserbaidschan und Armenien in den Nachrichten auf, obwohl gerade dieser Konflikt mehr Aufmerksamkeit verdient hätte – er steht in armenischer Perspektive in der Kontinuität des systematischen Völkermords im 20. Jahrhundert.
Im Osmanischen Reich, ähnlich dann auch in der entfernteren Diaspora, nahmen Angehörige der Ethnie der Armenier, die in ihrem geschlossenen Siedlungsgebiet meist landwirtschaftlich tätig waren, eine soziale Funktion und Rolle analog der der Juden in Europa ein, weil für die einheimische Mehrheitsbevölkerung religiöse Hürden existierten, Geldberufe zu ergreifen, während einige andere Berufe für die betreffenden Minderheiten unzugänglich waren.
Die Armenier übten außerhalb des Kernsiedlungsgebiets überdurchschnittlich oft kommerzielle und intellektuelle Berufe aus. In der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel (Istanbul) stellten sie um 1900 einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, ähnlich im griechisch geprägten Smyrna (heute Izmir). Im Handel, Großgewerk und der aufkommenden Industrie waren Eigentümer, Führungspersonal und Arbeiter hauptsächlich Armenier.
»Einen unabhängigen armenischen Staat gab es nur in begrenzten Perioden.«
Die Armenier sind ein altes Kulturvolk, das schon Anfang des 4. Jahrhunderts christianisiert wurde; die Armenisch-apostolische Kirche ist über die Jahrhunderte eine eigenständige Institution und Glaubensgemeinschaft mit ausgeprägter Schriftkultur und zentraler Bedeutung für die Erhaltung der nationalen Identität geblieben. Einen unabhängigen armenischen Staat gab es nur in begrenzten Perioden, doch immer wieder kam es zu Erhebungen gegen die wechselnde und geografisch geteilte Fremdherrschaft. Das Siedlungsgebiet der Armenier reichte, vor allem in Nordostanatolien, weit über die Grenzen der heutigen Republik hinaus.
Die osmanische Staats- und Gesellschaftsordnung ließ den unterworfenen Völkern ihre Sprache, Kultur und Religion, allerdings mit minderen Rechten und im Zuge des türkischen Ethnonationalismus zunehmendem Assimilationsdruck. Die Armenier gerieten außerdem unter Druck durch die Ansiedlung halbautonomer nomadischer Kurdenstämme, deren quasi feudaler Oberschicht – zusätzlich zu den beträchtlichen Steuern – gewaltsam erzwungene Abgaben oder Frondienste entrichtet werden mussten.
Verfolgung, Vertreibung, Massaker
Auch wenn das russische Zarenreich während des 19. Jahrhunderts den Osmanen und Persern umfangreiche kaukasische (und dabei auch armenisch bewohnte) Gebiete abnahm, verblieben im Osmanischen Reich etwa 2,5 Millionen Armenier. Verfolgung, Vertreibung und Massaker – all das ist verschiedentlich auch von Armeniern an Angehörigen von Turkvölkern begangen worden, so in den Balkankriegen 1912/13, am Ende des Ersten Weltkriegs und weniger dramatisch in den Jahrzehnten seit 1988 im Kaukasus. Insgesamt ist indes die große Asymmetrie vor allem der Massenverbrechen in dem langfristigen Konflikt zuungunsten Armeniens und der Armenier offenkundig. So hat das Trauma des von der Türkei bis heute nicht offiziell anerkannten Genozids von vor einem Jahrhundert stets neue Nahrung erhalten.
Dieser ist tragischerweise engstens mit der Entstehung des verfassungs- und innenpolitisch emanzipatorischen »Komitees für Einheit und Fortschritt« (alias »Jungtürken«) verknüpft, das anfangs sogar mit Vertretern der Armenier und anderer nationaler Minderheiten kooperierte, nach dem jungtürkischen Staatsstreich von 1908 aber zunehmend einen radikal-nationalistischen, auf ethnische Homogenisierung, teilweise pantürkischen, also auf die Vereinigung mit den Turkvölkern im Kaukasus und in Zentralasien gerichteten Kurs einschlug.
»Der Erste Weltkrieg bot die Gelegenheit, die Mehrzahl der im Osmanischen Reich lebenden Armenier auszulöschen.«
1913 bis 1918 regierte ein jungtürkisches Triumvirat das Osmanische Reich, das im Ersten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet war. Schon Mitte der 1890er Jahre hatte es eine erste Welle von Massenmorden an Armeniern gegeben. Der Weltkrieg bot dann die Gelegenheit, in einer vom Innenminister kontrollierten, von Armeeeinheiten und irregulären bewaffneten Verbänden durchgeführten Serie von Deportationen (angeblichen Umsiedlungen) ab April 1915 und begleitet von Vergewaltigungen und Ausplünderungen, die Mehrzahl der im Osmanischen Reich lebenden Armenier auszulöschen: vor allem durch geplanten Hunger und Seuchen, ergänzt um Überfälle von regulären Truppen und räuberischen Banden sowie aus der bäuerlichen Zivilbevölkerung erfolgende Mordaktionen, begleitet von Grausamkeiten ungeheuren Ausmaßes.
Weniger bekannt ist, dass andere christliche Ethnien in ähnlicher Größenordnung betroffen waren: neben der großen griechischen Minderheit hauptsächlich Syro-Aramäer.
Fortgesetzte Massaker
Nach der Kriegsniederlage des Osmanischen Reiches, im Zuge der teilweisen Besetzung Anatoliens durch westalliierte, dann auch griechische Truppen sowie im Zuge der patriotischen Erhebung und der Republikgründung unter Führung Kemal Atatürks setzten sich in den Jahren 1919 bis 1922/23 die Massaker fort. Die Gesamtzahl der (also nicht nur armenischen) Todesopfer wird auf mindestens 3,5 Millionen geschätzt, und der Großteil der vor dem Terror ins Ausland geflüchteten Armenier kehrte nicht mehr zurück und wurde von der Republik Türkei 1923 und 1926 ausgebürgert. Einige der türkischen Haupttäter, so der in Berlin residierende frühere Innenminister Mehmet Talât, fielen der Selbstjustiz einer exilarmenischen Geheimorganisation zum Opfer. In dem spektakulären Berliner Prozess wurde der Attentäter Soghomon Tehlirian nach anderthalb Tagen mit Hinweis auf die genozidalen Hintergründe für schuldunfähig erklärt.
Am 28. Mai 1918 hatte sich der bis dahin zu Russland gehörende Teil des armenischen Siedlungsgebiets unabhängig erklärt, doch in den folgenden Territorialkonflikten mit Aserbaidschan und der Türkei unterlag Armenien im Herbst 1920 einem Zweckbündnis der türkischen Kemalisten mit den inzwischen im russischen Bürgerkrieg obsiegenden Bolschewiki, und wie Georgien und Aserbaidschan wurde Armenien als Sowjetrepublik Teil der UdSSR.
Während die Schaffung Sowjetarmeniens immerhin einen geschützten Raum für das armenische Volk bereitstellte, belegt durch die Rückkehr beziehungsweise Einwanderung von über einer halben Million Flüchtlinge aus dem Exil bis 1973 und die Möglichkeit einer gewissen kulturellen Renaissance, war in Moskau 1921 der Anschluss des zu über 90 Prozent armenisch besiedelten Arzach (Bergkarabach) als autonomes Gebiet auf arg reduziertem Territorium an Aserbaidschan beschlossen worden. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion nahmen die politischen und ethnischen Konflikte im Südkaukasus seit 1988 gewaltsame und dann bürgerkriegsähnliche Züge an. Der Bergkarabachkonflikt erscheint dabei aus armenischer Sicht als Vereinigungsbewegung (Irredentismus), aus aserbaidschanischer als Separatismus.
Als am 21. September 1991 Armenien nach 70 Jahren erneut seine Unabhängigkeit erklärte, wagte es nicht die Vereinigung mit Bergkarabach, unterstützte dieses allerdings wirtschaftlich, politisch und militärisch bis zu der desaströsen Niederlage im Zweiten Karabachkrieg (Herbst 2020). Auf die durch Plebiszit bekräftigte Unabhängigkeitserklärung Arzachs vom 2. September 1991 (das seit Januar 1989 unter direkter Verwaltung der sowjetischen Zentralmacht und zeitweise unter Kriegsrecht gestanden hatte) antwortete Aserbaidschan mit der Aufhebung des Autonomiestatus. Der Versuch Aserbaidschans, Bergkarabach militärisch wieder unter seine Kontrolle zu bringen, führte von Ende 1991 bis Mai 1994 zu einem Krieg, bei dem Bergkarabach seine Unabhängigkeit erfolgreich verteidigte. Aserbaidschan rüstete auf und nahm der Republik Arzach im Herbst 2020 bei einem weiteren Angriffskrieg ein Drittel ihres Territoriums ab. Beide Karabach-Kriege forderten zehntausende von Todesopfern und lösten Massenfluchten von 1,2 Millionen Menschen aus.
Der vorläufig letzte Akt der Tragödie
Im Dezember 2022 begann mit der aserbaidschanischen Totalblockade des als Enklave inmitten Aserbaidschan liegenden Rest-Arzachs der vorläufig letzte Akt der Tragödie. Am 19. September 2023 folgte unter Missachtung des Waffenstillstandsabkommens von 2020 eine 24-stündige Militäroffensive zwecks Eroberung des kleinen armenischen Gemeinwesens. Das Resultat war – bis auf 25 Personen (laut UNHCR) – die vollständige Vertreibung der Bevölkerung. Die Republik Armenien registrierte 100.800 Flüchtlinge, Russland nahm 6.400 auf. Damit endete eine 3.000-jährige Siedlungsgeschichte. Führende Politiker der »Republik Arzach« sitzen seither in aserbaidschanischer Haft und sehen ihrer Aburteilung wegen Sezession und »Terrorismus« entgegen.
Die Republik Armenien mit heute knapp drei Millionen Einwohnern – dreimal so viel ethnische Armenier leben in der Diaspora – teilt die demokratischen Defizite anderer früherer Sowjetrepubliken; in wiederholten Massenprotesten reagierten die Bürger auf Missstände; mehrfach wurde die Verfassung geändert. Verglichen mit dem strikt autoritär und in familiärer Folge regierten Aserbaidschan – wo eine Armenophobie gepflegt wird, die an krudeste historische Parallelen von Nationalhass erinnert – erscheint die innere Ordnung Armeniens deutlich akzeptabler. Aserbaidschan ist jedoch für die westlichen Mächte und in wachsendem Maß auch für die frühere Schutzmacht Russland als Partner relevanter wegen der Öl- und Gasexporte und in zunehmendem Maß wegen der beträchtlichen Vorkommen an nichtfossilen Bodenschätzen, darunter Lithium und Molybdän, in Bergkarabach. »Wertegeleitete Außenpolitik« findet wie stets ihre Grenzen in den handfesten Interessen.
(Der Autor empfiehlt das soeben erschienene Buch: Winfried K. Dallmann/Tessa Hofmann: Das geopolitische Schicksal Armeniens. Vergangenheit und Gegenwart. Books on Demand, 486 S., 22,90 €.)
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