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Warum Bräuche und alltägliche Rituale Heimat vermitteln können Verortung im Alltag

Über die meisten Dinge, die wir tun und erleben, denken wir kaum länger nach, in weiten Teilen ist unser Alltag von Routinen geprägt, von vertrauten Handlungsabläufen und Konventionen: Wie wir miteinander interagieren, was wir essen und was wir auf keinen Fall essen, welche Anlässe wir feiern; welche unausgesprochenen Regeln am Arbeitsplatz oder in der Familie gelten; welche Sportart wir samstags gebannt im Stadion verfolgen. Das alles sind Ausdrucks- und Erscheinungsformen einer überaus vielschichtigen Alltagskultur. Formulierungen wie »dem Alltag entfliehen« oder der »graue Alltag« erwecken den Eindruck, dass ihm eine gewisse Eintönigkeit innewohnt, das Image des Unspektakulären und Langweiligen anhaftet.

»Phänomene der Alltagskultur sind Bausteine unserer Identität und entfalten ein hohes Bindungspotenzial.«

Doch ist der Alltag wirklich so grau und sind Routinen grundsätzlich schlecht? Kulturanthropolog*innen darf man diese Frage nicht stellen, beschäftigt sich ihr Fach doch explizit mit der Alltagskultur und dem Wandel, dem diese permanent unterworfen ist. Hinter den Kulissen des Alltags lassen sich unsere Wertvorstellungen und Deutungen der Welt ebenso entdecken wie gesellschaftliche Dynamiken, regionale Spezifika oder zeittypische Moden. Die Kulturanthropologie hinterfragt das, was sonst allzu schnell als gegeben erscheint und in der gewohnten Lebenswelt unhinterfragt bleibt. Dabei gehen die Forscher*innen davon aus, dass gerade die Phänomene der Alltagskultur Bausteine unserer Identität sind. Sie entfalten ein hohes Bindungspotenzial und tragen dazu bei, dass Menschen sich an einem Ort zu Hause fühlen.

Die Kategorie »Ort« verweist hier allerdings nicht zwangsläufig auf einen konkreten geografischen Raum, sondern meint auch soziale oder imaginierte Räume. Gefühle der Zughörigkeit können ebenso durch eine Gemeinschaft Gleichgesinnter entstehen wie durch Erinnerungsfragmente. Zum Beispiel vermag der plötzlich vernommene Duft des Lieblingsgebäcks Gedanken und Emotionen an die Kindheit und die damit verbundene Geborgenheit auszulösen. Phänomene der Alltagskultur vermitteln also Zugehörigkeit, stiften Gemeinschaft und Identität. Und, wenn wir von einem dynamischen Heimatbegriff ausgehen, der Heimat als aktive Aneignung der eigenen räumlich-sozialen Lebensumwelt versteht, vermitteln sie auch Heimat. Heimat ist ein Prozess der Verortung und in diesem Prozess ist die Erschließung von Alltagsroutinen zentral.

Heimat wird »gemacht«

Orientierungsfähigkeit, Stabilität und Sicherheit hängen auch davon ab, wie gut man sich in seiner Umgebung auskennt, weiß, wie sie funktioniert. Auf der Folie der Alltagskultur werden soziale und kulturelle Erfahrungen gemacht, hier entstehen Erinnerungen, die zu einer subjektiven emotionalen Verortung verschmelzen. Diese Kombination wird stetig neu ausgehandelt, weil Heimat sich im Laufe eines Lebens auch ändern kann. Darauf verweist nicht zuletzt die um sich greifende Verwendung des Wortes im Plural, die im Zusammenhang mit zunehmender Mobilität und transnationalen Lebensentwürfen steht. Heimat ist nicht einfach so da, sie wird »gemacht« und um diesen Aneignungs- und Konstruktionsprozess zu betonen, sprechen Kulturanthropolog*innen lieber von »Beheimatung« als von Heimat – nicht zuletzt, um sich von den problematischen Bedeutungsgehalten des Heimatbegriffs und seiner ideologischen Hypotheken abzugrenzen.

»Routinen und gewohnte Handlungsmuster geben Orientierung und Halt.«

Es ist noch nicht lange her, dass eine Pandemie der breiten Öffentlichkeit plötzlich den Wert und die Wirkungsweisen von Alltagsroutinen im engen und der Alltagskultur im weiteren Sinne vor Augen führte. Die Einschränkungen durch die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus zeigten, was es mit uns macht, wenn der Alltag auf den Kopf gestellt wird. Kleine Rituale wie das Händeschütteln zur Begrüßung mussten plötzlich einer Revision unterzogen werden. Die Verunsicherungen, die mit der damals sogenannten »neuen Normalität« einhergingen, verstärkten das Gefühl der Bedrohung durch ein Virus. Routinen und gewohnte Handlungsmuster vermitteln demgegenüber (Verhaltens)sicherheit und Verlässlichkeit, sie geben Orientierung und Halt. Sie reduzieren darüber hinaus Komplexität, man muss nicht darüber nachdenken, was man tut – das erleichtert die Art, wie wir miteinander umgehen und lässt auf angenehme und entlastende Weise Vertrautheit erfahren.

Identitätsanker

Bräuche und Feste sind dem kulturanthropologischen Verständnis nach nichts anderes als komplexe Routinen, die eine symbolische Bedeutung haben. So ist ein Martinsumzug nicht lediglich ein gemeinsamer Abendspaziergang mit idyllischer Laternenbeleuchtung. Wenn der Darsteller des Heiligen Martin die Hälfte seines Mantels an den Bettler gibt, werden darüber auch gesellschaftliche Werte des Teilens und der Solidarität vermittelt. Oder blicken wir auf die Umzüge, Kneipenfeiern und Sitzungen im Rheinischen Karneval.

Dieser Brauchkomplex, auf den viele Menschen das Jahr über hinfiebern, vermittelt ausgelassene Lebensfreude, Kreativität, Subversivität und vieles mehr. Er fungiert dadurch als starker Identitätsanker und wird für die Jecken zur mentalen Heimat. Sie blicken mit gewissem Stolz auf den Karneval, weil er ihre Region als besonders markiert und er bringt Menschen zusammen, lässt Gemeinschaftsgefühle entstehen und Gruppenidentitäten erwachsen.

Der Karneval und andere Traditionen bergen noch weitere Funktionen. Sie geben Struktur und machen erfahrbar, wie die Zeit vergeht. Die Lücken, die durch das pandemiebedingte Aussetzten solcher Traditionen entstanden sind, waren größer als eine Leerstelle im Kalender. Ihr temporärer Wegfall zeigte, wie sehr sie integraler Bestandteil unserer Lebenswelt sind. Im Erleben und Gestalten von Bräuchen und anderen Elementen der Alltagskultur wird greifbar, was charakteristisch für das Umfeld ist, in dem wir uns zu Hause fühlen. Es zeigt, was unsere individuelle und kollektive Art zu leben ausmacht, was sie vielleicht von anderen unterscheidet.

Allerdings braucht es keine Pandemie, um anzumerken, dass Alltagkultur identitätsstiftend ist und mit »Heimat« in Verbindung gebracht wird. Heimatmuseen, Regionalmarketing oder Heimatvereine rekurrieren vielerorts explizit auf Phänomene der Alltagskultur: Neben Bräuchen und Festen werden dann spezifische Esskulturen, lokalgefärbte Sprache, ein bestimmter Wohnstil oder Handwerkstechniken zu Repräsentationen einer regional markierten Heimat. Auch im Urlaub wird dies deutlich: Oftmals wollen nicht nur landschaftliche Besonderheiten oder hochkulturelle Sehenswürdigkeiten von Reisenden entdeckt werden, sondern auch Elemente einer alltäglichen Lebensart. Sie stehen für ein Lokalkolorit, das man als Exotismus oder Folklorismus kritisieren kann, wenn es undifferenziert vermittelt und rezipiert wird.

Die Sehnsucht nach einem Stück Heimat auf dem Teller.

Heimat läuft dann Gefahr, zu Klischee oder Kitsch zu gerinnen. Doch wer kennt im Urlaub nicht den Wunsch nach »authentischem« Essen, am liebsten in einem besonders (landes- oder regionen-)»typischen« Restaurant? Umgekehrt mögen sich Urlauber in ihrer unvermuteten Freude ertappt fühlen, wenn sie endlich die Packung Pumpernickel im Supermarkt des Urlaubsortes entdecken, weil sie sich nach dem Geschmack des Gewohnten sehnen, nach einem Stück Heimat auf dem Teller. Der fremde Alltag kann auf Reisen zur Faszination oder zur Herausforderung werden.

Flucht als emotionaler Ausnahmezustand

Aber was ist, wenn die Erfahrung von Fremdheit nicht intendiert ist und der Kontakt mit einem unbekannten Alltag weder durch den Luxus eines Urlaubs, noch selbstbestimmt geschieht? Wenn die Konfrontation mit neuen Alltagsroutinen vielmehr die Folge gravierender Brüche ist, wie sie mit erzwungener Mi­gration und Flucht einhergehen? Geflüchtete in Deutschland stehen vor der Herausforderung soziale, räumliche und mentale Zugehörigkeiten aufzubauen und sich auf neue Alltagsroutinen einzulassen. Natürlich verlaufen Fluchtbiografien nicht homogen, aber aus Projekten mit geflüchteten Jugendlichen wissen wir, dass viele die erste Zeit ihres Ankommens als emotionalen Ausnahmezustand beschreiben, in dem Ängste und Unsicherheiten eben nicht nur aufgrund vieler unbeantworteter existenzieller Fragen an die Zukunft entstehen, sondern auch, weil sie sich mit einem weitgehend unbekannten Alltag konfrontiert sehen, dessen Formen und Regeln sie nicht verstehen.

Der Geflüchtete Awais etwa kam als 15-Jähriger aus Pakistan nach Deutschland und blickt als 20-Jähriger auf die erste Zeit seines Ankommens zurück: »Also, meine ersten Tage habe ich immer auf den Boden geguckt, weil ich noch nie so Frauen in Pakistan ohne Kopftuch oder mit so Kleidung gesehen habe. Da habe ich gedacht, oh, mein Gott, wie lebe ich denn hier?! Mit Menschen zu reden, Augenkontakt oder so, das konnte ich gar nicht. Ich war auch kein Freund, ich war immer alleine.«

»Fremdheitserfahrungen können zu Irritationen über gesellschaftliche Werte führen und Interaktion erschweren.«

Bekleidungspraxen, Geschlechterrollen, ein anderes Verständnis von Gastfreundschaft und Nachbarschaft, das sind nur einige Beispiele für Fremdheitserfahrungen. Sie können nicht nur zu anfänglichen Irritationen über gesellschaftliche Werte führen, sondern machen Interaktionen schwierig, weil sie auf der einen Seite Scham und Unsicherheiten, auf der anderen abwehrendes Verhalten begründen können. Beispiele wie das von Awais geben eine Ahnung davon, wie wichtig es ist, Teilhabe an alltäglichen sozialen Situationen zu ermöglichen. Beispiele aus der Praxis zeigen, dass auch Bräuche dazu Gelegenheit bieten können, wenn sie ihre gemeinschafts- und identitätsstiftende Wirkung nicht auf eine exklusive Gruppe sogenannter Alteingesessener beschränken. Regionale Traditionen haben dann durchaus das Potenzial gesellschaftliche Risse zu kitten und zu einer vielfältigen Heimat zu werden.

Ebenso wie der Begriff Heimat stets daraufhin abzuklopfen ist, ob er benutzt wird, um sich gegenüber Fremden oder Fremdem abzuschotten oder ob er dynamisch und offen ist, müssen Bräuche reflektiert werden: Wirken sie inklusiv oder exkludierend? Für wessen Heimat und für welche Vorstellung von Heimat stehen sie? Bräuche sind prinzipiell wandelbar und können und müssen sich an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen anpassen, sonst erstarren sie. Ein starres Festhalten an regionalen Traditionen birgt die Gefahr der Ausgrenzung anderer. Damit ein Heimatgefühl entstehen und aktive Beheimatung gelingen kann, braucht es ein »durchlässiges« Verständnis von Ritualen und Festen.

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