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Die Möglichkeiten zur Einschränkung des Internets in Russland sind begrenzt Verteidigung der »Küchenfreiheit«

Um zu verstehen, wie es um die Freiheit des russischen Internets bestellt ist, lohnt zunächst der Blick auf seine Bedeutung für die russische Bevölkerung. Russland hat den höchsten Anteil an Internetnutzern in Europa. Die Gruppe der 16–29‑Jährigen ist zu 99 % im Netz unterwegs und über 75 % der Gesamtbevölkerung haben einen Zugang. Die Kosten sind niedrig und die Qualität der Zugänge zum Internet befindet sich vor allem in den großen Städten auf einem sehr hohen Niveau. Der Staat hat die Bedeutung der Digitalisierung erkannt und investiert in den Ausbau. Ganz ohne staatliche Hilfe sind aber auch einheimische Internetriesen entstanden. Nicht Google ist in Russland die meistgenutzte Suchmaschine, sondern Yandex. Ein Unternehmen, welches mittlerweile Essen und Taxis vermittelt, Navigation und Carsharing anbietet. VKontakte wird als Pendant zu Facebook intensiv genutzt, zumal es nicht ganz so rigide beim Sperren von Inhalten ist. Aber auch immer mehr staatliche Dienste werden online abgewickelt. Natürlich sind effektive kommerzielle Nutzung und digitale Meinungsfreiheit zwei verschiedene Dinge. Aber die große Verbreitung und die wirtschaftliche Bedeutung des Internets setzen den Kontrollmaßnahmen Grenzen und auch jetzt kann man Oppositionellen auf YouTube folgen, Proteste organisieren und sich Informationen zu allem besorgen, was einen interessiert.

In dieser Hinsicht ist Russland nicht mit China zu vergleichen, was auch mit der Entstehung des russischen Teils des Internets zusammenhängt. Einige wenige Wissenschaftler hatten bereits zu Sowjetzeiten damit begonnen, erste Verbindungen aufzubauen und nutzten die neuen wirtschaftlichen Freiheiten der Perestroika-Zeit unter Gorbatschow zur Gründung erster Unternehmen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 entwickelte sich der neue Sektor rasch, da die kommerziellen Möglichkeiten schnell deutlich wurden. Da der Staat mit grundlegenderen Fragen beschäftigt war, blieb die Regulierung zurückhaltend. Auch die Inhalte im neuen Medium blieben frei von Einschränkungen. Das Mediengesetz des unabhängigen Russlands war anfangs eines der offensten Europas. Natürlich entwickelten sich über die Zeit auch hier Regulierungen und eine beginnende Überwachung. Allerdings waren die Behörden hierfür eher schwach aufgestellt. Das Interesse galt mehr den klassischen Medien, vor allem dem Fernsehen.

Dies änderte sich erst mit den »Bolotnaja-Protesten« 2012, benannt nach dem Moskauer Platz, auf dem sich die Menschen zahlreich versammelten, um gegen die dritte Amtszeit Wladimir Putins zu protestieren. Da die Proteste über das Internet organisiert wurden, geriet die Kontrolle dieses Informationsraums zunehmend in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden. Sie wurden sich zweier Gefahren bewusst, einer inneren und einer äußeren. Im Inneren wurde deutlich, dass die Selbstorganisation der Protestwilligen gut funktionierte. Wichtiger war aber noch, dass hier ein Informationsraum existierte, der zunehmend größere Bevölkerungsteile erreichte. Mittlerweile nutzen 84 % der russischen Jugendlichen hauptsächlich das Internet zur Informationsgewinnung, wie die FES-Jugendstudie Russland 2020 herausfand. Den sogenannten »Zombiekasten«, wie das Fernsehen mit seinen kontrollierten Kanälen auch genannt wird, nutzt die Jugend kaum noch, vor allem nicht mehr für die politische Information.

Damit begründet sich aber auch die Sorge vor der externen Gefahr, nämlich den Einflussversuchen durch die Medien auf die Bevölkerung. Die Vorstellung, dass Staaten durch das Schüren von Konflikten auch mithilfe des Internets destabilisiert werden könnten, wurde vom Chef des Generalstabs Waleri Gerassimow 2013 in einer militärischen Analyse als hybride Kriegsführung beschrieben, gegen die sich Russland wappnen müsse. Bereits mit der Sabotage der iranischen Uranzentrifugen durch den amerikanischen Stuxnet-Virus war deutlich geworden, welche Gefahr vom Internet auch für die Infrastruktur ausgehen kann.

Sowohl die Frage der inhaltlichen Regulierung des Internets als auch die Problematik des Schutzes der Infrastruktur waren in den folgenden Jahren die Triebkräfte für die weiteren gesetzlichen Einschränkungen.

Ab 2012 wurde die Freiheit im Internet schrittweise gesetzlich eingeschränkt, beginnend mit einer schwarzen Liste für zu blockierende Seiten, die von der Medienaufsicht geführt wird und laut Reporter ohne Grenzen über 290.000 Seiten listet. Es folgten das Verbot der Verwendung von Schimpfwörtern in Medien, die Beleidigung religiöser Werte und »homosexuelle Propaganda«. Letzteres meint die Darstellung »nichttraditioneller sexueller Beziehungen« als normal in der Gegenwart von Jugendlichen. 2016 wurden die nach der Urheberin benannten Jarowaja-Gesetze beschlossen. Diese sehen eine Vorratsdatenspeicherung in erheblichem Umfang vor. Nicht nur Verbindungsdaten müssen drei Jahre aufgehoben werden, sondern für sechs Monate auch die Inhalte der Kommunikation. In diesem Gesetzespaket wurde zudem die Verpflichtung der E-Mail- und Messenger-Anbieter festgeschrieben, dem Geheimdienst bei der Entschlüsselung von Kommunikation zu helfen. 2019 wurde die Gesetzgebung nochmals erheblich verschärft. Unter Strafe gestellt wurden die Verbreitung von »Fake News« sowie respektlose Äußerungen über den Staat und seine Organe, ohne dass klar definiert wäre, was darunter zu verstehen ist. Zuletzt wurde noch das Gesetz über ausländische Agenten erweitert. Dieses Gesetz sieht eigentlich vor, dass sich russische NGOs, sobald sie eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als ausländische Agenten registrieren lassen und dies auch auf all ihren Dokumenten und Publikationen ausweisen müssen. Mit der Erweiterung dieses Gesetzes können auch natürliche Personen zu ausländischen Agenten werden, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten (unabhängig von Höhe und Quelle), sich politisch äußern und Informationen eines als ausländischen Agenten registrierten Mediums an ein größeres Publikum verbreiten. Theoretisch könnte eine Person, die eine Überweisung von Verwandten aus dem Ausland erhält und einen Facebook-Post von Voice of America teilt, als ausländische Agentin eingestuft werden. Angewandt wurde das seit Februar gültige Gesetz bisher (noch) nicht.

In den Bereich des Schutzes von Angriffen von außen fällt insbesondere das 2019 erlassene Gesetz über das »souveräne Internet«, welches explizit darauf abzielt, das russische Netz gegen ausländische Sabotageversuche abzuschirmen. Die derzeit freie Kommunikation mit dem globalen Netz soll dann nur noch über Knotenpunkte laufen, die bei der Aufsichtsbehörde registriert sind. Damit wäre es möglich, das russische Netz zu isolieren und gegen Angriffe von außen zu schützen. So zumindest die Begründung des Gesetzes.

Bei vielen Gesetzen gibt es nachvollziehbare Gründe, etwa den Schutz der Bevölkerung, insbesondere der Jugend vor gefährdenden Inhalten, den Kampf gegen Extremismus und Terrorismus oder den Schutz gegen Angriffe von außen. Auch wird als Begründung gerne auf ähnliche oder gleichlautende Gesetze in anderen, westlichen Staaten verwiesen. Und in der Tat adressieren die Gesetze in einigen Punkte auch Probleme, vor denen westliche Gesellschaften ebenfalls stehen.

Die Probleme mit den russischen Gesetzen liegen aber darin, dass sie immer wieder ohne Kenntnis der technischen Möglichkeiten formuliert wurden, sehr schwammig gestaltet sind, was Missbrauch ermöglicht und kaum Kontrollinstanzen angedacht sind, die Missbrauch thematisieren und einschränken könnten.

So ist der Schutz des eigenen Netzes, im Sinne des Schutzes der kritischen Infrastruktur, durchaus ein verständliches Bemühen. Allerdings scheint die Methode der Abkoppelung des eigenen Netzes äußerst fragwürdig. Der Schutz kritischer Infrastruktur könnte auch durch separate Netze für diese Objekte und den kontrollierten Übergang in das globale Netz ermöglicht werden.

Wie passt nun die Beobachtung, dass das russische Internet verhältnismäßig frei ist, mit der (unvollständigen) Liste einschränkender Gesetze zusammen? Es geht bei den Gesetzen nicht in erster Linie darum, die absolute Kontrolle zu bekommen, sondern selektiv und beliebig eingreifen zu können. So gibt es bereits etliche Urteile, in denen Personen belangt wurden, wie den Fall des bekannten Menschenrechtsaktivisten Lev Panomarjow, der für einen Like eines fremden Demonstrationsaufrufs zu 15 Tagen Haft verurteilt wurde. Das Ziel des Staates ist, möglichst viel zu wissen und immer mal wieder einzugreifen, um einen Mechanismus zu fördern, der viel effektiver ist als jeder staatliche Zensurapparat: die Selbstzensur.

Natürlich haben auch die russischen Sicherheitsdienste, wie vermutlich die meisten Dienste dieser Art in der Welt, das Interesse, maximale Kenntnis über die Informationen zu erhalten, die im Internet kursieren. Aber Russlands virtuelle Zukunft wird nicht der chinesischen Gegenwart entsprechen. Das Einrichten einer »Great Firewall« mit umfassenden Filterungen der Inhalte kann in Russland so kaum funktionieren. Zum einen ist Russland darauf technisch nicht vorbereitet. Ein Beispiel hierfür bot die Auseinandersetzung mit dem Messenger-Dienst Telegram. Der russische Geheimdienst drängte auf die Herausgabe der Verschlüsselungscodes für die Kommunikation, doch der mittlerweile im Ausland lebende Inhaber Pavel Durov wehrte sich. Die Konsequenz ist, dass der Messenger in Russland verboten ist und gesperrt werden sollte. Bis heute ist er aber erreichbar und wird zum Teil sogar von Politikern genutzt. Des Weiteren könnte eine Abschottung wie in China aus wirtschaftlichen Gründen kaum funktionieren. Während die zweitgrößte Volkswirtschaft mit ihrem gigantischen Binnenmarkt groß genug ist, um viele technische Dienstleistungen über Server im eigenen Land selbst abzuwickeln, wird das bei Russland kaum sinnvoll sein. Zum einen sind schnelle ungehinderte Verbindungen z. B. zur Analyse von Daten oder zum Informationsaustausch in Unternehmen wirtschaftlich enorm wichtig. Der wichtigste Grund aber dürfte die Gesellschaft selbst sein.

Die russische Bevölkerung ist mit einem freien Internet aufgewachsen, sie nutzt eifrig die technischen Möglichkeiten und wird kaum bereit sein darauf zu verzichten. Dies gilt auch und gerade für Meinungsäußerungen. Denn bereits in der Sowjetunion gab es einen geschützten Bereich, in dem sich jede und jeder aufregen, auf die Oberen schimpfen und sich beschweren konnte: die heimische Küche. Im unabhängigen Russland gilt diese »Küchenfreiheit« auch in Maßen im öffentlichen und vor allem im virtuellen Raum. Man darf sich aufregen und beschweren, so lange man nicht aktiv zum politischen Kampf aufruft. Mit den Gesetzen gegen Respektlosigkeit gegen staatliche Organe wird bereits dieser Konsens aufgekündigt, was zum deutlichen Anwachsen der Proteststimmung der letzten Monate beitrug. Eine weitere Einschränkung oder auch nur die umfassende Anwendung dieser Gesetze wird zu erheblicher Gegenwehr führen.

Denn bei aller Akzeptanz der starken Hand, die das Land führt, eines ist der russischen Bevölkerung doch wichtiger: die Freiheit sich auch mal über diese Führung aufregen zu dürfen. Da sind Russinnen und Russen einfach zu europäisch.

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