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Plädoyer für Friedensperspektiven in Zeiten des Krieges Vertrauensbildung zwischen Feinden

Stell` Dir vor, es ist Krieg, und keiner redet über Frieden! So oder so ähnlich ließe sich manche Kritik am deutschen Diskurs zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zuspitzen. Jürgen Habermas hat sogar vor dem »bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung« gewarnt und für ein energischeres Drängen des Westens auf Friedensverhandlungen plädiert. Ist Habermas` Plädoyer angesichts der Gräuel von Butscha, Irpin und Mariupol naiv oder sogar »aufreizend apolitisch« (Christian Geyer)? Oder müsste nicht gerade im Krieg mehr über Verhandlungen nachgedacht werden?

Jenseits von Schwarz und Weiß

Die Fronten sind nicht nur im Ukrainekrieg, sondern mittlerweile auch im öffentlichen Diskurs über diesen verhärtet. Hierzulande entzündet sich der Streit vor allem an deutschen Waffenlieferungen. Befürworter*innen einer entschiedenen – auch militärischen – Unterstützung der Ukraine werden entsprechend als »Kriegstreiber*innen« diffamiert, pazifistische Stimmen hingegen als dumm, naiv oder sogar als »Putinversteher*innen«.

So einleuchtend die Gegenüberstellung von Waffenlieferungen und Verhandlungslösung auf den ersten Blick auch sein mag: Es handelt sich um einen Scheinwiderspruch. Denn erst die militärische Unterstützung aus dem Westen befähigt die Ukraine, ihr Existenzrecht gegen einen imperialistischen Aggressor zu verteidigen – und damit überhaupt als souveräner Akteur an (künftigen) Verhandlungen teilnehmen zu können.

Völkerrechtlich betrachtet ist die Lage eindeutig: Der Westen darf der angegriffenen Ukraine Waffen liefern. Aber auch moralisch und politisch ist die militä­rische Unterstützung der Ukraine geboten (wie auch Habermas argumentiert): Sowohl für die Menschen dort als auch für die europäische Sicherheitsordnung wäre ein russischer Diktatfrieden eine Katastrophe. Erste Forderung einer friedenspolitischen Agenda muss daher sein: Russland muss seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen!

Schwieriger zu beurteilen ist die Sorge vor einer Eskalation der Gewalt. Man kann aus guten Gründen kritisieren, dass dieses Argument vor allem dann angeführt wird, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht, während vor allem die russische Armee für die Gewalteskalation in der Ukraine verantwortlich ist. Richtig ist aber auch, dass der Drohung Russlands, nuklear zu eskalieren – trotz der massiven Forderungen, dies im Namen des »Friedens« zu tun (etwa vom russischen Politologen Sergej Karaganow) – bislang nichts gefolgt ist.

Russische Drohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Und dennoch: Ob Putin nicht doch taktische Atomwaffen einsetzen wird, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlen sollte, weiß niemand. Man sollte entsprechende Sorgen daher nicht als German Angst ins Lächerliche ziehen. Bekanntlich sieht ja die russische Nukleardoktrin dezidiert den Ersteinsatz taktischer Nuklearwaffen vor. Christopher Daase von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) ist daher zuzustimmen, dass die russischen Drohungen nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Daase zufolge war die Welt nie dichter an einem Nuklearkrieg als sie es im gegenwärtigen Konflikt um die Ukraine ist.

Es ist daher richtig, dass die westlichen Alliierten mit Blick auf die Lieferung von Waffen auf Sicht fahren und die Reaktionen Russlands im Auge behalten. Das bringt aber ein weiteres Dilemma mit sich: Mit einem allzu zögerlichen Vorgehen wächst nicht nur die Gefahr, dass der Westen die Ukraine militärisch zu wenig und zu spät unterstützt, sondern auch, dass der Westen aus russischer Sicht als Papiertiger wahrgenommen wird.

All das zeigt: Es ist kompliziert. Kriegs- und Friedenslogik sind mitnichten dasselbe – aber sie sind im Ukrainekrieg leider auch nicht völlig voneinander zu trennen. Der Ausgang des Krieges in der Ukraine wird auch auf dem Schlachtfeld entschieden – aber keineswegs nur: Deswegen ist der alleinige Fokus auf die militärischen Entwicklungen unzureichend. Es braucht mehr Perspektiven darauf, wie ein Übergang vom Krieg zum Frieden in der Ukraine gelingen könnte.

Vom Krieg zum Frieden: Empirische Befunde

Diese Perspektiven braucht es umso mehr, als zwischenstaatliche militärische Konflikte nur selten mit einem »Siegfrieden« enden: Nach dem Conflict Termination Dataset des Uppsala Conflict Data Project trifft das nur auf 20 Prozent der Konflikte zu. Über 30 Prozent der Konflikte werden ohne klares Ergebnis (jedenfalls vorübergehend) eingefroren, und immerhin 46 Prozent der militärischen Konflikte enden durch Verhandlungen (davon 16 Prozent durch Friedensabkommen und 30 Prozent durch Waffenstillstandsabkommen). Bleibt ein schneller militärischer Erfolg aus, kann es dann zu Verhandlungen kommen, wenn ein Patt eingetreten ist und keine der Konfliktparteien noch davon ausgeht, durch militärisches Handeln die eigene Verhandlungsposition noch verbessern zu können.

Wie etwa Nicole Deitelhoff zu bedenken gegeben hat, handelt es sich bei diesen Angaben um empirisch belegte Muster – um nicht mehr, aber auch nicht um weniger. Nimmt man diese Muster ernst, lässt sich mit Blick auf den Krieg in der Ukraine zweierlei schlussfolgern:

Erstens: Der klare militärische Sieg einer der beiden Parteien scheint derzeit unwahrscheinlich – es sei denn, das politische System Russlands würde zerfallen oder der Westen stellte seine Unterstützung für die Ukraine ein.

Zweitens: Wir müssen uns – Stand Herbst 2023 – auf einen (sehr) langen Krieg einstellen: Beide Konfliktparteien gehen weiterhin davon aus, einen »Sieg« davontragen zu können – was auch immer das im Einzelnen heißen mag – oder zumindest ihre Verhandlungspositionen durch Verzögern (mit Blick etwa auf die nächsten Wahlen in den USA, Hoffen auf eine Regierungsschwäche in Russland) verbessern zu können.

Noch lange kein Frieden?

Deshalb ist der Einschätzung zuzustimmen, dass »die Lage in der Ukraine für einen Friedensschluss gegenwärtig nicht günstig« und »eine Beendigung des Krieges unter akzeptablen Bedingungen für eine stabile europäische Friedensordnung eher unwahrscheinlich« ist (Nicole Deitelhoff). Das von den deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegebene Friedensgutachten trägt diesen Befund 2023 auch in seinem Titel: »Noch lange kein Frieden«.

Forderungen nach einem Übergang vom Krieg zum Frieden laufen momentan ins Leere, aber es gibt sinnvolle und gangbare diplomatische Wege.

Gerade aber weil der Krieg in der Ukraine noch lange andauern dürfte, stellt sich die dringliche Frage, wie ein Übergang vom Krieg zum Frieden gefördert werden kann. Da keine der beiden Konfliktparteien gegenwärtig zu Friedensverhandlungen bereit ist, laufen entsprechende Forderungen ins Leere. Die Ukraine ist aus guten völkerrechtlichen, politischen und moralischen Gründen nicht bereit, ihr Territorium im Osten und Süden aufzugeben. Die Wiedergewinnung der von Russland eroberten Gebiete hat Verfassungsrang. Angesichts der genozidalen Kriegsführung Russlands fehlt es auch an Vertrauen in mögliche Verhandlungen.

Putin wiederum hat in seiner Propaganda weitreichende Ziele für die sogenannte »Spezialoperation« ausgegeben und überdies die eroberten Gebiete zu russischem Territorium erklärt (ein klarer Verstoß gegen Artikel 5 der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen von 1974). Damit ist die Latte auf beiden Seiten für Kompromisse außerordentlich hoch gelegt.

Gleichwohl gibt es diplomatische Wege, die schon vor eigentlichen Friedensverhandlungen sinnvoll und erfahrungsgemäß auch für verfeindete Konfliktparteien gangbar sind:

Erstens: Es braucht mehr direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine unterhalb von Verhandlungen, die das (mittlerweile von Russland gebrochene) Getreideabkommen ebenso wie den Gefangenenaustausch ermöglicht haben. Solche Gespräche bringen keinen Frieden. Sie können aber als »Oasen erfolgreichen Verhandelns« (Hanne-Margret Birckenbach) die – auch globalen – Auswirkungen des Krieges mildern. Im besten Fall liefern sie Ansatzpunkte für einen zumindest dünnen Vertrauensaufbau zwischen den Feinden, wenn gemachte Zusagen eingehalten werden. Dieses wenn auch dünne Vertrauen kann spätere Friedensverhandlungen begünstigen.

Zweitens: Vor Friedensverhandlungen könnte es um einen »Waffenstillstand unter Ausklammerung von politischen Konflikten«gehen. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür liefert Korea – der Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea hält immerhin schon seit 70 Jahren.

Drittens: Neben den westlichen Alliierten der Ukraine (insbesondere den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) werden etwa Brasilien, Indien, China, und Indonesien als mögliche Mediatoren ins Spiel gebracht – selbst wenn die Neutralität der Mächte durch ihre Nähe zu Russland (China, Indien) beziehungsweise zur Ukraine (westliche Alliierten) bezweifelt werden darf.

Ein multilateraler Friedensprozess der Vereinten Nationen wäre der bessere Weg.

Viertens: Eine bessere Alternative wäre unter diesem Gesichtspunkt ein multilateraler Friedensprozess der Vereinten Nationen. Letztere haben im Rahmen des Getreideabkommens bereits eine vermittelnde Rolle gespielt. Und auch wenn der UN-Sicherheitsrat aufgrund des russischen Vetos blockiert ist, hat die Generalversammlung die russische Aggression mit großer Mehrheit verurteilt. Der Rechtswissenschaftler Ulrich Fastenrath etwa empfiehlt zudem die Bildung von Experten- und Verhandlungskommissionen, um Russland mit Blick auf seine Verletzungen des (Humanitären) Völkerrechts unter Rechtfertigungsdruck zu setzen und um zugleich Wege aus dem Krieg zu diskutieren.

Fünftens: Schließlich könnten die Vereinten Nationen die annektierten Gebiete in der Ostukraine zeitweise unter internationale Verwaltung stellen, um dort zu einem späteren Zeitpunkt demokratische Referenden abzuhalten – vorausgesetzt, die Ukraine selbst erachtet diesen Schritt als sinnvoll.

Neben diesen Schritten zum Frieden benötigt die Ukraine Sicherheitsgarantien, um Russland von einem erneuten Angriff effektiv abzuschrecken. Hier sind vor allem die USA und die westlichen Alliierten gefragt. Auch die Aufnahme der Ukraine in die EU, etwa in einem beschleunigten Verfahren (fast-track-Modell), wird derzeit diskutiert.

Schließlich müssen die Großmächte USA und Russland miteinander in Kontakt bleiben, nicht zuletzt, um eine nukleare Eskalation zu vermeiden. Das Beispiel der Kubakrise von 1962 mahnt, dass nicht maximale Härte, sondern Konzessionsbereitschaft auf beiden Seiten die Gefahr eines Atomkrieges abwendeten. Solche historischen Erfahrungen unterstreichen die Bedeutung von Vertrauensbildung auch und gerade zwischen Feinden.

Aus dem bis hierhin Gesagten folgt, dass die Ukraine politisch, ökonomisch und auch militärisch nicht im Stich gelassen werden darf, und dass zugleich verstärkt nach Wegen zum Frieden gesucht werden muss. Damit das gelingen kann, braucht es weniger Polemik und mehr sachlich-differenzierte Diskussionen über den Krieg in der Ukraine sowie über die sogenannte »Zeitenwende« in Deutschland (die durchaus ihre Risiken mit sich bringt, etwa eine ökonomisch getriebene Stärkung der Rüstungsindustrie).

Kurzum: Es braucht mehr Friedensperspektiven im Krieg – selbst wenn der Frieden »noch lange« nicht in Sicht ist.

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