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Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg ©

picture alliance / | Daniel Kalker

Strategische Souveränität der EU als Ziel Viele Baustellen

Fragen zu Krieg und Frieden waren immer präsent, aber selten mobilisierungsfähig.

Fragen zu Krieg und Frieden waren zwar immer präsent, etwa in den 90er Jahren angesichts der Kriege auf dem Balkan oder nach dem 11. September 2001, als über den »Krieg« gegen den internationalen Terrorismus diskutiert wurde. In Europawahlkämpfen waren Themen der Friedenssicherung und Verteidigung schon auf mitgliedstaatlicher Ebene eher selten mobilisierungsfähig, der Interessentenkreis für deren Rolle auf EU-Ebene eher klein.

Das könnte sich ändern. Denn Antworten auf drängende Fragen des Umgangs mit Aggressoren, zum Ausbau ziviler und militärischer Schutzkapazitäten unter EU-Flagge sowie deren Verhältnis zur NATO, zur künftigen Friedensordnung des Kontinents, aber auch zur strategischen Souveränität der EU im 21. Jahrhundert treiben dank Wladimir Putin heute mehr Menschen in Europa um als vor dem 24. Februar 2022.

Kein Zweifel: Die aufgeworfenen Fragen sind wichtig und es ist sinnvoll, diese nicht in abgeschotteten nationalen Diskursen, sondern auf europäischer Ebene zu behandeln. Jedoch besteht die Gefahr, dass der Krieg gegen die Ukraine im Europawahlkampf ein Übergewicht bekommt. Das wäre fatal, denn die Union hat in der nächsten Legislaturperiode bis 2029 zahlreiche wegweisende Entscheidungen zu treffen. Diese liegen nicht notwendigerweise jenseits des Themenkomplexes friedlicher Stabilität auf dem Kontinent, fassen seine Begrifflichkeit aber weiter.

Geopolitische Bedeutung wird die EU nicht in erster Linie auf den Feldern der GASP gewinnen, sondern eher indem sie ihre politischen und wirtschaftlichen Konturen schärft und mit einem überzeugenden inneren Zusammenhalt aufwarten kann. Auch die strategische Souveränität, wie sie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron bereits in seiner Rede an der Pariser Sorbonne 2017 vorschlug, wird falsch verstanden als eine Art Aufrüstungs- und Autarkieprogramm. Doch souverän ist die EU vor allem, wenn sie Antworten auf die vielgestaltigen transnationalen Risiken und Herausforderungen findet und diese kooperativ in einem gefestigten demokratischen Institutionengefüge umsetzen kann.

»Ein eigenes europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell erscheint wichtiger denn je.«

Die letzten 15 Jahre waren für die EU eine Aneinanderreihung von Krisen, von der globalen Finanzkrise 2008/09 bis zur Energiekrise 2022/23. Die meisten brachten neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme mit sich. Ob Eurokrise, Migration, Brexit oder Pandemie: Immer ist Streit entbrannt zwischen den Mitgliedstaaten, auch in und mit den EU-Institutionen, über die richtigen Wege aus der Krise, über die Schnelligkeit und Einigkeit ihrer genuin europäischen Bewältigung. Die Existenz, die Pflege und Verteidigung eines eigenen europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells erscheint vor diesem Hintergrund wichtiger denn je. Damit ließe sich die strategische Souveränität des Staatenbundes beschreiben. Doch dieses Modell ist unklar definiert und zeigt ein gestörtes sozioökonomisches Gleichgewicht.

Transformation der europäischen Wirtschaft

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Einbindung des Digitalen in die Arbeitswelt sind keine Themen, die am besten im europäischen Wettbewerb gegeneinander gedeihen. Auf beiden Feldern sind supranationale Anstrengungen gefragt, um möglichst schnell und nachhaltig mit dem Umbau voranzukommen. Bereits die Europäische Kommission von Jean-Claude Juncker hatte ein Projekt zur Vollendung des digitalen Binnenmarktes gestartet, und die Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen hat ein politisches Programm mit dem Titel »Digitale Dekade« vorgeschlagen, in dem digitale Rechte und Prinzipien sowie Ziele für die digitale Transformation bis 2030 formuliert werden. Auch der Kampf gegen den Klimawandel wurde mit dem europäischen Green Deal und dem europäischen Klimagesetz von 2021 vorangetrieben. Beide Transformationsziele sind mit finanziellen Mitteln unterlegt, die aus einer Vielzahl von Einzelprogrammen stammen, vor allem aber aus dem Just Transition Fund mit 17,5 Milliarden Euro und Schwellenwerten im NextGenerationEU-Investitionspaket von insgesamt 750 Milliarden Euro.

Die grüne und digitale Doppeltransformation könnte in der EU stärkere Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung haben als der Übergang der Dominanz vom industriellen Sektor auf den Dienstleistungssektor und wird mit Sicherheit zu neuen sozialen Konflikten führen. Die EU ist sich dessen zwar bewusst. Es ist jedoch überhaupt nicht klar, wie die absehbaren sozialen Probleme angegangen werden könnten. Die konkreteste Initiative der EU ist die geplante Einrichtung eines sozialen Klimafonds als neues Instrument zur finanziellen Unterstützung von Menschen und Unternehmen, die am stärksten von den Emissionszielen der Dekarbonisierung betroffen sind und unter Energiearmut leiden. Der Fonds soll aus den Einnahmen der CO2-Bepreisung des Verkehrs und des Heizens bestehen und wird mit bis zu 65 Milliarden Euro veranschlagt.

Die bestehende Asymmetrie sollten nicht durch einen weiteren Konflikt verstärkt werden.

Die doppelte Transformation wird die Art und Weise, wie wir die Wirtschaft organisieren, für lange Zeit prägen und damit über die Fähigkeit der EU entscheiden, ein spezifisches europäisches Wachstumsmodell zu entwickeln. Wichtig wäre es, die Herausforderungen auf supranationaler Ebene zu bündeln, um nicht unbeabsichtigt die bereits bestehenden sozioökonomischen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Zudem sollte die bereits bestehende konstitutionelle Asymmetrie zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen nicht durch einen weiteren Konflikt zwischen grünen und digitalen Zielen auf der einen und sozialen Zielen auf der anderen Seite verstärkt werden.

Umgang mit künftigen Wirtschafts- und Sozialkrisen

Die übliche Verteilung der Zuständigkeiten in einer die EU treffenden Wirtschaftskrise sieht so aus: Die Mitgliedstaaten reagieren autonom in unterschiedlichem Ausmaß bis zu dem Punkt, an dem sie erkennen, dass die Krise eine konzertierte europäische Antwort erfordert. Nach langen Verhandlungen einigt man sich auf ein gemeinsames Instrument zur Krisenbewältigung, überlässt die Verantwortung für die Folgen der Umsetzung aber wieder den jeweiligen Kapazitäten der Mitgliedstaaten. Diese Vorgehensweise führt immer wieder zu unerwünschten Folgen, insbesondere im sozialen Bereich.

Nach wie vor ist das Fehlen einer umfassenden EU-Sozialpolitik auf gleicher Augenhöhe mit der wirtschaftlichen Integration dafür verantwortlich, dass wirtschaftliche Krisenlösungen deren soziale Auswirkungen zumeist vernachlässigen. Die Selbstverpflichtung der EU in ihrer horizontalen Sozialklausel (Art. 9 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU; AEUV) zur Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, zur Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes und zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung geht in schweren Wirtschaftskrisen in der Praxis leider oft unter. Was zu ihrer Umsetzung fehlt, ist ein EU-Werkzeugkasten mit Instrumenten, die es ermöglichen, sozialpolitische Entwicklungen nicht nur zu überwachen, sondern auch sofort auf soziale Verwerfungen zu reagieren.

Während der Pandemie hat die EU eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise entwickelt, die auch soziale Elemente umfasst: Das NextGenerationEU-Investitionspaket zwingt die Mitgliedstaaten, ihre Projekte in Einklang mit den Herausforderungen der Doppeltransformation und den sozialen Zielen der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) zu planen. Dies und das sehr erfolgreiche Kurzarbeitsinstrument SURE, mit dessen Hilfe in der Pandemie 100 Milliarden Euro auf Kreditbasis an die Mitgliedstaaten zur Beschäftigungssicherung ausgezahlt wurden, helfen den sozialen Fortschritt in schwierigen Zeiten zu fördern. Auch die vorübergehende Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hat wesentlich dazu beigetragen, die tradierte Reihenfolge der budgetären und sozioökonomischen Ziele im Europäischen Semester besser zu balancieren.

Um soziale Verwerfungen in der nächsten Wirtschaftskrise zu vermeiden, wird daher ein finanzunterlegtes Instrument benötigt. SURE sollte von einem befristeten Instrument zu einer institutionalisierten europäischen Arbeitslosenrückversicherung ausgebaut werden, die über die Unterstützung von Kurzarbeit hinausgeht. Gerade die Währungsunion benötigt für die nächste schwere Krise einen automatischen Stabilisator der Konjunktur.

Sozioökonomische Ungleichgewichte vermindern

Wirtschaftliche, soziale und territoriale Konvergenz gehören zu den Zielen, denen sich die Gemeinschaft verschrieben hat. Die »ever closer union« soll sich nicht nur institutionell, sondern auch in einem sukzessiven Zusammenwachsen der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten zeigen. Zwar gab es in der Vergangenheit einige positive Beispiele für Aufholprozesse (etwa in Irland, Spanien und Portugal), doch ist die Entwicklung hin zu gesamteuropäischem Wohlstand zu langsam und umkehrbar.

Die Vor- und Nachteile im gemeinsamen wirtschaftlichen Integrationsraum sind ungleich verteilt, was zu unterschiedlichen Präferenzordnungen führt. Einige Mitgliedstaaten – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – profitieren vom innereuropäischen Wettbewerb um Investitionen durch niedrige Löhne, Steuern und Sozialausgaben. Sie sorgen sich um wirtschaftliche Nachteile durch die Festlegung zu hoher europäischer Sozialstandards. Andere befürchten dagegen eine Nivellierung ihrer hohen wohlfahrtsstaatlichen Standards im Nationalstaat, so etwa die skandinavischen Länder. Europäische Regeln könnten in dieser Perspektive zur Aufweichung und Unterwanderung dessen führen, was Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien in vielen Jahrzehnten an sozialen Rechten erkämpft haben. Wenn die sozioökonomischen Ungleichgewichte in der EU wachsen, werden die Herausforderungen des Sozial-, Lohn- und Steuerdumpings natürlich größer.

Die EU sollte dringend ihr Versprechen der Konvergenz erneuern. Denn während die politische Rhetorik die Gemeinsamkeiten in der gesamten Union betont, zweifeln die Bürgerinnen und Bürger mit jeder Krise zunehmend daran, dass sie in demselben Boot sitzen. Das Gefühl, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern der europäischen Integration zu gehören, geht über sozioökonomische Details hinaus: Parallel zur Krisenkaskade der letzten 15 Jahre haben rechtsextreme, nationalistische und fremdenfeindliche Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten an politischem Boden gewonnen.

Ihnen ist die Schaffung und Betonung einer europäischen Identität entgegenzuhalten, die allerdings auf faktischer wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Konvergenz beruhen muss. Der EU damit eine neue Rolle als Puffer gegen globale Risiken zu geben, würde bedeuten, den anstehenden strukturellen Wandel der Doppeltransformation bis in die regionale Entwicklung zu begleiten und zu gestalten.

»Es sollten mehr EU-weite Mindeststandards für die soziale und regionale ökonomische Entwicklung auf den Weg gebracht werden.«

Das bestehende Prinzip des Wettbewerbs der Wohlfahrtsstaaten im gemeinsamen Markt ist ebenso wenig hilfreich wie der interregionale Wettbewerb, um die doppelten räumlichen und sozialen Disparitäten anzugehen. Vielmehr begünstigt der wettbewerbsorientierte Ansatz die Metropoleregionen und sozio­ökonomisch gut dastehende Länder. Eine Angleichung der Lebensbedingungen könnte aber erreicht werden durch die Entwicklung einer integrierten Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU, die Sozial- und Zukunftsinvestitionen finanzi­­­­ellen Raum in der wirtschaftspolitischen Governance gibt. Ein Konvergenzinstrument zur Verhinderung sozialer Ungleichgewichte ist ein Anfang. Eine in der Reform der EU-Fiskalregeln nicht mehrheitsfähige goldene Regel zur Ausklammerung von Sozialinvestitionen bleibt eine richtige Forderung. Zudem sollten mehr EU-weite Mindeststandards für die soziale und regionale ökonomische Entwicklung auf den Weg gebracht werden, die aber Spielraum für die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten lassen, wie es etwa in der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne praktiziert wird.

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