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Vielfalt Europas als Kern einer sozialdemokratischen Vision

Der letzte SPD-Bundestagswahlkampf war geprägt von einer Europamüdigkeit, die angesichts der Tatsache, dass der Kanzlerkandidat Martin Schulz ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments war, überraschen muss. Die SPD hat im Wahlkampf wichtige europapolitische Reformen angemahnt, hat es aber nicht geschafft, Europa als zentrales Wahlkampfthema zu lancieren. Der Grund dafür war das Fehlen einer europapolitischen Vision. Ein europäisches Sozialprotokoll, die Bekämpfung von Steuervermeidung und mehr öffentliche Investitionen sind wichtige politische Forderungen. Diese Forderungen allein reichen allerdings nicht aus, um das Thema Europa prominent auf die öffentliche Agenda zu setzen. Was fehlte, war die so oft beschworene »Erzählung«, die die politisch wichtigen Forderungen sinnvoll eingebettet hätte. Dabei hat es Emmanuel Macron in Frankreich doch vorgemacht: Mit einer visionären Europapolitik lassen sich auch heute noch Wahlen gewinnen. Von Macron kann sich die deutsche Sozialdemokratie den Mut zu weitgehenden europapolitischen Visionen abgucken. Seine Idee eines souveränen Europas sollte dabei der deutschen Sozialdemokratie jedoch nicht als Blaupause dienen. Eine neue sozialdemokratische Erzählung könnte stattdessen die Idee einer europäischen Republik souveräner Staaten ins Zentrum stellen.

Ganz anders als die deutschen Sozialdemokraten hat Macron öffentlich wirksam seine Vision eines souveränen Europas ins Zentrum des Wahlkampfs gestellt. In seiner Rede an der Pariser Sorbonne im September dieses Jahres hat er die Eckpfeiler seiner Vision genauer skizziert. Er strebt ein souveränes Europa mit einer eigenen Armee, eigenem Budget und einer eigenen Grenzpolitik an. Doch seine Rede ist viel mehr als eine Anreihung von progressiven Reformvorschlägen. Macron hat es geschafft, diese Reformvorschläge in eine Geschichte einzubetten, deren Held er wahlweise selbst ist oder Frankreich und seine Partner. Das Ziel ist nichts weniger als »die Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas«. Die Bösewichte, die das zu verhindern versuchen, sind »Nationalismus, Identitarismus, Protektionismus und Souveränismus durch Abschottung«. Mit seinem Plädoyer für ein Europa, das »uns beschützt«, hat Macron es geschafft, eine Erzählung zu formulieren, die in der französischen Bevölkerung eine Europa-Euphorie ausgelöst hat und europaweit dringend anstehende Reformprozesse ankurbelt.

Problematisch an seiner Vision ist allerdings die Hervorhebung der Einheit Europas und einer europäischen Souveränität. Seine Vision basiert auf der Idee eines föderalen Europas, eine Vorstellung, die seit Jahrzehnten den politischen Diskurs zur EU prägt. Föderalisten streben eine politische Einheitsunion an, einen europäischen föderalen Staat, mit der Übertragung weitgehender Hoheitsrechte auf die europäische Ebene. Wie der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm in seiner Diskussion des Souveränitätsbegriffs in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 15. November unterstreicht, besteht die konsequente Fortführung von Macrons Vision einer souveränen EU in einer Verstaatlichung dieses politischen Herrschaftsgebildes.

Eine solche Vision von der Zukunft der EU ist meines Erachtens nicht zeitgemäß und normativ nicht wünschenswert. Nicht zeitgemäß ist sie deshalb, weil europaskeptische politische Bewegungen in vielen Mitgliedsstaaten auf dem Vormarsch sind. In vielen Ländern findet die undifferenzierte Forderung nach einem »Mehr an Europa« keine politischen Mehrheiten mehr. Ganz im Gegenteil: Eine solche Forderung birgt die Gefahr einer zunehmenden Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung vom politischen Establishment. Laut einer Umfrage, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben wurde (»Was hält Europa zusammen? Die EU nach dem Brexit«), haben Bürger/innen eine sehr differenzierte Einstellung zur europäischen Integration. Sie befürworten eine Vertiefung in manchen Politikbereichen, etwa der Verteidigungspolitik oder der Besteuerung internationaler Unternehmen. In anderen Politikfeldern wie der Sozialpolitik wünschen sie keine Einmischung durch die europäische Ebene. Eine Lehre daraus ist, dass die Sozialdemokratie auch versuchen sollte, den Diskurs zur Zukunft der EU differenziert zu führen. Der föderalistische Traum einer immer engeren Union verfängt nicht mehr. Ein pauschales »Mehr an Europa« überzeugt zunehmende Teile der Bevölkerung nicht. Die Sozialdemokratie sollte die weit verbreitete Skepsis gegenüber Forderungen nach weitergehenden Kompetenzübertragungen auf die EU ernst nehmen.

Macrons Vision ist zudem normativ nicht wünschenswert, weil Souveränitätsübertragungen auf die EU-Ebene mit einer Schwächung des Nationalstaates einhergingen. Ob damit die Legitimationsprobleme der EU beseitigt würden, ist höchst zweifelhaft. Viele Bürger/innen fühlen sich ihrem Nationalstaat verbunden. Dieser stellt eine schützenswerte, demokratische Arena dar, in der historisch gewachsene Institutionen für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgen. Zudem garantiert der nationale Wohlfahrtsstaat ein Maß an sozialer Absicherung, das historisch einmalig ist. Solange wir noch weit von der Entstehung eines europäischen Demos entfernt sind, bleibt der Nationalstaat diejenige politische Organisationsform, in der sich das Ideal der demokratischen Selbstbestimmung bestmöglich realisieren lässt.

Eine neue sozialdemokratische Vision für die EU sollte als Ausgangspunkt die Verbundenheit der Bevölkerung zur eigenen Nation nehmen und gleichzeitig die Vorteile und die Notwendigkeit europäischer Kooperation hervorheben. Ein Leitbild, an dem sich eine solche Vision orientieren könnte, wäre die Idee einer europäischen Republik souveräner Staaten, wie es der Politikwissenschaftler Richard Bellamy in einem Beitrag für das European Journal of Political Theory skizziert. Seine Theorie führt das Konzept der EU-Demoicracy konsequent fort. Demnach gibt es auf europäischer Ebene keinen einheitlichen »Demos«, sondern diverse und vor allem nationalstaatlich organisierte »Demoi«, deren Positionen angemessen im EU-Institutionengefüge repräsentiert werden müssen. Er verteidigt das Konzept der Staatssouveränität: Für ihn ist sie die notwendige Bedingung zur Verwirklichung demokratischer Selbstbestimmung. Unter Rückgriff auf republikanische Demokratietheorien stellt er das Prinzip der non-domination ins Zentrum seiner Überlegungen: Vereinfacht ist damit gemeint, dass Bürger/innen frei von äußerer Kontrolle und Einfluss sein sollten. Das politische System der EU sollte dieses Prinzip durch eine umfassende Einbindung nationaler Parlamente und ein System der Checks and Balances verwirklichen. Souveräne Nationalstaaten sind in seiner Theorie ein konstitutiver Bestandteil einer republikanischen Assoziation, die angesichts globaler wechselseitiger Abhängigkeiten supranationale Institutionen schaffen, um zu verhindern, dass einzelne Staaten über andere herrschen.

Wollte man eine sozialdemokratische Erzählung entwickeln, die der Idee einer europäischen Republik souveräner Staaten gerecht wird, müsste man die Vielfältigkeit und nicht die Einheit Europas ins Zentrum stellen. Der Nationalstaat wäre in dieser Geschichte kein Bösewicht, sondern der Helfer auf dem Weg zu einem demokratischen und sozialen Europa. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU-Ebene ist im Einzelfall wichtig, um Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Ein souveränes Europa, das über den Mitgliedstaaten steht und diese beherrscht, ist hingegen abzulehnen.

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