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Junge Menschen wählen differenzierter Vielfalt statt Rechtsruck

Da senken die Ampelparteien (mit Unterstützung der Linken) das Wahlalter bei den Europawahlen von 18 auf 16 Jahre – und zum Dank wählen die jungen Menschen dann alle rechts. So lautet die kürzeste Interpretation des Ausgangs der Europawahl 2024 mit Blick auf das Wahlverhalten der Jüngsten. Ein »Rechtsruck« sei gerade bei jungen Wählerinnen und Wählern durchs Land gegangen – und das hat dann doch sehr viele Beobachter überrascht. Aber warum eigentlich? Das Muster, das junge Wählerinnen und Wähler am Wahltag an den Tag gelegt haben, war nicht neu. Und die einfache Diagnose eines Rechtsrucks geht noch dazu fehl.

Am 8. Oktober 2023 wurde in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Erinnert sich noch jemand, wer dort bei den jüngsten Wählerinnen und Wählern auf Platz eins gelandet ist? Richtig – die CSU, die bei den 18- bis 24-Jährigen ausweislich der Wahltagsbefragung von Infratest dimap mit 22 Prozent den ersten Platz belegte. Danach kamen die Grünen (18 Prozent), gefolgt von AfD und Freien Wählern mit 16 beziehungsweise 13 Prozent auf den Plätzen drei und vier. Auch die amtliche repräsentative Wahlstatistik zur bayerischen Landtagswahl 2023 bestätigt dieses Muster: 23 Prozent CSU, 19 Prozent Grüne, AfD 18, Freie Wähler 11. Sonderlich progressiv war das Wahlverhalten junger Menschen offensichtlich schon bei der bayerischen Landtagswahl nicht.

Gut, das ist Bayern, mag mancher einwenden. Schauen wir also nach Hessen, wo ebenfalls am 8. Oktober 2023 ein neuer Landtag gewählt wurde. Platz eins? Laut Wahltagsbefragung von Infratest dimap die CDU mit 21 Prozent, knapp vor der AfD mit 18 Prozent. Es folgen die Ampelparteien: Grüne (15), SPD (zwölf) und FDP (neun). Auch hier werden diese Ergebnisse größtenteils von der amtlichen repräsentativen Wahlstatistik bestätigt, die für die CDU 20 Prozent, für die AfD 17, für die Grünen 18, die SPD 13 und die FDP neun Prozent ausweist. Bemerkenswert sind die 23 Prozent, die auf weitere Parteien entfallen, was allerdings nicht weiter ausdifferenziert wird. Auch für Hessen wird man konstatieren müssen: Dominant progressiv haben die hessischen Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 24 Jahren nicht gewählt.

»Dass ›die Jungwähler:innen‹ überwiegend progressiv wählen, stimmt auch 2024 nicht.«

Und dieses bayerisch-hessische Muster hat sich nun eben bei der Europawahl fortgesetzt: Laut ARD-Wahltagsbefragung stimmten in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen 17 Prozent für die Union, 16 Prozent für die AfD, elf für die Grünen, neun für die SPD, sieben für die FDP, sechs jeweils für die Linke und das BSW – und weitere 28 Prozent für sonstige, »kleinere« Parteien. Die Ergebnisse der amtlichen repräsentativen Wahlstatistik stehen zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags noch aus, werden aber kaum anders ausfallen. Wirklich überrascht über das Wahlverhalten junger Menschen bei der Europawahl 2024 musste im Lichte dessen eigentlich niemand sein. Dass »die Jungwähler:innen« überwiegend progressiv wählen, stimmt offenkundig 2024 so wenig, wie es schon 2023 (nicht) galt.

Und doch ist auch hier Vorsicht geboten: Dass junge Wählerinnen und Wähler nicht (mehr) mehrheitlich progressiv wählen, bedeutet trotzdem noch lange nicht, dass sie für das Erstarken der Rechten im Land die größte Verantwortung tragen – und die sollte man ihnen daher auch nicht »in die Schuhe schieben«.

Dagegen sprechen (mindestens) zwei Gründe. Der erste ist geradezu trivial: Der Anteil junger Menschen an den Wahlberechtigten insgesamt und – angesichts ihrer relativ geringeren Wahlbeteiligung – erst recht an den tatsächlichen Wählerinnen und Wählern ist dafür schlicht viel zu klein. Und zudem gilt: Auch wenn der AfD-Anteil bei jungen Wählerinnen und Wählern gestiegen ist, so ist er bei der Europawahl 2024 immer noch niedriger gewesen als in vielen anderen (und noch dazu deutlich größeren) Altersgruppen. Den 16 Prozent für die AfD bei den 16- bis 24-Jährigen stehen 18 Prozent bei 25- bis 34-Jährigen und 45- bis 59-Jährigen und sogar 20 Prozent bei den 35- bis 44-Jährigen gegenüber. Oder anders formuliert: Absolut wie relativ kamen die meisten AfD-Stimmen bei der Europawahl 2024 nicht von den jüngsten Wählerinnen und Wählern. Auch wenn vielerorts von einem »Rechtsruck« bei den Jungen gesprochen und geschrieben wurde, so liegen die Ursachen für das Erstarken der AfD anderswo. Das Wahlverhalten junger Menschen dafür verantwortlich zu machen, versperrt den Blick auf die wahren Muster und Hintergründe!

Keine Gruppe hat vielfältiger gewählt

Das Wahlverhalten junger Menschen mit dem Label »Rechtsruck« zu versehen, führt wieder einmal zu einer falschen Vereinheitlichung dieser Gruppe und damit einer Verengung der Betrachtung, die den wahren Kern ihres Verhaltens verschleiert. Ruft man sich die oben präsentierten Zahlen nochmals in Erinnerung, so muss man doch eigentlich feststellen: Keine Gruppe hat bei der Europawahl (aber auch schon zuvor bei der Landtagswahl in Hessen) vielfältiger und facettenreicher gewählt als die Gruppe junger Menschen. Zählt man die Stimmenanteile von Union und SPD – also den traditionellen »Volksparteien« – zusammen, so kommen diese gemeinsam auf gerade einmal 26 Prozent bei den 16- bis 24-Jährigen. Dem stehen 28 Prozent gegenüber, die auf »sonstige Parteien« entfallen, wohlgemerkt über FDP, Linke und BSW hinaus. Volt etwa war hier besonders stark, aber auch viele andere Parteien konnten junge Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen. Bei Wählerinnen und Wählern über 70 dagegen vereinen Union und SPD noch fast 70 Prozent auf sich, »Sonstige« bekommen gerade einmal drei Prozent.

Stellt man sich das Ganze im Sinne altersgruppenspezifischer Parteiensysteme vor, so erinnert das der Älteren noch an das alte bundesrepublikanische System mit zwei prägenden Volksparteien und einigen weiteren kleineren Parteien (Grüne, FDP, AfD, auch BSW), aber wenig mehr. Das Parteiensystem der Jugend hat damit nichts zu tun. Dominante Parteien fehlen hier gänzlich, vielmehr sehen wir eine Vielzahl mittelgroßer und kleiner Parteien. Für Union und SPD könnte man sagen: Hier braut sich ganz schön was zusammen…

Parteibindungen fehlen

Warum ist das so? Bindungen zwischen Parteien und Wählerinnen und Wählern entstehen langsam, sie müssen sich im Laufe eines Lebens entwickeln. Frisch wahlberechtigte junge Menschen sind damit naturgemäß offener für Neues – und das nicht nur heutzutage: Auch früher schon haben neu entstehende Parteien vor allem bei jüngeren Wählergruppen Fuß fassen können.

Schwächer ausgeprägte Bindungen können auch erklären, warum viele (nicht alle!) junge Menschen bei Wahlen der jüngeren Vergangenheit – Bayern, Hessen, Europa – auch rechte Parteien gewählt haben: Der Kontext ist gerade so, dass progressive Parteien Mühe haben zu überzeugen, weil sie sich erstens mit den Themen der Zeit – allen voran Migration und Integration – schwertun, und weil sie zweitens als »Ampelregierungsparteien« ein schlechtes Ansehen genießen. Da stabile Bindungen an »etablierte« Parteien und das damit einhergehende diffuse Vertrauen auch in schwierigen Zeiten fehlen, schlagen diese situativen Kontextfaktoren gerade bei jungen Menschen voll durch. Entsprechend schwer tun sich gerade progressive Parteien, bei jungen Menschen zu punkten. Anders formuliert: Junge Menschen sind immer ein besonders sensibler Seismograf für die Stimmungslagen einer Zeit. Gerade bei ihnen sehen wir die Trends, die eine Wahl insgesamt prägen, häufig besonders deutlich.

»Erste Wahlerfahrungen sind prägend, sie legen das Fundament für eine lebenslange Wahlkarriere.«

Alles halb so wild also? Jein. Situative Kontextfaktoren können sich ändern; ebenso wie das Ansehen einzelner Parteien. Das haben nicht zuletzt auch die beiden jüngsten Europawahlen gezeigt: Während 2019 eine sehr »grüne« Wahl war, bei der vor allem junge Menschen in einer nie zuvor dagewesenen Zahl »grün« gewählt haben, sah dies im Juni 2024 bereits ganz anders aus. Und wie die jüngsten Wähler/innen 2029 wählen werden, wissen wir heute nicht. Nur: Die jungen Menschen dann werden andere sein als jene von heute, die bis dahin fünf Jahre älter sein werden. Das klingt trivial, hat aber gleichwohl einen wichtigen Kern. Erste Wahlerfahrungen sind prägend, sie legen das Fundament für eine lebenslange Wahlkarriere. Und die jungen Menschen 2023 und 2024 lernen gerade, wie vielschichtig die Optionen sind, die sich ihnen bei Wahlen stellen – von links bis (ganz) rechts. Diese Erfahrungen werden sie ihr Leben lang behalten und prägen.

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