Menü

© picture alliance / dpa | Maja Hitij

Renaissance der Flaggen und anderer Identitätszeichen Visuelle Kommunikation im politischen Feld

Früher hingen in Deutschland Flaggen doch nur in Schrebergärten, diesen Eindruck hatte man jedenfalls. In den späten 90er Jahren lebte ich in Unterfranken und dort wehten zudem noch die rot-weißen oder blau-weißen Identitätsmarker an der Stelle, wo der Maibaum aufgestellt werden sollte.

Anders in den USA. Sooft wir unsere Verwandten in Massachusetts besuchten, fiel mir auf, wie allgegenwärtig die Stars and Stripes waren: Sie hingen an jeder Veranda, vor Kirchen, Synagogen und Baseballstadien, in Little Italy ebenso wie in Chinatown, vor dem heruntergekommenen Wohnblock in Dorchester und neben der mit Pechkiefern umstellten Villa auf der Halbinsel Cape Cod.

Als ich ein Jugendlicher war, unterhielt ich mich mit meinem Vater – der damals als Offizier in der US Army diente – darüber, warum man in den Vereinigten Staaten von Amerika selbstverständlich die amerikanische Flagge verbrennen oder bespucken dürfe, aber auch darüber, wie stolz er selbst darauf sei, dass sie auf seiner Uniform zu sehen sei. Erst später lernte ich den konservativen Verfassungsrichter Antonin Scalia (1936–2016) schätzen, der in der Öffentlichkeit zwar die Flaggenverbrenner als weirdoes (Verrückte) verspottete, aber in seiner schwarzen Robe gekleidet das Recht darauf juristisch und argumentativ verteidigte, öffentlich die Meinung zu äußern, auch etwa durch die Zerstörung der Zeichen und Symbole des Staates.

Inzwischen ist Spätsommer 2022. Ich spaziere durch Marburg. Eine Studentenstadt mit engen Gassen und der ältesten protestantischen Hochschule der Welt. Mir fällt auf, dass überall Flaggen prangen. Andere als jene, mit denen ambitionierte Kleingärtner zum Beispiel am Frankfurter Stadtrand eine Art kolonialen Anspruch auf ihre Gemüsebeete erheben, indem sie die kroatische, deutsche oder spanische Flagge hissen. In Marburg, aber auch in Heidelberg oder Tübingen drücken die Flaggen nicht nationales Pathos aus, sondern signalisieren Zugehörigkeit und setzen ein moralisches – vielleicht sogar ein moralisierendes? – Zeichen.

Ihre Signifikanz ist ganz ähnlich wie die von Stickern oder Tätowierungen – die etwa blühende Kakteen im Topf zeigen und sich damit in eine populäre feministische Ikonografie einordnen lassen. Ein weiteres Symbol, das sich häufig mit Edding auf Laptops geschrieben oder als Tattoo findet, ist eine dreistellige Zahl, die die Menge an CO2 in ppm (parts per million) in der Atmosphäre im Geburtsjahr der Person anzeigen soll, 357 zum Beispiel für den Jahrgang 1993.

Es ist unübersehbar, dass sich gegenwärtig in der westlich geprägten Welt, trotz Säkularisierung und pragmatischem Gebrauch von Symbolen (etwa als Firmenlogo oder informationelles Piktogramm), eine Re-Moralisierung der Symbole vollzieht. Allerdings muss man offenbar keine Rückkehr der inzwischen an Wohnwagen vergilbten »Atomkraft — Nein Danke«-Aufkleber fürchten, denn die »Letzte Generation« beherrscht die symbolische Geste, das visuelle Statement, virtuos.

Verirre Dich niemals in Marburg

Über einem Marburger Restaurant hängt die Fahne mit dem Schriftzug »FCK AFD«, weiße Lettern, gerahmt von roten Balken auf schwarzem Nylon. Die Speisekarte besteht seitenweise aus überbackenen Nudelaufläufen in allen Variationen: der Klassiker wohl der Auflauf Karl Marx »mit Bandnudeln, Spinat, Hirtenkäse und Rinderhackfleisch in Knoblauch-Sahnesoße«. In einer Seitengasse im Erdgeschoss eines etwas schäbigen Hauses flattert in Schwarz-Weiß-Rot die Fahne der, ja richtig, »Antifaschistischen Aktion«.

Wenn ich das Kopfsteinpflaster der Barfüßergasse weiter entlang schreite, sehe ich in einem Fenster eine violette Fahne mit dem feministischen Venussymbol, darin eine geballte Faust. Die Besitzerin (?) dieser Flagge erweiterte ihre Aussagekraft mit Filzstift handschriftlich um folgende Formulierung: »SMASH THE PATRIARCHY«. Gegenüber hängt, schlaff und zerfleddert, eine weiße Fahne mit Sparkassenlogo. An der Fassade des Rathauses ist an diesem Tag, dem 8. Mai, ein seltsam unschlüssiges Flaggenarrangement zu sehen: aus französischer Trikolore, ultramarinblauer Europaflagge, darunter ein Fahnenmosaik aus den Nationalflaggen aller EU-Mitgliedstaaten.

Anders als bei der Tätowierung, die die sie tragende Person dramatisch in der Zeichensetzung involviert, spielen bei Flaggen weitere kulturgeschichtliche Bedingungen eine Rolle – etwa die Rituale, die um den Gebrauch von Flaggen als nationale Symbole entstanden sind, oder der Stellenwert der Flagge als das Symbol nationaler Identität. Anders als Sticker oder Graffiti, die in ihrer Verwendung häufig subversiv und anarchistisch immer dort sind, wo sie nicht sein sollen, also als produktive Störsymbole wahrgenommen werden, spielt bei Flaggen gerade ihre gewünschte repräsentative und demonstrative Verwendung eine Rolle für das, was sie als Zeichenträger beanspruchen.

In der Wettergasse mit ihren kleinen Fachwerkhäusern wehen mir Dutzende ukrainische Nationalflaggen von Erkern, Dachluken und Balkonen, sogar aus Schaufenstern entgegen. Der Krieg dauerte bei meinem Besuch erst zwei Monate an und noch nicht alle Marburger/innen, die sich mit ukrainischen Flaggen schmückten, wussten, ob die gelbe Fläche oben oder unten sein muss. Auch zeigen überall aufgehängte Plakate, zum Beispiel der Interventionistischen Linken Marburg, auch die sowjetische Flagge. Auf einem Plakat befindet sich neben Stern und Sichel auf rotem Grund eine Profildarstellung von Lenin, darunter steht in einer etwas lieblos gewählten, aber immerhin kursivierten Times New Roman: »TRINKEN GEGEN DIE GESAMTSCHEIßE«. Die Einladung der leninistischen Gruppe enthält offenbar auch eine intellektuelle Herausforderung, denn ein Kneipenquiz sei »inklusive«.

Am Nachmittag sah ich an einer Ampel einen tiefergelegten Opel Astra mit Bad Emser Kennzeichen, dessen Heckscheibe von einer Flagge der Russischen Föderation samt Doppeladler mit Brustschild ausgefüllt war.

Die in umgekehrter Farbreihenfolge gestaltete Regenbogenfahne scheint aus der Mode gekommen zu sein, denn diese verwendet in Marburg nur noch REWE. Offensichtlich hatten die Manager der Supermarktkette es zwar gut gemeint, als sie die alte, lediglich sechsfarbige Pride-Flagge prominent an den Märkten hissen ließen. Nicht mitbekommen hatten die REWE-PR-Strategen aber scheinbar, dass sich die Antidiskriminierungsbewegung in den letzten fünf bis sechs Jahren eine sehr elaborierte Symbolsprache zugelegt hat, die sowohl People of Color einbezieht wie auch die Ausdifferenzierung der LGBTQ+-Szene mit abbildet.

Angesagt scheint mir die zwischenzeitlich von dem Aktivisten und Designer Daniel Quasar 2018 entworfene Progress Pride Flag. Sie kombiniert sowohl die Elemente der Pride-Flagge (im achtfarbigen Philadelphia-Design) mit der Transgender-Flagge, diese allerdings von links her als Keil angeordnet, um sich von der Formsprache der südafrikanischen Nationalflagge inspirieren zu lassen und im Einsatz für Antidiskriminierung sexistische und rassistische Energien unter einer vereinheitlichen Symbolsprache zu bündeln.

Klar ist aber, dass diese neue Dynamik in der visuellen Kommunikation nicht das Privileg einer linken Kreativwelt ist. Flaggen und griffige Symbole finden sich in allen politischen Kontexten: die Z-Symbole auf russischen Militärfahrzeugen, die türkis-blau-rote Trikolore nichtexistenter Staaten (wie etwa der »Volksrepublik« Lugansk), das schwarze »Eiserne Kreuz« und die preußischen Flaggen im rechten Milieu.

Flaggen und andere visuelle Kommunikationsträger gehören zur Ikonografie von Bewegungen wie Extinction Rebellion, die die piktogrammatisch gestaltete Sanduhr aus zwei Dreiecken im Kreis verwenden, die erhobene Faust der Black-Lives-Matter-Bewegung, oder das typografisch orientierte Symbol #MeToo.

Entlastung und Orientierung

Sie sind durch ihre Offenkundigkeit, Einfachheit und Präsenz für Menschen im 21. Jahrhundert offenbar aus mehreren Gründen attraktiv: Sie produzieren Entlastung in einer als unüberschaubar erlebten Gegenwart, in der die/der Einzelne permanent mit seiner eigenen Ohnmacht konfrontiert ist. Sie geben Orientierung in einer als widersprüchlich empfundenen und von destabilisierenden Informationen überfluteten Gegenwart. Wo das einzelne Subjekt permanent ein Unbehagen an der Kultur erlebt, geben sie Klarheit. Und in einer von universalen Zeichen befreiten Gegenwart stiften sie eine spezifische Zugehörigkeit, heben dadurch Vereinzelung und Isolation auf, ermächtigen die/den Einzelne/n zur Abgrenzung des Selbst wie auch zur Selbstbehauptung.

Während also die Zahl symbolisch vermittelter Codes zunimmt, und die junge Aktivistengeneration ein frischeres Bewusstsein für visuelle Kommunikation gewonnen hat, sollte man nicht außer Acht lassen, dass dieser Trend universal ist und Vorteile und Nutzen für das einzelne Subjekt hat. Zudem ist heute visuelle Kommunikation nicht nur möglich, sondern unabdingbar.

Sowohl die eingeschränkte Wahrnehmungsspanne als auch die visuelle Natur politischer Kommunikation im Zeitalter sozialer Medien intensivierten den Gebrauch von Symbolen im moralischen (moralisierenden) Diskurs der Moderne. Begünstigt wird diese Tendenz durch Entwicklungen unter anderem in der Street Art vom mexikanischen Muralismo bis hin zum Graffiti und der Stencil-Kunst, die eine Politisierung und Moralisierung des öffentlichen Raums aufmerksamkeitsökonomisch ausbeutete (etwa durch Banksy).

Viralisiert wird diese weitgehend sprachlose, daher global verständliche Symbolik durch die fließenden Übergänge zwischen realem und digitalem Raum, durch Innovationen in der privaten Foto- und Videotechnik sowie gesteigerte Leistungsfähigkeit digitaler Technologien und deren barrierefreieren Partizipationsmöglichkeiten.

So übt eine schier unüberschaubare Fülle an visuellen Codes eine Kraft auf das Individuum der Gegenwart aus, die bisher noch nicht ausreichend in ihren Auswirkungen und Plausibilitäten verstanden worden ist und häufig unterschätzt wird. Ein weiteres Merkmal gehört in diesen Kontext: die Verschmelzung von zeichenschaffender und zeichengebrauchender Instanz. Flaggen bedingen immer jemanden, der:die sie hisst oder aufhängt, jemand der:die die Flagge ortspezifisch macht und situativ einbettet. Hier gibt es im Übrigen auch Überlappungen zur Dynamik von moderner Propaganda, die – insbesondere in demokratischen Ländern – schlecht verstanden wird: Moderne Propaganda ist nicht deshalb so wirkungsvoll, weil sie »gestreut« wird, sondern funktioniert gerade deshalb so gut, weil sie ihre Adressat:innen zugleich »manipuliert« und (im Sinne der Propaganda) »ermächtigt«.

Am Beispiel des offensichtlich zugenommenen Gebrauchs von Flaggen aller Art sollte man daher die bewusstseinsökologische Dimension von visueller Sprache im politischen Diskurs genauer bedenken. Ironie der Geschichte: Während die Bilderstürmer der protestantischen Religion den wahnsinnigen Versuch unternahmen, den menschlichen Geist von visuellen Codes zu befreien, indem sie Kirchen in weiße Leerräume verwandelten, spuckten die Bildsprachen vor den Gotteshäusern unbeherrscht und bald unbezähmbar weiter. So sehr der politische und moralische »Diskurs« einer Pflege und Reflexion bedarf, so sehr gilt das auch für die ikonografisch vermittelte politische Kommunikation. Politische Bildung geht oftmals noch viel zu stark über Bücher, Sprachgebilde, Spiegelstrichtexte in Parteiprogrammen, über sprachlich vermitteltes Wissen vonstatten und verliert darüber das Gespür für die emotionale Direktheit und unmittelbare Evidenz von visueller Kommunikation.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben