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Literatur jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion Vom Ankommen erzählen

Es war eine Geste der Wiedergutmachung. Vor 30 Jahren ermöglichte die damalige Regierung unter Lothar de Maizière Juden aus der Sowjetunion die Einwanderung in die DDR. Ab 1991 führte die wiedervereinigte Bundesrepublik diese Regelung fort, auf deren Grundlage laut Angaben des Zentralrats der Juden etwa 220.000 Menschen nach Deutschland kamen. Mehr als die Hälfte von ihnen habe, so der Zentralrat, den Weg in die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik gefunden. Deren Mitgliederzahlen stiegen erheblich. Neben den Juden wanderten dabei auch viele nichtjüdische Familienmitglieder ein. Der Status als »Kontingentflüchtling« ermöglichte es den Einwanderern, nach der Einreise eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

Diese Einwanderungsbewegung ist mittlerweile faktisch zum Stillstand gekommen. Hier und dort wird bereits Bilanz gezogen. »Die Integration der jüdischen Zuwanderer ist eine Erfolgsgeschichte«, resümiert etwa der Zentralrat der Juden auf seiner Internetseite. Diese Einschätzung bezieht sich vor allem auf die Eingliederung der Einwanderer ins Gemeindeleben. Sie lässt sich aber auch auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen: Jüdische Kontingentflüchtlinge sind längst auch in Politik und Wissenschaft, Kultur und Medien angekommen.

Auch in der deutschsprachigen Literatur sind sie präsent. In den vergangenen Jahren sind etliche autobiografisch gefärbte Bücher von Kontingentflüchtlingen erschienen. Autoren wie Lena Gorelik, Dmitrij Kapitelman oder Sasha Marianna Salzmann machen ihre individuellen Erfahrungen auf unterschiedliche Weise literarisch fruchtbar. Im Folgenden möchte ich den universellen, aber auch speziell postsowjetisch-jüdischen Erfahrungen des Ankommens in einem anderen Land nachspüren, die diese exemplarisch ausgewählten Vertreter der zweiten Einwanderergeneration in ihren literarischen Debüts verhandeln.

Eine Identität setzt sich zusammen

Lena Goreliks im Herbst 2004 erschienener Roman Meine weißen Nächte markiert die Ankunft dieser Generation in der deutschen Literatur. Gorelik wurde 1981 in Leningrad, heute Sankt Petersburg, Russland, geboren. Sie kam im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. 2007 erschien ihr Roman Hochzeit in Jerusalem, 2012 versammelte Goreliks Sachbuchdebüt Sie können aber gut Deutsch Beiträge zur Integrationsdebatte. Zuletzt legte sie das Jugendbuch Mehr Schwarz als Lila vor.

Meine weißen Nächte setzt mit einer Erinnerung an die Auswanderung per Zug aus Sankt Petersburg nach Deutschland in den frühen 90er Jahren ein. Die Ich-Erzählerin lässt den Abschied von Freunden und Verwandten und den Beginn der Zugfahrt Revue passieren. Es sind Szenen, die vielen Auswanderern wohl unvergesslich bleiben. Die autobiografisch gefärbte Erzählung entfaltet sich in 46 nicht chronologisch angeordneten, kurzen Kapiteln.

Die Ich-Erzählerin lässt auch Begebenheiten aus dem Leben ihrer Eltern und Großeltern einfließen. Immer wieder geht es um die unmittelbaren Anfänge, die ersten Jahre in Deutschland: das Leben im Übergangswohnheim, die Mühen, die die Eltern auf der Suche nach beruflichem Anschluss durchmachen müssen, aber auch um den Grundschulalltag in der baden-württembergischen Provinz.

Nach und nach setzt sich das Bild einer postsowjetisch-jüdischen Identität in Deutschland um die Jahrtausendwende zusammen – samt der Besonderheiten, die viele Kontingentflüchtlinge kennen. Hin und wieder erzählt Gorelik von Gegenständen oder Phänomenen, die helfen, diese kulturellen Besonderheiten zu verstehen. So widmet sie ein kurzes Kapitel den von den Eltern der Ich-Erzählerin aus Russland mitgebrachten Schreibheften – und den Gründen, sie mitzunehmen: »Was nimmt man mit, wenn man in ein Land auswandert, in dem man niemals vorher gewesen ist, wenn man niemanden kennt, der es jemals gesehen hat? Wir gehörten zur ersten Welle der Auswanderer. Es gab Gerüchte. Handtücher und Hefte sind in Deutschland besonders teuer. Ein Heft kostet einen russischen Monatslohn.«

Das Buch macht die Beweggründe der Elterngeneration für die Auswanderung nachvollziehbar. Oft war es eine Melange aus langjährigen Diskriminierungserfahrungen in der Sowjetunion sowie politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit in ihren Nachfolgestaaten. Die Diskriminierung illustriert die Autorin anhand des »fünften Punkts«. Damit sei ein Eintrag im sowjetischen Pass gemeint, erklärt die Mutter der Ich-Erzählerin: »Nach dem Nach- und Vornamen, Geburtsort und -tag steht ›Volkszugehörigkeit‹ als fünfter Punkt. In den Pässen meiner Familie steht ›jüdisch‹ darunter.« Für Juden war der berüchtigte »fünfte Punkt« oftmals ein Hindernis hinsichtlich Studium und Karriere.

Gorelik lässt die Leser an der allmählichen Aneignung der deutschen Sprache und Alltagskultur durch ihre Protagonistin teilhaben. Sie flicht Szenen ein, die im München der Gegenwart spielen und vom Ankommen der mittlerweile erwachsenen Ich-Erzählerin in der Peergroup künden. Die Szenen entwerfen das Bild einer Normalität, in der die Protagonistin gelernt hat, zwischen mehreren Kulturen zu pendeln.

Goreliks Debütroman ist bis heute erstaunlich aktuell geblieben. Die Autorin schafft es, die großen Themen Migration und Integration anschaulich, unaufgeregt und menschlich zu vermitteln. Ihr Roman half mir aus der Sprachlosigkeit der ersten Jahre nach der Einwanderung. Meine weißen Nächte formulierte viele mir vertraute Erfahrungen, lässt sich jedoch auch mit jedem anderen biografischen Hintergrund gewinnbringend lesen.

Eine Reise auf der Suche nach Zugehörigkeit

Vergleichsweise spät, erst 22 Jahre nach der Einwanderung des Autors nach Deutschland, erschien 2016 Dmitrij Kapitelmans Debüt. Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, explizit nicht als Roman gekennzeichnet, erzählt von einer Reise nach Israel, die Kapitelman mit seinem Vater Leonid unternimmt. Der Autor wurde 1986 in Kiew, der heutigen Hauptstadt der Ukraine, geboren. Im Alter von acht Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland, studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Seine journalistischen Texte erscheinen in überregionalen Medien.

In seinem Buch widmet sich Kapitelman vor allem einem Aspekt, dessen Klärung für junge Kontingentflüchtlinge der zweiten Generation früher oder später wichtig wird: der Beziehung zum jüdischen Staat. Es war die Entscheidung der Eltern, in den 90er Jahren nicht nach Israel – was naheliegend gewesen wäre –, sondern nach Deutschland auszuwandern. Die Tragweite dieser Entscheidung bringt auch mich immer wieder zum Nachdenken. Wie wäre mein Leben in Israel verlaufen? Welchen Einfluss hat Deutschland auf mein Leben und meine persönliche Entwicklung genommen? Wie rechtfertigt man sich vor Juden in aller Welt, ausgerechnet im Land der Täter zu leben? Denn vor allem israelische Verwandte blicken mitunter mit Skepsis und Verwunderung auf das jüdische Leben in Deutschland.

Kapitelman erinnert sich an die Umstände der Auswanderung nach Deutschland, die, wie bei vielen, keine selbstverständliche Option war: »Beinahe wären wir damals nach Israel ausgewandert. Die Visa waren schon bewilligt, die Koffer gepackt. Doch dann kam Deutschland.« Der Autor ordnet die Einwanderung rückblickend kritisch ein und nimmt auch die psychischen Kosten der Emigration für die Eltern in den Blick: »Wir waren willkommene Wiedergutmachungsjuden. Das war 1994, seitdem sind wir hier, dennoch hat Papa Deutschland nie als neue Heimat akzeptiert.«

Der Autor erzählt außerdem vom Aufwachsen in der Leipziger Plattenbausiedlung Grünau. Er blickt schonungslos auf diese Zeit: »Wir waren also ›geflohen‹, und zwar in ein ostdeutsches Viertel, in dem jeden Abend Neonazihorden auf Menschenjagd gingen.« »In Grünau floh ich vor Neonazis mit Messern, Neonazis mit Hunden und Neonazis mit Baseballschlägern«, erinnert sich Kapitelman.

Er blickt kritisch auf die Einstellung seines Vaters zum Judentum: »Die Art, wie sich mein jüdischer Vater auf seinen ersten und vielleicht einzigen Israeltrip vorbereitet, gleicht seiner grundsätzlichen Interpretation vom Jüdischsein – an sie sind keinerlei erkennbare Handlungen geknüpft.« Die von Kapitelman beschriebene, passive Einstellung zum Judentum ist unter sowjetisch sozialisierten Kontingentflüchtlingen der Elterngeneration häufig anzutreffen.

Sie resultiert aus der Politik der Sowjetmacht gegenüber der jüdischen Minderheit. Das Judentum wurde ausschließlich als Volkszugehörigkeit betrachtet – und, wie auch Lena Gorelik beschreibt, im Pass vermerkt. Jegliche aktive Ausübung der jüdischen Religion war jahrzehntelang verboten. Auch Jiddisch, das einige Ältere noch sprachen, wurde zurückgedrängt. Das führte einerseits zur Assimilation, andererseits zu einer trotzigen Behauptung der jüdischen Identität – meist aber ohne die Möglichkeit, sie sichtbar auszuleben.

Die Reise nach Israel, auf der er seinen Vater besser kennenlernen und verstehen möchte, wird für Kapitelman zu einer Selbstbefragung seiner jüdischen Identität. Sie beschert ihm eine Erkenntnis, die zur Entscheidung für eine Zugehörigkeit führt: »Papa, ich werde einen deutschen Pass beantragen. Einen deutschen Pass unter unserem jüdischen Namen. Wenn überhaupt, bin ich ein deutscher Jude. Und nicht kompatibel mit Israels Gesellschaft.« Kapitelman resümiert: »Meine Freunde und meine Familie leben in Deutschland. Die Unmenschen, die sie bedrohen, ebenfalls. Somit bin ich für Deutschland mitverantwortlich.«

Am Ende der Reise stellt Kapitelmans Vater seinem Sohn ein überraschendes Zeugnis aus: »Ich will damit sagen, dass du jüdischer bist als ich, Dima.« Der Vater begründet seine Einschätzung anhand einiger Eigenschaften, die er bei Dmitrij beobachtet: »Die Gewissenhaftigkeit, mit der du dich gegen unsere Heimat (Israel – Anm. d. Verf.) entschieden hast. Die Strenge zu dir selbst. Weißt du, die meisten Juden gehen ihr Leben lang hart mit sich ins Gericht.«

Identitäten werden fluide

In ihrem 2017 erschienenen Romandebüt Außer sich erteilt Sasha Marianna Salzmann einer festgefügten ethnischen, kulturellen, sexuellen und geschlechtlichen Identität eine Absage. Die 1985 im russischen Wolgograd geborene und seit 1995 in Deutschland lebende Autorin verweigert sich einer Integrationserfolgserzählung. Salzmann ist Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin. 2016 kuratierte sie dort mit Max Czollek den »Desintegrationskongress«, 2017 folgten ebenfalls am Gorki die von Czollek und Salzmann organisierten »Radikalen Jüdischen Kulturtage«.

Im Mittelpunkt der Romanerzählung stehen die aus Russland stammenden, in Deutschland lebenden Zwillinge Alissa/Ali und Anton und ihre Familie. Anton verschwindet spurlos. Irgendwann taucht eine Postkarte ohne Botschaft aus Istanbul auf. Ali begibt sich in die Metropole am Bosporus auf die Suche nach ihrem Bruder – die, wie die Autorin in einem Interview sagt, ihr »Undefiniertsein« zum Vorschein bringt. Die Erzählung entfaltet sich im Wechsel zwischen der Gegenwart in Istanbul und Rückblenden in die Familiengeschichte sowie die Kindheit und Jugend der Protagonisten in Moskau und Westdeutschland.

Wie Lena Gorelik erzählt auch Salzmann von der Auswanderung ihrer Protagonisten mit dem Zug. Die mindestens zweitägige Zugfahrt erscheint als familiäres Schlüsselerlebnis, das den Übergang zwischen zwei Lebensabschnitten markiert. Aus fehlenden Informationen über die Lebensumstände in Deutschland resultierende Entscheidungen werden auch bei Salzmann sichtbar: »Die Eltern schaukelten auf zwölf Koffern und noch mehr Kisten, und da drin Bettwäsche und Adidasanzüge in Plastikverpackung, vielleicht zum Verkauf, man weiß ja nie, und sogar vergoldete Uhren, aber hauptsächlich Bettwäsche und Socken und Höschen und Bücher.« Man nahm vorsichtshalber zu viel mit.

Ein Grunddilemma der Auswanderung, der Entschluss der Eltern über die Köpfe der Kinder und anderer Familienmitglieder hinweg, bringt Salzmann knapp auf den Punkt: »Ali und Anton hatte man nicht gefragt, und auch die Eltern der Eltern der Eltern nicht. Manche wurden mitgenommen, andere nachgeholt, ging nicht anders.« Insbesondere den Älteren fiel die Emigration, die Aufgabe der vertrauten Umgebung oft schwer. Die wenigsten konnten sich sprachlich und kulturell zurechtfinden. Viele leiden bis heute unter Armut. Aber sie nahmen die Auswanderung in Kauf, um weiterhin bei ihren Kindern und Enkeln sein zu können.

Etliche Erfahrungen, die nicht nur jüdische Einwanderer bis heute durchleben, sind in Außer sich festgehalten. So kommt die Familie in einem zu einem Asylheim umfunktionierten Hotel, »zu fünft in einem Zimmer mit Stockbetten«, unter. Weiter heißt es: »Valentina und Konstantin belegten Sprachkurse und machten ihre Hausaufgaben mit zwanzig anderen Emigrantenpaaren in der Gemeinschaftsküche, eingehüllt vom fettigen Bouillongeruch.«

Eine anspielungsreiche Romansentenz verdeutlicht Salzmanns programmatische Absage an eine feste Identität: »Ich kenne viele mit meiner Biografie, sie haben andere Kerben in ihrem Gesicht, tragen andere Kleidung, spielen Musikinstrumente, essen bei ihren Eltern am Sonntag Heringssalat, können danach die Nacht durchschlafen, fahren in den Süden, um Urlaub zu machen, und kehren am Ende des Sommers an Orte zurück, die sie Zuhause nennen. Für mich dagegen verschwimmen die Bilder, und ich lande immer wieder bei Vermutungen darüber, wie die Straßen hießen, in denen ich nie gewesen bin.«

Salzmann erzählt vom steten Aufbruch. »Was für mich wichtig ist, ist, dass Identitäten nur existieren können, wenn sie fluide sind, wenn sie mobil sind«, sagt sie in einem Videointerview zu Außer sich. Ihr Blick auf die ersten Jahre nach der Einwanderung ist völlig unsentimental. Die Bereitschaft, Härten der Integration schonungslos zu thematisieren, verbindet Sasha Marianna Salzmann mit Dmitrij Kapitelman. Auch Lena Gorelik spart in ihren Büchern derlei Probleme und Konflikte nicht aus. Gerade diese kritische, reflektierte Haltung kann man als ein Zeichen für das Ankommen deuten. Der Blick auf die postsowjetisch-jüdische Einwanderung nach Deutschland ist 30 Jahre nach ihrem Beginn ein historischer.

Lena Gorelik: Meine weißen Nächte. Schirmer/Graf 2004, 288 S.; als Taschenbuch, Diana, München 2006, 272 S. – Dmitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Hanser Berlin, 2016, 288 S., 20 €; als Taschenbuch, dtv, München 2018, 288 S., 10,90 €. – Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Suhrkamp, Berlin 2017; 366 S., 22 €; als Taschenbuch ebendort, 2018, 364 S., 12 €.

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