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Vom Elend der Identitätspolitik

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? – Richard David Prechts popularphilosophischer Einladung zur Selbstreflexion aus dem Jahr 2007 hätte es nicht bedurft, um den modernen Menschen auf die mal selbstquälerische, mal rührend-spießbürgerliche Suche nach seiner »Identität« zu schicken. Das Gefühl, in der globalisierten Moderne mit ihrer alle Grenzen verwischenden ökonomischen Dynamik, mit dem schnellen Wechsel von Moden und Alltagsroutinen seinen Ort, seine kulturelle Einbettung, sein Selbstverständnis, seine Stellung und Würde zu verlieren, verunsichert die Menschen schon seit Längerem. In vielen der Konflikte, wenn nicht in den meisten, die heute Schlagzeilen machen, geht es um kulturelle, religiöse, soziale oder nationale »Identität«, um Kränkungen des Selbstbewusstseins, um Verletzungen der eigenen Würde, darum, wer wir sind und wer wir sein könnten oder sollten. Und natürlich darum, wer wir nicht sind, wer die Anderen sind, die Fremden, die Gegner, unsere Feinde.

Jetzt hat sich ein berühmter amerikanischer Politikwissenschaftlicher zu diesem Thema zu Wort gemeldet, der nach der großen Zeitenwende Ende der 80er Jahre mit seinem Buch Das Ende der Geschichte 1992den Eindruck erweckte, die Geschichte sei mit dem Sieg der westlichen liberalen und marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung an ihr Ziel gelangt, Auseinandersetzungen und Kämpfe historischen Ausmaßes seien nun nicht mehr zu erwarten. Francis Fukuyamas neues Buch Identität setzt jene »Neuerwägung« der Weltlage fort, die er zuvor mit seinen Büchern The Origins of Political Order und Political Order and Political Decay aus den Jahren 2011 und 2014einleitete. Nun geht es nicht wie in Das Ende der Geschichte um eine (bei der Rezeption des Buches oft übersehene) nietzscheanische Deutung der hegelschen Universalgeschichte, wohl aber um das hegelsche Thema der Anerkennung oder um das, was Platon in seiner Seelenlehre den Thymos nennt, jenen »Teil der Seele, der sich nach Anerkennung seiner Würde sehnt«, also um die Isothymia, »das Bedürfnis, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten« und um die Megalothymia, »den Wunsch, von anderen als überlegen betrachtet zu werden«.

Von einem Ende der Geschichte ist in Fukuyamas neuem Buch keine Rede mehr. Vielmehr sieht er nun überall auf der Welt alte und neue Konflikte, die sich um Würde und Anerkennung drehen. »Ganze Länder«, so der Autor, »können sich missachtet fühlen, was zuweilen einen aggressiven Nationalismus entfesselt, ebenso wie Anhänger einer Religion, die meinen, dass ihr Glaube geschmäht wird. Die Isothymia dürfte daher weiterhin Forderungen nach gleichheitlicher Anerkennung hervorrufen, die wahrscheinlich nie ganz erfüllt werden können.«

Aber auch die Megalothymia, der Wunsch nach Überlegenheit, die in vordemokratischen Gesellschaften das Alleinstellungsmerkmal der adligen Schichten war, in der bürgerlichen Epoche nicht selten die ökonomisch Erfolgreichen und Gebildeten mit Verachtung auf den Plebs herabschauen ließ, kann unter dafür günstigen Bedingungen auch in Zukunft wieder zu Rivalität und Vormachtstreben unter charismatischen Führern führen.

Ökonomen glauben hartnäckig daran, »dass Menschen von ›Präferenzen‹ oder ›Nützlichkeiten‹ motiviert werden, von Wünschen nach materiellen Mitteln oder Gütern«, schreibt Fukuyama. Das sei aber nur zum Teil, wahrscheinlich zum geringeren, der Fall. Vielmehr gehe es meist um Anerkennung. Der liberal-demokratische Staat garantiere zwar im Prinzip die Würde jedes Einzelnen. Aber die zunehmende Unterwerfung der Politik unter ökonomische Sachgesetzlichkeiten mache es für benachteiligte Minderheiten immer schwerer, die grundgesetzlich garantierte Anerkennung zu erlangen und so eine zivile Identität als Citoyen zu entwickeln. Immer häufiger suchten Menschen nun ihre Anerkennung nicht in dem verfassungsmäßig garantiertem gleichen Recht und der gleichen Würde aller, sondern gerade in der kulturellen und religiösen Differenz: »Jede marginalisierte Gruppe stand vor der Wahl, einen breiteren oder einen engeren Identitätsbegriff für sich zu beanspruchen. Sie konnte fordern, dass ihre Mitglieder genauso behandelt wurden wie die Angehörigen dominanter Gesellschaftsgruppen. Oder sie konnte auf einer besonderen Identität bestehen, die sich von jener der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, und dafür Respekt verlangen. Mit der Zeit setzte sich fast überall die zweite Strategie durch.«

Was Fukuyama allerdings übersieht, ist, dass marginalisierte Gruppen oft gar nicht jene Wahl haben, vor die er sie hier gestellt sieht. Darauf hat kürzlich Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen. Wenn der Staat, wenn die Gesellschaft oder einzelne Institutionen Minderheiten faktisch ausgrenzen, haben diese zumeist gar keine andere Möglichkeit, auf ihre Lage hinzuweisen, als in den auf sie angewandten Kategorien der Ausgrenzung: »Für diejenigen, die als ›nicht-weiß‹ ausgegrenzt werden (…) für die wird die projektive Wahrnehmung der Kategorie Hautfarbe zu etwas, das sie verhandelt haben wollen.« Das heißt, dass sie in einem gewissen Umfang gezwungen werden, sich ausgerechnet über die Hautfarbe zu identifizieren, wenn sie jene Gleichbehandlung erreichen wollen, die ihnen in einem demokratischen Rechtsstaat zusteht.

Das Fazit des Buches von Fukuyama fällt vorsichtig pessimistisch aus: Während in China, Russland und vielen anderen Ländern Asiens autoritäre und nationalistische Strömungen zunehmend selbstbewusst aufträten, könne die liberale Demokratie in Europa und in Amerika daran scheitern, dass sie nicht mehr die Kraft entwickelt, eine alle kulturellen, sozialen und religiösen Gruppen umfassende, sie gewissermaßen überwölbende nationale bzw. europäische »Bekenntnisidentität« zu etablieren. Dies würde in den USA zum Zerfall der demokratischen Nationalstaatlichkeit und in Europa zu einem Wiederaufleben autoritärer Strukturen und zu nationalistischer Eigenbrötelei führen.

Eine grundsätzlich andere Haltung zur Frage der Identität und Identitätspolitik nimmt der französische Kulturwissenschaftler und China-Kenner François Jullien ein. Er hält das Konzept der herderschen Kugelgestalten, der in sich geschlossenen und gegeneinander abgeschlossenen Kulturen, für ein »Phantasma« und die heute verbreitete Rede von der je eigenen »kulturellen Identität«, die bei den rechten »Identitären« die Form der völkischen Abstammungsidentität annimmt, für baren Unsinn. In einer Streitschrift mit dem provokanten Titel Es gibt keine kulturelle Identität verficht er eine integrale Konzeption der Kultur, die nicht die »Differenz« zum Anderen, Fremden betont und so undurchdringliche Sicht- und Verständnissperren errichtet, sondern lediglich von einem »Abstand« zwischen unterschiedlichen kulturellen Entwürfen spricht, weil nur so der je eigene sich als ergänzungsbedürftig und alle zusammen sich als ein »Gemeinsames« verstehen ließen, ohne sie zu einem »Gleichartigen« zu machen.

Die europäische und im weiteren Sinn die westliche Kultur ruht nach Jullien auf drei Grundlagen: auf der griechischen Entscheidung für das Universelle der Wissenschaft, die später durch Immanuel Kant auch auf die Moral angewandt wird (»kategorischer Imperativ«), auf dem römischen Recht, das das Stadtbürgerrecht Roms zu einem Weltbürgerrecht ausweitet, und schließlich auf dem christlichen Heilsgedanken einer ins Universelle gewendeten Subjektivität. Heute gerät der mit dieser Konzeption verbundene Universalitätsanspruch nach Meinung des Autors an offensichtliche Grenzen. Nicht, weil es so etwas wie eine universelle Kultur gar nicht gibt und geben kann, sondern weil ein solches Konzept nur dann erfolgreich Geltung beanspruchen kann, wenn es davon ausgeht, dass es notwendigerweise immer unvollständig ist. Eine universelle Kultur, so Jullien, müsse als ein »regulatives Universelles (im Sinne der kantischen Idee)«, gedacht werden, »das, weil es niemals zufrieden ist, unaufhörlich den Horizont erweitert und sich die Aufgabe stellt, immer weiter zu suchen. (…) Genau dieses Universelle gilt es einzufordern, wo es um die Entfaltung des Gemeinsamen geht«.

Der Versuch, eine europäische »Identität« zu formulieren, ist nach Jullien bereits im Jahre 2004 exemplarisch gescheitert. »Die einen behaupteten, Europa sei christlich (und beriefen sich dabei auf seine ›christlichen Wurzeln‹ (…)). Die anderen insistierten darauf, Europa sei in erster Linie laizistisch (und dachten dabei an die folgenreiche ›Aufklärung‹ und den Aufstieg des Rationalismus). Da man sich nicht auf eine europäische Identität einigen konnte, verfasste man schließlich auch keine Präambel.« Womit schließlich auch der Versuch, Europa eine Verfassung zu geben, gescheitert war. »Was Europa in Wirklichkeit ausmacht«, so Jullien, »ist natürlich der Umstand, dass es zugleich christlich und laizistisch (und Weiteres) ist. Es hat sich nämlich im Abstand zwischen den beiden entwickelt: in dem großen Abstand von Vernunft und Religion, von Glauben und Aufklärung.«

Jullien plädiert in seiner Streitschrift dafür, die Vielfalt der kulturellen Ideen, der Sprachen, Religionen und Menschenbilder als »Ressourcen«zu betrachten, als einen Reichtum, der allen Menschen zur Verfügung steht, aus dem sie schöpfen können, um daran zu wachsen. Für uns Europäer hieße das zum Beispiel, »das Christentum nicht länger ausgehend von der Spaltung zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu betrachten, die Frage nach Gott und seiner ›Existenz‹ beiseitezulassen (…) und die Alternative von Glauben und Atheismus zu überwinden. (…) Zu erkunden, wie das Christentum es gewagt hat, das Gesetz (durch die ›Liebe‹) zu überschreiten und wie es (durch die ›Verrücktheit‹ des Kreuzes) die Vernunft umgekehrt hat, so dass eine paradoxe Logik entstand (…). Oder darüber nachzudenken, wie es das ›Gewissen/Bewusstsein‹ als intime Instanz des Subjekts zur Entfaltung gebracht hat, womit es seine Subjektivität zum Unendlichen hin öffnete (…).«

Was François Jullien vorschlägt, ist ein radikaler Blickwechsel, der sich deutlich von dem unterscheidet, was Francis Fukuyama am Ende seines Buches erwägt. Während Fukuyama als gesellschaftliches Bindemittel für die USA auf eine »nationale Bekenntnisidentität« und für Deutschland (und wohl auch für Europa, möglicherweise auch für den größeren Westen) auf so etwas wie Bassam Tibis »Leitkultur« setzt, hält Jullien ein gründlicheres Umdenken für unerlässlich. Als Vielfalt »identitärer« Teilgesellschaften, so der Autor, ist Europa ebenso wenig lebensfähig wie im Gewand jener öden Uniformierung, die uns die globale Ökonomie aufzudrängen versucht. Sein Fazit lautet: Europa als Kultur und als politisch verfasste Gesellschaft kann nur lebendig bleiben, wenn es seine Widersprüche als Kraftquelle begreift, wenn es die sinnlose Suche nach »Identität« aufgibt und seine Einheit auf einen wahrhaft dialogischen Pluralismus gründet.

Einen wirklich überzeugenden Weg zur Überwindung der Krise der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zeigen beide hier behandelten Bücher nicht. Während Fukuyama, wo er eine Antwort versucht, auf Konzepte zurückgreift, die sich bereits als weitgehend unwirksam erwiesen haben, mutet Jullien den durch die strapaziöse Globalisierung verunsicherten Menschen eine Offenheit des Denkens und Empfindens zu, die sie, wenn überhaupt, gerade jetzt wohl kaum erbringen können. Die Frage bleibt: Wie kann man dem modernen Menschen in einer globalisierten und sich ständig wandelnden Welt ein Gefühl der eigenen Würde, der Geborgenheit und der Beheimatung vermitteln, ohne auf völkische, autoritäre oder bigott-provinzielle Irrwege zu geraten.

Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 240 S., 22 €. – François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. edition suhrkamp, Berlin 2017, 80 S., 10 €.

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