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© picture alliance / Westend61 | Emma Innocenti

Professionalisierung und Kommerzialisierung im Online-Wahlkampf Vom Gimmick zur Organisation

Bill Clinton setzte zu Beginn der 90er Jahre als erster US-Präsident im Wahlkampf auf das Internet. Die SPD hatte ihre Beobachter entsandt und plante, im Bundestagswahlkampf 1998 selbst systematisch das neue Medium zu nutzen. Es sollte erstmalig eine strategische Rolle spielen.

Die Tatsache, dass man das bis dahin hauptsächlich als anarchisch und frei geltende Internet für politische Zwecke einzuspannen versuchte, umgab den damaligen Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder und seine Partei mit einer Aura der Modernität. Die Regierungspartei, die CDU mit dem Kanzler Helmut Kohl an ihrer Spitze, wusste es nicht für sich zu nutzen und galt damit als nicht mehr zukunftsfähig.

Was damals an technischen Möglichkeiten vorhanden war, wurde im Wahlkampf 1998 dementsprechend auch eingesetzt: Webseiten, auf denen zeitnahe Pressemitteilungen und Wahlkampfspots zu finden waren; Diskussionsgruppen, in denen zu politischen Themen debattiert wurde, unterstützt von einer Gruppe technikbegeisterter Menschen. Sie galten damals als die politische Avantgarde der SPD und nannten sich Virtueller Ortsverein (VOV).

Die Mitglieder legten Internetleitungen auf den Parteitagen, konfigurierten Router für die Live-Berichterstattung im Internet oder begleiteten mit einer mobilen Redaktion und einem damals sündhaft teuren digitalen Fotoapparat den Kanzlerkandidaten auf seiner Wahlkampftour durch die Bundesrepublik.

Vor allem jedoch bezog der Virtuelle Ortsverein Stellung zu Themen, die damals wie heute relevant sind, unter anderem Datenschutz, Überwachung oder Verschlüsselungsverbot. Die Mitglieder des VOV nutzten das Internet effektiv für die Organisation ihrer Arbeit: Die Beschlüsse gab es online, die Wahlen des Vorstandes wurden anonym via Email abgewickelt, die Aufnahme und Ausschlüsse der Mitglieder fanden im Internet statt. Das Einzige, was dem VOV nicht gelang, war, Gerhard Schröder davon zu überzeugen, sich eine Mailadresse zuzulegen. Er soll das mittlerweile nachgeholt haben.

Am Wahlabend im September 1998 war der Server der SPD der einzige, der durchgehend online war. Die damals noch aus der Hauptstadt Bonn berichtenden Journalisten suchten sogar die Onlineredaktion der SPD-Kampa auf, um ihre Texte an die Redaktion schicken zu können. Das Netz war durch die Anfragewelle überlastet. Auch die Wählerinnen und Wähler nutzten bereits verstärkt das Internet – die Parteien, bis auf eben die SPD, noch nicht.

Der Aufstieg der Plattformen

In den folgenden Wahlkämpfen zogen andere Parteien nach. In dem von der Wirtschaftskrise geprägten Wahlkampf im Jahr 2009 nutzte die SPD für ihre politische Arbeit immer noch Webseiten. Hinzu kamen Twitter und soziale Medien, hauptsächlich Facebook. Dafür wurde die SPD-Kampa vom damaligen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier personell aufgestockt.

Und wieder hatte es ein US-Präsident allen vorgemacht, wie moderner Wahlkampf aussehen sollte. Barack Obama galt als erster US-Präsident, der mit Twitter eine Wahl gewann. Tatsächlich war es vermutlich eher die Mischung aus seiner Persönlichkeit, seinem Programm, einer starken Graswurzel-Organisation und viel Geld, die diesmal Twitter und Facebook die Aura von Modernität verliehen. Eventuell sollte man doch eher Donald Trump als ersten US-Präsidenten bezeichnen, der tatsächlich mit Twitter eine Wahl gewonnen hat.

Abgesehen von der Avantgarde des Virtuellen Ortsvereins konnte die SPD damals nur einen Teil der Mitglieder per Email erreichen. Entsprechend waren die technischen Erwartungen an Kandidierende und Ehrenamt in Sachen Internet noch nicht sehr hoch.

Die alten Tugenden nicht vergessen

Im Wahlkampf 2013 war wesentlich mehr möglich. Mit Facebook und Twitter gewannen zunehmend kommerzielle Plattformen an Relevanz als Vermittler politischer Inhalte. Hier konnten grundsätzlich alle Mitglieder ihre Parteien unterstützen – auch wenn sich nicht alle auf die Plattformen einlassen wollten. Gerade Twitter gilt bis heute tatsächlich als das Medium von »Politikern, Journalisten und Psychopathen«, wie es die Digitalisierungsbeauftragte der Bundesregierung, Dorothee Bär, einmal zusammenfasste. Und Facebook wurde schon damals für seinen Umgang mit Daten kritisiert. Dank zunehmender Bandbreite gewann visuelle Kommunikation an Bedeutung: Im Wahlkampf wurde dann auch YouTube genutzt.

Trotz all dieser Neuerungen lautete das Motto der SPD-Wahlkampagne 2013: Klingeln statt Klicken. „[D]as wichtigste technische Hilfsmittel (…) ist nicht das Internet, sondern der Klingelknopf an der Haustür, damit uns aufgemacht wird und damit wir mit den Leuten reden können«, so formulierte es der damalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel auf dem SPD-Bundesparteitag in Augsburg. Und die damalige Generalsekretärin Andrea Nahles betonte, dass im Zentrum der »Tür-zu-Tür-Wahlkampf« stehe. Zentrales Element der Kampagne war der sogenannte Campaigner – keine neue, revolutionäre App, sondern Menschen, die von Haus zu Haus gingen.

Tatsächlich steht für viele aktive Mitglieder der SPD nicht die Öffentlichkeitsarbeit im Zentrum ihres Interesses: Sie wollen mitbestimmen, was in ihrem Heimatort passiert, oder die Welt retten. Hinzu kommt, dass sich die Partei seit nunmehr 158 Jahren erfolgreich analog organisiert hat. Der direkte Kontakt funktioniert immer noch wesentlich besser als der über Medien. Der Druck war entsprechend nie besonders hoch, die Parteiarbeit zu digitalisieren.

Natürlich haben inzwischen fast alle aktiven Mitglieder Internet und Smartphone. War es vor fünf Jahren noch ein Geheimtipp, dass man Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal oder Threema zur Parteiorganisation nutzen kann, gelten diese Apps seit einigen Jahren als Standard.

Das Kassenbuch der Ortsvereine gibt es inzwischen als Onlinedienst. Über den Easymailer können Abgeordnete und Vorstände ihre Mitglieder per Newsletter erreichen. Und wer dennoch einen klassischen Rundbrief verschicken will, kann das über das SPD-Service-Center abwickeln lassen. Niemand muss mehr selbst drucken, eintüten und Briefmarken anlecken.

Durch die Corona-Pandemie mussten sich die Ortsvereine, Arbeitsgemeinschaften und Abgeordneten nun doch verstärkt damit beschäftigen, wie sie sich via Internet treffen können. Wie in vielen Bereichen probierten sie Videokonferenzen per Zoom, Webex oder Jitisi aus und begannen, sich mit Tools wie Nextcloud oder Humhub zu beschäftigen, über die man virtuell zusammenarbeiten kann.

Digitale Organisation für digitalen Wahlkampf

Für die kommenden Wahlkämpfe wird es eine der Hauptherausforderungen für die Parteien sein, die ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer in die Kampagne einzubinden – vor allem auch unter den Bedingungen der Pandemie.

Die dezentrale Struktur war schon immer eine der Stärken der Parteiorganisation der SPD. Sie war mitgliederorientiert und top-down geordnet: Die Wahlzentrale konnte Aufgaben an die Basisorganisationen delegieren, die dann Plakate aufgehängt, Handzettel verteilt, Haustürgespräche geführt oder Infostände betrieben hat. Ergänzt um weitere, eigene Initiativen und Aktionen.

Diese Struktur ist vielerorts ausgedünnt. Mitglieder, die beim Wahlkampf helfen wollen, sind auf sich gestellt. Sie müssen in die zentrale Kommunikation und Informationen eingebunden werden. Hier zeigen sich die Vorteile der digitalen Kommunikation, bei der eine Mischung aus Messenger, Videokonferenzen und Cloudspeichern u. a. für Info- und Wahlmaterial zum Einsatz kommt.

Doch auch Mitglieder müssen außerhalb von Wahlkämpfen zunehmend lernen, sich selbst zu organisieren. Die technischen Tools und zentralisierten Services dienen hierbei als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. »Sozis für Tiere« machen es vor: Die Gruppe, die sich für Tierrechte einsetzt, wurde von keinem Vorstand etabliert, kein Parteitag hat ihr einen Auftrag gegeben. Aber alle können dort mitmachen.

Der Anspruch der SPD ist, immer dort zu sein, wo die Zukunft spielt. Doch zu entscheiden, wo konkret diese Zukunft gerade ist (oder demnächst sein wird), ist keine einfache Aufgabe: Allein das Thema Social Media wird aufgrund zahlreicher Angebote immer breiter: Twitter, Facebook, Instagram, von »konservativ-seriös« bei LinkedIn über »lustig-albern« bei TikTok bis hin zum »nächsten heißen Scheiß«, dem Clubhouse. Der eigene Podcast gehört auch immer noch zum guten Ton.

Für Politikerinnen und Politiker wird es immer schwieriger, zu entscheiden, über welche Kanäle sie ihre Wähler erreichen wollen, welcher Kanal ihnen wirklich bei der Vermittlung ihrer Botschaften hilft. Außerdem sind die Anforderungen an die Kommunikation wesentlich spezieller geworden. Jeder Kanal hat seine eigenen Regeln und Traditionen: Die zulässige Nachrichtenlänge, die Art der Verstichwortung, Möglichkeiten der Reaktion und Interaktion, Gruppenbildung, Follower-Strukturen, die Möglichkeit der Anbindung von Bild oder Video sind unterschiedlich.

Es reicht heute nicht mehr, einfach auf Twitter präsent zu sein. Es erfordert Zeit und professionelle Arbeit, um mit einem eigenen politischen Account aufzufallen. Man muss verschiedene Kanäle benutzen, auch um Nutzer von einem in den anderen Kanal zu ziehen (wie es heute beispielsweise mit den Einladungen zu den Clubhouse-Diskussionen via Twitter geschieht).

Gleichzeitig ist keines der alten Mittel der Politikvermittlung verschwunden: die öffentliche Rede, das Plakat, der Infostand, die Haustürgespräche, die Abendveranstaltung, die Sprechstunde – im Büro und per Telefon, der Handzettel, die Frühverteilung, das Sommerfest, das Grünkohlessen usw.

Dabei wird es mit jedem neuen Kanal schwieriger, noch Politik zu vermitteln. Die Texte werden kürzer. Links sind teilweise nicht möglich. Die Inhaltsschnipsel werden kleiner und kleiner, die Zielgruppen zersplitterter. Politische Inhalte, die über Messenger-Dienste verbreitet werden, bleiben der Öffentlichkeit verborgen.

Parallel mit den unbestreitbaren Vorteilen der digitalen Kommunikation steigen auch die Möglichkeiten der destruktiven Nutzung. Gerade Facebook und Twitter kuratieren die Timelines ihrer Nutzerschaft automatisch. Die Systeme wählen Inhalte aus, auf die mehr Menschen reagieren. Sei es mit Likes oder mit Kommentaren.

Diese Inhalte sind offensichtlich für die Nutzerinnen und Nutzer interessanter. Die verbringen dann mehr Zeit auf den Plattformen und geben mehr über das preis, was sie interessiert. Mit diesen Daten versprechen die Plattformen ihren Werbekunden, gezieltere Werbung schalten zu können.

Das fördert kontroverse Inhalte. Parteien und ihre Kandidaten haben mit steigender Anzahl von Trollen und teilweise professionellen Trollfabriken, radikalen Konkurrenten oder Störenfrieden zu tun, die die sachliche Diskussion und den konstruktiven Austausch verhindern wollen.

Falschinformationen und Lügen werden strategisch eingesetzt, um für Verwirrung, Ablenkung, Desinformation und Sabotage zu sorgen. Das Vertrauen in einen demokratischen Diskurs soll untergraben werden. Viel leichter als früher kann man heute nicht nur den politischen Gegner, sondern auch gleich die ganze Institution der demokratischen Wahlen diskreditieren.

Digitale Souveränität und demokratischer Diskurs

Seit 1998 ist die Kommunikation via Internet tief in die Arbeit der SPD eingedrungen. Das eröffnet neue Chancen des Austauschs – intern, aber auch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Gleichzeitig ist das Thema so breit geworden, dass es die ehrenamtliche Organisation an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringt.

Die tiefe Durchdringung hat nicht nur die Partei, sondern die ganze Gesellschaft davon abhängig gemacht, wie gut das Internet als Kommunikationsmedium funktioniert. Die Demokratie ist somit abhängig von einigen wenigen kommerziellen Plattformen. Wachsende Teile des Wahlkampfbudgets werden für Online-Wahlkampf eingeplant, während der klassische Wahlkampf nicht verschwindet.

Die Frage wird immer zentraler, wie abhängig die SPD und andere Parteien von den Plattformen werden. War doch gerade die Sozialdemokratie in den zurückliegenden 158 Jahren immer stolz darauf, aus den Spenden der Arbeiterinnen und Arbeiter mit all den Volkszeitungen ein kleines Medienimperium aufgebaut zu haben.

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