Vor 100 Jahren, im Sommer 1920 fand in Berlin ein denkwürdiges Ereignis statt, das wohl wie kein zweites in der Geschichte der Moderne die Entwicklung der Kunst beeinflusst hat. Damit die singuläre Schau nicht wieder in Vergessenheit gerät, sondern im kulturellen Gedächtnis präsent bleibt, braucht es stetige Erinnerung, vor allem in solch unruhigen Zeiten, wie wir sie momentan erleben. Auch damals grassierte eine pandemische Seuche, die unter dem Namen »Spanische Grippe« nach dem verlorenen Krieg seit 1918 auch in Deutschland wütete und die geschwächten Menschen scharenweise dahinraffte, weltweit mehr als der gesamte Krieg. Gerade war im März 1920 der von Wolfgang Kapp angezettelte Putschversuch gegen die junge Republik gescheitert, als jene damals wie heute gefürchtete »zweite Welle« das Land erneut todbringend überrollte. Im Sommer hatte die »Grippe« ihren Höhepunkt überschritten und war wenig später einfach verschwunden, bald auch aus dem kollektiven Gedächtnis, bis sie durch Corona wieder in Erinnerung gerufen wurde.
Genauso gründlich verschwand zunächst auch die Erinnerung an ein paar verrückte Künstler und Literaten, die die Hybris besaßen, mit einer Ausstellung den Spießbürgern und der korrupten, bourgeoisen Elite den berühmten »Spiegel vor die Fratze« halten zu wollen. Die »Erste Internationale Dada-Messe« vom Sommer 1920 hatte keine Nachfolger, sie war zugleich Höhepunkt und Abschluss von »Dada Berlin«. Als sich zur Jahrzehntmitte die Weimarer Republik stabilisierte, gab es Dada und die Dadaisten schon längst nicht mehr. Dass die einzigartige Schau, in die sich in den knapp zwei Monaten im Sommer 1920 nur ein paar hundert Besucher verirrten, erst ein halbes Jahrhundert später zu großem Ruhm gelangte, hatte vor allem einen Grund: die Zeitzeugenschaft von Künstlerinnen und Künstlern, die unmittelbar beteiligt gewesen waren. Dafür stehen beispielhaft Hannah Höch und George Grosz, die beide ihre Erinnerungen veröffentlichten: Beide waren nach dem Ende der Nazidiktatur und dem Zweiten Weltkrieg Mitte 50 Jahre alt, beide waren als »entartet« diffamiert worden und nach der Machtübernahme geflohen, sie in die innere Emigration weitab von Berlin, er sofort im Januar 1933 in die USA.
1946 erscheint in New York Georges Grosz' Autobiografie A Little Yes and a Big No, geschrieben für ein amerikanisches Publikum. Dada ist darin für den einstigen Dada-Marschall seit langem Geschichte und spielt in dem Buch auch nur ganz am Rande eine Rolle. Stattdessen liefert der Künstler ein subjektives, düster-negatives Stimmungsbild der frühen 20er Jahre, untergründig gekennzeichnet von den Depressionen, die ihn immer öfter heimsuchen. Es gehört zu den bösen Ironien der deutschen Kulturgeschichte, dass das heute allseits bekannte Schlagwort vom »Tanz auf dem Vulkan«, in dem sich Grosz' Blick zurück auf »Dada Berlin« ebenso eingängig wie plakativ zu verdichten scheint, 1938 in Nazi-Deutschland erfunden wurde: von der Ufa als Titel eines Exemplars der in der Diktatur so beliebten Kostüm-, Musik- und Liebesfilme.
»Es war eine völlig negative Welt«, schreibt der Künstler 1946, »mit buntem Schaum obenauf, den viele für das wahre, das glückliche Deutschland vor dem Ausbruch der neuen Barbarei hielten. Fremde ließen sich nur zu leicht durch das scheinbar sorglose, lustige, wirbelnde Leben an der Oberfläche täuschen. (…) Dicht unter dieser lebendigen Oberfläche, die so schön wie ein Sumpf schillerte und ganz kurzweilig war, lagen der Bruderhass und die Zerrissenheit, und die Regimenter formierten sich für die endgültige Auseinandersetzung.«
Hannah Höch dagegen empfindet das Ende der Naziherrschaft als pure Befreiung, möchte nach den Jahren der Isolation wieder malen und ausstellen und hat immer noch eine Mission: Sie will die Fotomontage, diese von ihr 1918 maßgeblich mitentwickelte, genuine Dada-Technik als Kunstform etablieren und damit auch Dada-Berlin als revolutionäre Bewegung wieder ins Gedächtnis rufen. Aber die Abstraktion gilt nun als Ausdrucksmedium von Freiheit und Moderne, niemand will von Dada etwas wissen. 1949 verfasst Hannah Höch für ihre erste Einzelausstellung nach dem Krieg ein »Bekenntnis zu Dada«, in Erinnerung an eine Avantgarde, die für sie immer noch lebendig ist und in die sie sich einreiht. Lebenslang versteht sie sich als Dadaistin.
»Dada war eine Revolte von Künstlern und werdenden Künstlern gegen das System, das den Ersten Weltkrieg brachte. Wir wollten die Freiheit. Wir wüteten, zum Teil symbolisch, gegen festgelegte Kunstformen, gegen Gesellschaftsformen, gegen einengende Grenzen und alles was Grenzen anstrebt. Wir versuchten zu erobern: Freiheit im Denken und Schaffen, Verständnis für alles Menschliche und ein eigenes, trotzdem verantwortungsvolles, ethisches Gesetz. Es gab Scherben und Lärm – und ergab viele neue Anregungen.«
Der Einsatz Hannah Höchs und weniger Mitstreiter hatte schließlich Erfolg: 1958 wird die erste internationale Retrospektive »Dada – Dokumente einer Bewegung« in der Kunsthalle Düsseldorf eröffnet, die Dadaistin zeigt über 20 Arbeiten und steuert viele Dokumente bei. Die Schau wird zur Sensation, sie selbst zur zentralen Zeitzeugin und Grande Dame Dada. Damit begann 40 Jahre nach seiner Gründung Dadas Siegeszug und zugleich seine Musealisierung. Aber kann man eine Bewegung ausstellen? »Dada war eine Bombe«, sagte der Freund Max Ernst und lehnte die Schau ab. »Kann man sich irgendjemand vorstellen, der fast ein halbes Jahrhundert nach der Explosion einer Bombe sich damit abgibt, ihre Splitter zu suchen, sie zusammen zu kitten und zu zeigen?« Auch Hannah Höch spürt zunehmend den unauflöslichen Zwiespalt.
Der Riss ließ sich nicht kitten. Von Anfang an steht er für Grosz' dunkel-dystopischen Blick ebenso wie für Höchs hoffnungsvolle Utopie. Als Denkmodell der deutschen Moderne war Dada ein janusköpfiges, überaus schillerndes Phänomen: ironisch und verspielt, konstruktiv, poetisch und weise auf der einen Seite; zynisch und destruktiv auf der anderen, voller Hass und Aggression, Verachtung und Hohn. Dada bekämpfte den »blutigen Ernst«, der doch tief in ihm selbst steckte. Geboren aus dem Geist des Krieges im Hungerwinter 1918 in Berlin – militant, politisch, links und unverwechselbar – war diese erste und bedeutendste der Nachkriegsavantgarden zugleich eine künstlerische und eine literarische Revolte. Rasch erreichte sie eine neue Qualität, hin zur Aktion und Agitation, zur Kunst und zu neuen Medien. Ihre Zeitschriften, Manifeste und Dichtungen waren ebenso legendär wie die Fotomontagen, Malereien oder Assemblagen, wie die Veranstaltungen und Soireen, die wilden Gesänge und Publikumsbeschimpfungen. Das funktionierte mit-, neben- und immer wieder gegeneinander in wechselnden, verfeindeten Gruppen, Bündnissen und Fraktionen drei atemlose Jahre lang zunehmend mehr schlecht als recht.
Der Versuch von Zeitzeugen wie Hannah Höch, Jahrzehnte später etwas von der Authentizität und der Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft einfangen zu wollen, ja vom lebendigen Geist der Revolte mit Namen Dada, und das alles in einer Ausstellung für die Nachgeborenen sichtbar zu machen, musste scheitern. Die »Splitter« waren letztlich nur Papierschnipsel. 1967 malt die Künstlerin das Gemälde Mausoleum für eine Utopie, darauf ein Bau, der, so prächtig er ist, doch eine Grabstätte bleibt.
»Es ist der Vorzug von Dada, jung gestorben zu sei«, sagte Max Ernst lakonisch, Dada ist kein Museumsstück. Im Grunde gab es bereits im Sommer 1920, um im Bild zu bleiben, zu viele Splitter der Bombe Dada, deren Explosion die frühen Jahre der Weimarer Republik so nachhaltig mitgeprägt hatte. Aber die Beerdigung war überaus glanzvoll und Dada-würdig. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es George Grosz war, der die Idee zu der großen Ausstellung hatte, weil er als erster das Auseinanderbrechen der Gruppe voraussah. Der »Dada-Marschall« fungierte gemeinsam mit »Monteurdada« John Heartfield und »Dadasoph« Raoul Hausmann als Veranstalter. Er stellte den Kontakt zu dem Galeristen Otto Burchhard her, der das Unternehmen auch finanziell unterstützte, und lud zum ersten Treffen am 6. Juni 1920 ein. »Alle dadas« waren da, auch »dadaMax aus Cologne«. Und alle machten mit. Zwischenzeitlich habe es »in den Ateliers der beteiligten Künstler wie in Papierkörben ausgesehen«, schreibt Hannah Höch 1946 in einem ihrer Texte über die Fotomontage und die »Messe«. Denn das meiste wurde selbstgemacht, fotografiert und vergrößert, gesetzt und gedruckt, gerahmt, gebaut und natürlich ausgeschnitten und geklebt.
Am 30. Juni 1920 fand in den Räumen der Kunsthandlung im Seitenflügel eines repräsentativen Mietshauses am Lützowufer 13 die Eröffnung der Schau statt, in »zwei Hinterzimmern«, wie ein Rezensent süffisant anmerkte. Schon der Titel »Erste Internationale Dada-Messe« spielt gekonnt mit vielerlei Assoziationen. »Erste« bedeutet »Neues« und vor allem nur das »Beste« und verheißt mindestens eine zweite Veranstaltung: Berlin sollte Dadas internationales Zentrum werden. Unmissverständlich gegen den Patriotismus der Weltkriegsnationen gerichtet, forderten die Dadaisten die Internationalität, die, wenn auch etwas zu vollmundig versprochen, unter den schwierigen Verhältnissen auch eingelöst wird. Immerhin vier Künstler kamen aus dem Ausland, einer sogar aus Chicago. Insgesamt verzeichnet das vierseitige, von John Heartfield gestaltete Katalogfaltblatt 174 »dadaistische Erzeugnisse« von 27 Ausstellern. So vereinigte die Schau mit Max Ernst, Hans Arp und Francis Picabia Künstler aus den Dada-Zentren Köln, Zürich und Paris mit Künstlern aus Süddeutschland, dem Rheinland und aus Dresden mit dem Berliner »Club Dada«. Auch der Begriff »Messe« war vieldeutig, er spielte einerseits ironisch auf die zahlreichen Verkaufs- und Mustermessen an, auf denen auch Dada seine Ware Kunst, sprich »Erzeugnisse« anbieten sollte. Andererseits war mit dem Wort auch die »Christliche Messe« gemeint, die Dada Berlin allerdings als Anti-Messe zelebrierte, gehörte doch der Geistliche mit dem Militär und Bildungsbürger zu den Hassobjekten der Dadaisten.
Von der Ausstellung existieren zwölf Fotografien, die – mit und ohne Dada-Akteure – vor allem den ersten Raum gut dokumentieren. Die Absicht der Inszenierung ist klar erkennbar: die schiere Überwältigung des Publikums durch eine Überfülle an Material unterschiedlichster Art. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Mixtum aus Foto- und Schriftmontagen, Ölbildern, Fotografien, Plakaten, Werbezetteln und dreidimensionalen Arbeiten. Pate gestanden haben sicherlich die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern sowie die sehr enge Bilderreihung der sogenannten »Petersburger Hängung«, deren Ziel es war, die Vielfalt als Einheit zu präsentieren. Genau so inszenierten die Ausstellungsmacher 1920 das Prinzip Dada als Gesamtzusammenhang und die Ausstellung als visuelles Manifest.
Denn bei aller Spontaneität gab es ein Konzept. So strukturierten drei große Fotoporträts der Veranstalter und vereinheitlichte Schrifttafeln mit Dada-Sprüchen den Raum, dessen Mittelpunkt zwei riesige, heute verschollene Gemälde bildeten: George Grosz' böses Deutschland ein Wintermärchen, mit dem ewigen deutschen Spießer als Weltenrichter, und Otto Dix' gerade vollendetes 45 % Erwerbsfähig!, das vier groteske Kriegskrüppel im strammen Prothesenmarsch zeigt. Die Dreieinigkeit komplettierte der von der Decke hängende Preußische Erzengel von Rudolf Schlichter, eine ausgestopfte Puppe in Soldatenuniform mit Stiefeln und Schweinskopf.
Die Ausstellung wurde am 25. August 1920 geschlossen. Der Ruhm blieb aus, es gab nur Schulden, kein einflussreiches Berliner Dada-Zentrum und keine zweite Messe. Dada starb jung.
Ein einziges Mal hatten die Dadaisten das Unmögliche gewagt. Sie hatten ihre Kräfte gebündelt und die künstlerischen und literarischen Aktivitäten, Medien, Ideen und Utopien in eine Einheit gezwungen und daraus eine anschauliche Form entwickelt von dem, was Dada vielleicht war. Nie zuvor und auch nicht danach hat es eine derartige Ausstellung gegeben. Sie blieb ein Solitär. Das mag zu der Faszination und auratischen Ausstrahlung beigetragen haben, die sie auf ein paar Menschen ausübte und die späte Wiederentdeckung förderte. Heute ist Dada längst anerkannt und die Dada-Messe zählt zu den wichtigsten Ausstellungen des 20. Jahrhunderts. Als erster wurde ihr 1988 die Ehre einer Rekonstruktion zuteil. Damit schrieb sie sich endgültig in die Annalen der Kunstgeschichte wie in das kollektive Gedächtnis ein. Daran sollte erinnert werden.
(Buch zum Thema: Hanne Bergius: Montage und Metamechanik. Dada Berlin – Artistik von Polaritäten. Mann, Berlin 2000.)
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