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Über das Verhältnis von Bürgerprotesten, Bewegungen und Parteien Vom politischen Vorfeld zu Gegnern

Bürgerproteste und soziale Bewegungen, welche nach Einfluss auf demokratische Entscheidungsfindungen trachten, sind immer auch Indikatoren für Verschiebungen und Dysbalancen innerhalb dessen, was gesellschaftlich als Demokratie und als demokratisch erachtet wird. Denn egal, ob sich Proteste von Bürgern – wie zumeist – gegen Entscheidungen und Vorhaben etablierter Akteure richten, oder ob sie als Unterstützer für ihnen gefährdet erscheinende Projekte aktiv werden: Immer stehen sie in einem komplementären Verhältnis zu den institutionalisierten Akteuren. Proteste und Bewegungen sehen sich selbst als politische Kräfte, die genau jenes vermögen, zu dem etablierte, mit historischen Pfadabhängigkeiten versehene und hierarchisch organisierte Großorganisationen wie parlamentarisch vertretene Parteien nicht mehr imstande sind. Und insofern zeigen Proteste und soziale Bewegungen in einer Gesellschaft, ihre Zahl und ihre Themen, ihre Aktionsformen, Demokratiehoffnungen und Forderungen auf, an welchen Stellen sich Lücken aufgetan haben zwischen dem, was Menschen als demokratische Normen, Formate und Inhalte empfinden und dem, was sie an real stattfindenden Entscheidungsmechanismen wahrnehmen. Beides aber wandelt sich fortwährend und ist immer nur zeitweise in Deckung zu bringen.

Zeiten, in denen besonders viele Proteste aufflammen, in denen neue soziale Gruppen mit Selbstbewusstsein und neuen politischen Aktionsformen auf den Plan treten und Plausibilität, politisches Vertrauen und Glaubwürdigkeit für sich reklamieren, sind dann auch Phasen des gesellschaftlichen Wandels und der sich verschiebenden sozialen Kräfteverhältnisse. Das war ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen des politischen Liberalismus der Fall, später mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegungen, in den Zwischenkriegsjahren mit dem Siegeszug der europäischen Faschismen wie auch mit den neuen sozialen Bewegungen von den 60er bis zu den 80er Jahren: Stets waren gesellschaftliche Proteste von einem Gefühl befeuert, dass aus der ferneren oder jüngeren Vergangenheit erwachsene Erwartungen und Hoffnungen mit veränderten Rahmenbedingungen kollidierten. Oder aber, anders herum, dass sich gewandelte Werte und Ansprüche an Beharrungskräften und etablierten Hierarchien rieben. Und dies mag auch jüngst ab etwa 2008 der Fall sein, seitdem sich mit den Protesten um Stuttgart 21 und die Flughäfen in München und Berlin-Brandenburg, der Occupy-Bewegung, dem Widerstand gegen die Energiewende mit ihren Stromtrassen und Windkraftanlagen bis hin zu den Pegida-Demonstrationen in Sachsen vermehrt Menschen ihren Anliegen bewusst außerhalb von politischen Parteien Gehör verschaffen.

Zunächst waren soziale Bewegungen mehr ein Wurzelboden im vorpolitischen Raum einer Gesellschaft, auf dem politische Parteien wachsen und gedeihen konnten, indem sie dabei halfen, Menschen zu gefestigten Milieus zusammenzufassen. Die dicht gewebten Organisationswelten der Milieus der Arbeiterschaft wie des Katholizismus etwa, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und bis in die 50er Jahre hinein Bestand hatten, unterstreichen diese Rolle. Soziale Bewegungen als organisierte Bürgerproteste hatten eine komplementäre und festigende Rolle mit Bezug zu den ihnen zugehörigen politischen Parteien inne – beides waren Entsprechungen stabiler Milieu- und Lebenswelten. Und sie übersetzten die Bedeutungen politischer Ideologiewelten in eine verständliche Alltagspraxis, verdeutlichten Solidaritäten und reproduzierten die Selbstverständnisse gesellschaftlicher Gruppen durch ihre Veranstaltungen, Treffen und Rituale. Soziale Bewegungen waren gleichsam eine Art alltagsverständlicher Transmissionsriemen der Politik und gleichzeitig deren Nervenenden in die Gesellschaften hinein.

Doch mit dem gesellschaftlichen Wandel, mit der zunehmenden Auflösung der Ordnung westlicher Gesellschaften durch Individualisierung, Säkularisierung und Globalisierung veränderte sich diese Rolle mit den brüchiger werdenden Verbindungen zu politischen Parteien, denen ihrerseits ein enger Fokus auf eine soziale Lebenswelt in den parlamentarischen Demokratien für die Suche nach elektoralen Mehrheiten nicht mehr ausreichte. Die gesellschaftliche Funktion sozialer Bewegungen und in der Folge organisierter Bürgerproteste hat sich seit den 60er und 70er Jahren insofern gewandelt, als dass sie nicht mehr politische Vorfeldorganisationen sind, sondern zu grundsätzlichen Kritikern an Politik und Parteien wurden und aus der engen lebensweltlichen Allianz mit Parteien als ihren politischen Armen herausrückten. Damit verband sich die Erwartung, dass Bürgerproteste und bewegungsförmige organisierte Zusammenhänge inhaltliche Kompetenzen von Bürgern zur Formulierung politischer Alternativen vermeintlich freier und effizienter bündeln können und zudem repräsentativer und glaubwürdiger handeln, als dies politische Parteien heutzutage vermögen.

Im Kern sind es zwei Argumente, die Parteien gleichzeitig als Ursache und Kristallisation einer Krise kennzeichnen sollen: Sie seien, erstens, heutzutage nicht mehr Vertreter gesellschaftlicher Mehrheiten – nicht, was die Wählerstimmen anbelangt, und schon gar nicht hinsichtlich der Mitglieder –, monopolisierten aber gleichwohl die demokratische Entscheidungsfindung. Sie könnten, zweitens, ihrer Aufgabe, politische Alternativen zu entwickeln, längst nicht mehr nachkommen, da sie kaum mehr auf unterscheidbaren sozialen Lebenswelten aufbauen, sondern allesamt um Mehrheiten in einer amorphen gesellschaftlichen Mitte werben.

Die Phänomene der Bürgerproteste der vergangenen Jahre machen deutlich, dass das Vertrauen in politische Parteien, für demokratisch legitimierte Entscheidungen innerhalb unserer Gesellschaften zu sorgen und eine als effektiv und zielführend empfundene Politik zu organisieren, beträchtlich gesunken ist. Dies findet zum einen seine Ursachen in den bereits bemühten Metaentwicklungen von Individualisierung, Säkularisierung und Globalisierung, deren Auswirkungen etwa vom jüngst verstorbenen Soziologen Zygmunt Baumann als »flüchtige Moderne« beschrieben worden sind. Menschen emanzipieren sich aus sozialen Großzusammenhängen heraus und verlieren darüber die Fähigkeit, stabile und langfristige Identitäten auszuprägen und sich auf diese Weise auch einer politischen Entsprechung zuzuordnen. Sie sind damit vergleichsweise unsichere, eben »flüchtige« Kantonisten geworden, was ihr politisches Verhalten betrifft – oder anders herum: Sie akzeptieren nicht mehr so einfach politische Entscheidungen, die ihren Präferenzen nicht vollends entsprechen, um der Einheit eines Milieus, einer Lebenswelt oder einer Bewegung willen. Zum anderen hat die Entwicklung von Bildung und Berufserfahrung innerhalb unserer Gesellschaften Menschen urteilsfähiger und widerspruchsfreudiger gemacht, auch was politische Vorhaben und ihre möglichen Auswirkungen anbelangt. Und drittens haben unsere Gesellschaften demokratische Normen, auf die/den Einzelne/n bezogen, dass nämlich Widerspruch und Engagement etwas Positives und Wünschenswertes für eine Demokratie bedeuten, immer umfassender verinnerlicht. Zusammen genommen aber haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein langfristiges kollektives Handeln immer komplizierter und brüchiger geworden sind.

Studien zu den Teilnehmern und Organisatoren von Bürgerprotesten zeigen, dass ihnen politische Parteien mit ihrem Prinzip der Integration verschiedener Gruppen oftmals als eine für sie persönlich unzumutbare Reduktion von Komplexität erscheinen. Eine Partei mit einem bindenden Programm, welches die Interessen ganz unterschiedlicher Menschen vereinen und gemeinsam vertreten soll, empfinden sie als etwas, dass ihrer Gedankenfreiheit, ihrer Betonung von Bildung und Aufklärung widerspricht. Dass eine ideologische Gemeinsamkeit so groß ist, dass man über andere Vorhaben und Entscheidungen, die den eigenen Anliegen widersprechen, hinwegsehen kann, dass man Kompromissfähigkeit als zentral für eine Demokratie als einen auszuhandelnden Mittelweg erachtet, glauben viele Menschen schlichtweg nicht mehr. Bürgerproteste führen in der Folge zu einer Individualisierung der Gemeinwohldefinition: Nicht alle, sondern wir als Kleingruppe bestimmen, was gut für die Gesellschaft ist (»Wir sind das Volk«).

Gleichzeitig aber, und das unterstreichen die zeitgenössischen Bürgerproteste, ist die Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit, nach stabilen Quellen eines sozialen und gesellschaftlichen Vertrauens nach wie vor enorm groß. Die derzeitige Popularität rechtspopulistischer Protestbewegungen in Europa, die auch von Bürgerprotesten wie Pegida etc. gespeist werden, kann unter anderem auch dadurch erklärt werden. Natürlich sind nicht alle Bürgerproteste heutzutage national, völkisch oder politisch rechts gesinnt, ganz im Gegenteil. Gemein ist aber vielen die Sehnsucht nach unverbrüchlichen Entscheidungskategorien und die Erfahrung von Gemeinsamkeiten zwischen den Teilnehmern. Besonders auffällig ist dies bei den vielen Gruppen, die sich in lokalen Kontexten für oder gegen etwas engagieren. Hier ist es die soziale Kleingruppe, die Vertrauen spendet, weil man sich schon lange kennt und eine gemeinsame Vertrauensbasis entwickelt hat, da man aus dem gleichen Ort oder Viertel kommt. Diese Gemeinsamkeit als Vertrauensfundament zu suggerieren, fällt politischen Parteien umso schwerer, da die integrierenden Momente, wie etwa geteilte Ideologien o. Ä., über die vergangenen Jahrzehnte drastisch an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben.

Bürgerprotestgruppen tun sich schwer damit, Demokratie und demokratische Entscheidungsprozesse als Mittelweg zu einem möglichst alle Interessen berücksichtigenden Gemeinwohl zu betrachten – als eine langfristige Aushandlung, die den allermeisten Beteiligten eben nie alle Anliegen erfüllt, sondern immer nur zum Teil. Genau diese Aushandlungs- und Kompromisslogiken stehen aber im Kern des Denkens und Handelns von politischen Parteien – nach innen wie nach außen – und genau damit sind sie unverzichtbare Pfeiler unseres demokratischen Gesellschaftssystems geworden. Diese Logik verändern auch alle Reformforen und Bürgerdialoge nicht, die Parteien öffnen und modernisieren sollen.

Auch deshalb tun Parteien gut daran, Bürgerproteste einzubinden, aber sie unermüdlich daran zu erinnern, dass Demokratie zwangsläufig die Suche nach einem meist blassen Mittelweg zwischen den unterschiedlichsten – berechtigten – Interessen ist. Und dass es zumeist Stärke und nicht Schwäche bedeutet, wenn vermittelnde Institutionen auf diese Weise Konflikte einhegen. Bürgerproteste und Bewegungen sollten demgegenüber Parteien daran erinnern, dass Demokratie als inhaltlicher Anspruch wie auch als formale Idee nichts in Stein Gemeißeltes ist und in ihrer konkreten Ausgestaltung stets fluide. Und dass die meisten Bürger ein politisches Urteilsvermögen besitzen, welches vielleicht höher ist denn je zuvor in der Geschichte; dass es nicht mehr zeitgemäß ist und ungenutzte Ressourcen und Entmündigung bedeutet, ihre Beteiligung auf eine Wahlentscheidung alle paar Jahre zu beschränken. Parteien sind heutzutage kaum mehr der Ort, an dem sich politische Identitäten für viele Menschen bilden und äußern. Protestbewegungen sind dies derzeit in sehr viel größerem Umfang und vermitteln Emotionen, die Menschen in Parteien nicht mehr glauben erleben zu können. Daraus aber zu folgern, dass ihnen die demokratische Entscheidungsfindung allein zu überantworten sei, wäre fahrlässig. Genauso, wie von Parteienseite darauf zu hoffen, dass alles so bleibt, wie es ist.

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