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Vom utopischen Sozialismus zur sozialistischen Utopie

Um die Begriffe Utopie und Sozialismus besteht nach wie vor eine große Verwirrung. Da veröffentlicht der Jenaer Soziologie-Professor Klaus Dörre im letzten Jahr ein Buch unter dem Titel Die Utopie des Sozialismus, so denken andere bei Sozialismus eher nicht an Zukunft, sondern an eine untergegangene Vergangenheit. Beklagen manche den Utopieverlust der gesellschaftlichen Linken, halten andere mit Friedrich Engels fest an einer vermeintlichen »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Wie verhält es sich also mit den Debatten, die in den letzten 200 Jahren um den utopischen Sozialismus, den wissenschaftlichen Sozialismus und die sozialistische Utopie geführt wurden? Worin unterscheiden sich die grundlegenden Denkfiguren und wo stehen wir heute?

Utopischer Sozialismus ist ein besonders schillernder Begriff in der europäischen Ideengeschichte, da es sich seinem Ursprung nach nicht um eine Selbst- sondern um eine Fremdbezeichnung handelt. Karl Marx und Friedrich Engels nutzten diesen Kampfbegriff 1848 zur Abgrenzung von ihren Vorläufern wie Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Owen. Was werfen Sie diesen vor? Im Manifest der Kommunistischen Partei sind es folgende Vorwürfe: Die sogenannten »utopistischen Sozialisten« würden die Lage aller Menschen, unabhängig von der Klassenlage, verbessern wollen. Daher setzten sie nicht auf Klassenkampf, sondern auf Appelle und vor allem auf »kleine, natürlich fehlschlagende Experimente«.

Diese Kritik ist durchaus fair. Vor allem die Gründung kleiner Gesellschaften ist Robert Owens zentrale Idee, wie er 1926 schreibt: »Um alle Vorteile der Zusammenarbeit zu erreichen, müssen die Menschen in kleinen Gemeinwesen oder großen Familien versammelt werden«. Auf seine Anregung hin entstanden in den USA sozialistische Gemeinschaften, die Marx und Engels als utopistische Insellösungen kritisierten. Indem sie den Begriff Utopie von den Roman-Utopien seit Thomas Morus (1516) auf diese Siedlungen übertrugen, erfanden sie die Siedlungs-Utopien als eine Form der Praxis, die bis zu heutigen Kommunen reicht.

Die Probleme sind dabei heute häufig noch dieselben wie im 19. Jahrhundert. Bot die kapitalistische Konkurrenz höhere Löhne, verließen Owens Siedler*innen ihre »New Harmony« getaufte Kolonie, die auch als weiße Siedlung im amerikanischen Westen problematisch war. Nicht wenige Siedler*innen verließen in den 1970er Jahren ihre Landkommunen, nachdem sie bemerkt hatten, dass die Arbeitszeit in der Selbstversorgung weit über den Anforderungen in der kapitalistischen Industrie liegt. Selbst kleine gelebte Utopien, etwa eine selbstverwaltete Kollektivkneipe ohne Chefin, können in Probleme geraten, wenn die herkömmliche Gastronomie von gegenüber die Bierpreise unterbietet. So wichtig Siedlungsutopien und verwandte genossenschaftliche Ansätze für sozialistische Bewegungen sein können, so wollten Marx und Engels ihren wissenschaftlichen Sozialismus davon abgrenzen.

Der bestimmte Gang der Geschichte

Wissenschaftlicher Sozialismus ruht, wie Marx und Engels 1846 schrieben, auf anderer Basis: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«. Anstatt von einem ewigen Wesen her, seien alle Ideen und Handlungen von Menschen als Resultate eines historischen Prozesses zu denken.

Die Geschichte wiederum folge eigenen Gesetzen und eben nicht den Ideen der Menschen. Neben den praktischen Einwänden gegen Siedlungsutopien formulierten die beiden die theoretischen: »Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird«.

Nicht die Zukunft lockt, die Gegenwart zwingt. Im Laufe der kapitalistischen Krisen und erbitterten Klassenkämpfe könnten die Arbeiter*innen gar nicht anders als den Kapitalismus umzuwerfen und den Sozialismus aufzubauen. Diesen frühen Ideen blieb Engels, der die Utopie nachhaltig aus dem Marxismus verbannte, sein Leben lang treu. In seiner Utopiekritik von 1880 geht er zwar davon aus, es sei durchaus wichtig den Klassenkampf zu führen, dieser bleibe aber »unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihn herbeigeführt haben«. Die Geschichte gehe ihren wissenschaftlich erkennbaren Gang.

Für die Sozialdemokratie – zumal in Zeiten der Unterdrückung durch Bismarcks Sozialistengesetz – war dies eine frohe Botschaft: Mag der Feind tun was er will, am Ende siegen wir automatisch. Lässt sich eine solche Lesart bei Marx und Engels durchaus mit anderen Stellen konfrontieren, so wird sie durch Karl Kautsky, den Theoriepapst der SPD, 1882 kanonisiert: Thomas Morus bleibe als Autor der ersten Roman-Utopie auch verantwortlich für die Siedlungsutopie, Morus sei »der Vater des utopistischen Sozialismus, der mit Recht nach der Utopia seinen Namen erhalten hat. Dieser ist utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele, als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel«.

Der Sozialismus der Zukunft, so Kautsky, müsse »anderen Umfang haben als die Phalanstères (einer frühsozialistischen Utopie einer Produktions- und Wohngenossenschaft; die Redaktion) und sozialistische Kolonien aus dem Anfang unseres Jahrhunderts«. Und ganz gewiss, so Kautsky, hätten »Marx und Engels uns gezeigt«, dass diese Entwicklung »unwiderstehlich fortschreitet, nach bestimmten Gesetzen, nicht nach den Wünschen und Launen der Menschen«. Das Kommen des Sozialismus wird bei Kautsky von der Utopie zum Naturgesetz. Einem Naturgesetz kann niemand Vorschriften machen. Die Frage konkreter Möglichkeiten, wie Sozialismus aussähe, erübrigt sich: »Positive Vorschläge kann also die Sozialdemokratie bloß für die heutige Gesellschaft, nicht für die kommende machen«.

Als spätere Parteivorsitzende sehen Saskia Esken und Nobert-Walter Borjans dies anders. 2020 schreiben Sie in einem Artikel über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Utopie: »Geduldige Reformpolitik für ›revolutionäre‹, ›radikale‹, ›utopische‹ Ziele: parlamentarische Demokratie, Sozialgesetzgebung, Frauenemanzipation und Internationalismus«. Nun waren Parlamentarismus, Sozialstaat und Gleichberechtigung in Kautskys 1880ern in der Tat noch demokratische, sozialistische und feministische Utopien. Zwei Fragen stellen sich hingegen im Rückblick: Wurden diese immer durch geduldige Reformpolitik verwirklicht? Und was wären utopische Ansätze heute?

Im 20. Jahrhundert wurde der wissenschaftliche Sozialismus von Engels und Kautsky viel diskutiert.

Von rechts kommentiert der bürgerliche Soziologe Max Weber 1918, die sozialdemokratische Vorstellung, »daß der Sozialismus ganz von selbst im Wege der Evolution komme«, sei »vom Standpunkt der Staatsinteressen aus und zur Zeit insbesondere vom Standpunkt der militärischen Interessen aus erträglich«. Wer den Gang der Geschichte abwartet, macht sicher keine Revolution. Von links kritisiert Otto Rühle, für die SPD 1912 bis 1918 im Parlament, das Verpassen des Kairós: »Als die Revolution 1918 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands plötzlich vor die Aufgabe stellte, die Sozialisierung praktisch durchzuführen, versagte sie unter Kleinmut, Ausflüchten und Mißgriffen in beschämender Hilflosigkeit. Ihr fehlte der Mut zum Neuen – zur Utopie«. Gemeint ist bei Rühle freilich keine Rückkehr zu den älteren Siedlungsutopien oder Roman-Utopien. Sein Vorwurf beruht vielmehr auf einer bereits vollzogenen zweiten Umdeutung von Utopie.

Begriff der sozialistischen Utopie im Wandel

»Sozialistische Utopie« meint bei Rühle sowohl die Zukunft als auch deren Vorwegnahme im Geiste. Theoretiker des 20. Jahrhunderts, wie Gustav Landauer, Martin Buber, Ernst Bloch oder Herbert Marcuse, betonen die Bedeutung des Wünschens und Wollens, Hoffens und Handelns, kurz: Utopie.

Für den Anarchisten Landauer war sozialistische Utopie nichts Abzuwartendes, sondern bewusste Intention. Auch für Buber ist nur der »voluntaristische Sozialismus«, der gewollte, real. In der Frage des Staates ist er aber pragmatischer und begrüßt die Unterstützung der Kibbuzim in Israel. Für beide ist die sozialistische Utopie vor allem Motivation zum Handeln, was Siedlungsutopien umfasst.

Etwas skeptischer waren Ernst Bloch und Herbert Marcuse, die stärker von Marx selbst ausgehen. Bloch, als der Theoretiker des Utopischen schlechthin, hält schon 1918 nichts von Siedlungsutopien: »Der tätig kluge Blick hat alles zerstört, gewiß vieles auch mit Recht zerstört, all die privaten Idyllen und nichts durchbohrenden Träumereien der Siedler«. Seine sozialistische Utopie ist eine zweifache Negation: Abgelehnt werden der utopische wie der wissenschaftliche Sozialismus. So sagt Bloch: Das Warten auf den Sozialismus führe nur dazu, »dass der Sozialist (oder sage man genauer: der Sozialdemokrat) als völlig utopieloser Typ ein Sklave der objektiven Tendenzen wird. Objektivistische Idolatrie des objektiv Möglichen wartet dann zwinkernd ab, bis die ökonomischen Bedingungen reif geworden sind. Sie sind aber niemals völlig reif oder so perfekt, daß sie keinen Willen zum Handeln brauchten und keinen antizipierenden Traum im subjektiven Faktor«.

Nichts gegen genaue Analyse objektiver Tendenzen, sie nennt Bloch einen mächtigen Kältestrom. Zum Sozialismus gehöre aber auch subjektives Hoffen und Handeln, der sogenannte Wärmestrom. Bleibt das utopische Denken auf reine Negation des Bestehenden beschränkt, fehlt etwas. 1935 muss Bloch auf der Flucht vor den Nazis bilanzieren, dass der Feind diese Leerstelle gefüllt hat: »Der Erfolg der nationalsozialistischen Ideologie quittiert, seines Teils, den allzu großen Fortschritt von der Utopie zur Wissenschaft«. Negation allein genügt nicht, wenn Intention und Motivation fehlen. Dann kann die Rechte mit Mythen von Volksgemeinschaft und guter alter Zeit, wie Bloch sagt, punkten, »weil eine allzu abstrakte (nämlich zurückgebliebene) Linke die Massenphantasie unterernährt hat«.

Prinzip Hoffnung, als Gegenmittel zum Prinzip Angst des Rechtspopulismus, bedeutet dabei nicht, Menschen leichtfertig abzuspeisen. Die sozialistische Utopie soll vollwertig, also konkret sein, eine Konkretion bestehender Möglichkeiten und eine Artikulation vorhandener Bedürfnisse. Blochs Freund und Genosse Herbert Marcuse führt diese Gedanken weiter. War der Faschismus, so Bloch 1935, auch Resultat eines »allzu großen Fortschritt[s] von der Utopie zur Wissenschaft«, so behauptet Marcuse 1967: »Wir müssen auch die Möglichkeit eines Weges des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie und nicht nur von der Utopie zur Wissenschaft ins Auge fassen«.

Kurz gesagt: Wir müssen wieder darüber reden, was wir uns erhoffen, was wir brauchen und tun wollen. Zwischen Blochs Entdeckung der Utopie als antifaschistisches Abwehrmittel und Marcuses Erinnerung an Utopie als sozialistische Orientierung fällt die Enttäuschung über den sogenannten realen, besser: nominalen Sozialismus, der selbst wissenschaftlicher Sozialismus sein wollte. Zum Staatssozialismus in der Sowjetunion hielt Marcuse fest, warum dieser die soziale Utopie verfehlt: »Ohne die Initiative und Kontrolle ›von unten‹ durch die ›unmittelbaren Produzenten‹ ist Verstaatlichung bloß ein technisch-politisches Mittel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu beschleunigen und sie von oben zu kontrollieren (zentrale Planung) – mehr ein Wechsel in der Herrschaftsweise, eine Modernisierung der Herrschaft, als eine Voraussetzung sie abzuschaffen«.

Eben dies aber wollten sowohl die utopischen Sozialisten Fourier und Owen wie auch Marx und Engels oder Landauer, Buber, Bloch und Marcuse: Eine reale Demokratie ohne Herrschaft. Fourier und Owen schienen kleine Gesellschaften als geeigneter Weg dahin. Marx und Engels betonten für ihren wissenschaftlichen Sozialismus die Umwälzung der Gesellschaft, wie Kautsky richtig sagt: in anderem Umfang. Freunden der sozialistischen Utopie, wie Bloch und Marcuse, kommt das Verdienst zu, sowohl Sozialstaat als auch Staatssozialismus kritisch zu beleuchten. Der Sozialdemokrat als »utopieloser Typ« (Bloch) klebt zu sehr an bestehenden Gegebenheiten. Staatssozialismus und »zentrale Planung« (Marcuse) verschlimmern nur Herrschaft.

Wollen wir also nicht zurück zum utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts und seinen Miniaturgesellschaften, so ist aus dem 20. Jahrhundert auch zu lernen, dass die vom wissenschaftlichen Sozialismus behauptete objektive Tendenz der Gesellschaft zum Sozialismus Unfug war. Ohne den subjektiven Faktor der Utopie wird es nicht gehen. Mit der »Kontrolle von unten« gibt uns Marcuse aber auch ein Fernziel mit auf den Weg, welches die sozialistische Utopie orientiert: Vergesellschaftung statt Verstaatlichung, mehr Demokratie, auch im Wirtschaften, statt keine mehr.

Funken davon finden wir heute bei Kampagnen wie »Deutsche Wohnen enteignen« oder »RWE & Co enteignen«, wo Probleme wie bezahlbare Mieten oder der Klimawandel mit der Utopie einer Vergesellschaftung verbunden werden, die Wohn- und Energiekonzerne in Genossenschaften umwandeln und demokratisieren will. Letztlich ist dies der Punkt, der die sozialistische Utopie von liberalen Zukunftsentwürfen und konservativen Bedenken trennt: Es geht nicht nur um die Achtung von etablierten Werten oder die Anerkennung vielfältiger Lebensweisen, sondern um die Aneignung gesellschaftlichen Reichtums.

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