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Rot-grüne Regierungsarbeit von 1998 bis 2005 Vom Zauber des Anfangs bis zum tragischen Ende

Schon länger hatten die beiden Alphatiere Gerhard Schröder und Joschka Fischer vorgehabt, den »Dicken« zu beerben. Doch erst die Bundestagswahl vor 20 Jahren am 27. September 1998 lieferte die Zutrittsberechtigung zum Kanzleramt. Nach 16 Jahren Helmut Kohl hatte sich der Langmut der Regierten mit dem Amtsträger erschöpft. Eine Erfahrung, die sich gerade zu wiederholen scheint. CDU/CSU erhielten 6,3 Prozentpunkte weniger als 1994. Das reichte zum Politikwechsel. Gerhard Schröder an der Spitze der SPD erreichte 40,9 % der Wählerschaft. Der Mann, der damals noch Bürgermeister in Würselen war, schaffte 19 Jahre später nur noch die Hälfte. Bündnis 90/Die Grünen verloren zwar 0,6 Prozentpunkte, waren aber mit ihren 6,7 % als »Kellner« – wie es »Chefkoch« Schröder empfand – erstmalig Mitregenten. Eine Ära endete, eine Epoche schien begründet, mindestens aber »ein Projekt« aus der Taufe gehoben. War dies schon die in sozialdemokratischen Kreisen in Nordrhein-Westfalen geborene Vision der Verbindung von »Malochern mit Waldläufern«? War es die Regierung der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie? Jedenfalls trugen solche Visionen die Neuen durch ihre erste Amtsperiode.

Ihren Widersachern machten sie es leicht, von Beginn an Indizien für Fehlstart und Unvermögen zu sammeln. Denn zur Regierungskunst gehören ja auch strategisches Geschick, Lernfähigkeit, stetige Werbung um Vertrauen und Bündnispartner. Auch glückliche Rahmenbedingungen wären stets willkommen. An allen mangelte es. Es gab die Hypothek von 4,23 Millionen Arbeitslosen, die falsche Politik im Umgang mit dem implodierenden Jugoslawien, die zum ersten Mal deutsche Soldaten wieder in Kampfeinsätze band. Geerbt wurden Versäumnisse in der Umweltpolitik, bei der Gleichstellung, bei Zukunftsinvestitionen und vor allem bei der Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme. Zudem drückten die Lasten der Sturzgeburt deutsche Einheit. In der Endphase der Kohl-Regentschaft gab es nur noch ein leidliches Management der Probleme und einen erheblichen Modernisierungsstau.

Auf gutwilliges Mitwirken der Opposition, zumal über ihre Vetomacht Bundesrat, konnte nicht gehofft werden. Im Gegenteil. Der Zauber des Anfangs ging schon im ersten Jahr verloren. Der selbstverliebte »Superminister« Oskar Lafontaine erkannte im März 1999, dass er nicht Schatzkanzler, sondern doch »bloß« Finanzminister geworden war, und trat zurück. (Keiner aus der Kabinettsrunde kann sich an einen Lafontaine-Widerspruch gegen das militärische Eingreifen auf dem Balkan erinnern, wie er ihn später zur Rechtfertigung nachlieferte.) Union, FDP und ihre publizistischen Helfer frohlockten über das rot-grüne Regierungschaos. Mit »ruhiger Hand« wäre das alles sicher leichter zu ordnen gewesen, doch Schröder und Fischer waren Repräsentanten unruhiger Parteien, die anders als die Union nicht als Kanzlerwahlvereine taugten. Eine Menge rot-grüner Projekte konnte trotzdem zum Abschluss gebracht werden. Allen voran eine Vereinbarung zum Ausstieg aus der Atomenergie. Es gab Fortschritte hinsichtlich der doppelten Staatsbürgerschaft. Gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen bekamen den staatlichen Segen. Eine schon längst überfällige Reform des Betriebsverfassungsgesetzes gelang. Der Wille, Arbeitslosigkeit nicht zu dulden, manifestierte sich zum Ende der Amtszeit in gutmeinenden 13 Bausteinen der Hartz-Kommission. Doch war man weit davon entfernt, die mutige Ankündigung zu erfüllen, Arbeitslosigkeit »auf deutlich unter 3,5 Millionen« abzusenken.

Trotz der vielen Pluspunkte auf der Habenseite und erklärbarer Versäumnisse sanken die rot-grünen Sterne. Wochen vor dem Wahltermin 2002 schien das Ende schon wieder besiegelt. Dennoch gelang es, das Ruder noch einmal herum zu reißen. Die entschiedene Ablehnung einer Beteiligung an einem Krieg der USA gegen den Irak fand breite Zustimmung. Und der Kanzler konnte sich als sorgender Landesvater bei den Überschwemmungen in Ostdeutschland gekonnt in Szene setzen. Trotz unzulänglicher rot-grüner Bastelarbeiten am Sozialstaat, Union und FDP hatten dazu keine Alternativen, sondern wollten die rot-grünen Fehler toppen statt stoppen.

Vor allem die Gewerkschaften engagierten sich für die Wiederwahl von Rot-Grün. Zwar geben sie prinzipiell keine Wahlempfehlung, doch sind sie in Wahlauseinandersetzungen nicht meinungslos. Bei aller Unzufriedenheit mit zu kurzen Schritten in der Reformarbeit wollten sie sich wohl lieber weiterhin vier Jahre mit Schröder rumärgern als sich auf die absehbaren Gefechte mit einem Kanzler Edmund Stoiber einzulassen. Die IG Metall in Stuttgart brachte diese Grundstimmung auf ein Plakat. Es zeigte die Konterfeis von Ferdinand Porsche, Gottlieb Daimler und Robert Bosch, alle drei in der Region mit einem guten Leumund ausgestattet. Darüber stand die Frage: »Was wäre, wenn sie nur vier Jahre Zeit gehabt hätten?« Schließlich wählten am 22. September 2002 doch noch 38,5 % »Doris ihren Mann seine Partei«. Den Verlust von 2,4 Prozentpunkten konnten Die Grünen mit einem Anstieg von 6,7 % 1998 auf 8,6 % nahezu ausgleichen. Die Union gewann 3,4 Prozentpunkte hinzu und lag doch um knappe 6.000 Stimmen hinter der SPD. Ihr Spitzenmann Stoiber hatte am Wahlabend etwas voreilig erwogen, schon einmal »ein Glas Champagner öffnen« zu wollen.

Rot-Grün bekam eine Chance für weitere vier Jahre. Doch von nun an ging’s bergab. Der IG Metaller Walter Riester durfte im neuen Kabinett nicht mehr mitwirken. Kanzler Schröder lieferte das Wirtschafts- und Arbeitsministerium dem kaltherzigen Gelegenheitssozialdemokraten Wolfgang Clement aus. Das sich dahinschleppende Bündnis für Arbeit ließ er gegen die Wand fahren. Gefragt waren fortan eher Bündnisse für das Kapital. Der Wendepunkt wurde unter dem Etikett »Agenda 2010« am 14. März 2003 verkündet. Die Opposition traute ihren Ohren nicht, denn der Kanzler nahm eine ganze Menge auf, was in den Wunschkatalogen neoliberaler Propheten stand. Angesetzt wurde nicht an den Ursachen konjunktureller Schwächen, sondern an den Folgen. Eine deutliche Priorität für das Fördern von Innovationen und Investitionen fehlte. Nur zaghaft gab es Signale für neue Weichenstellungen in der Bildungs- und Forschungspolitik. Deutlicher fand sich die Absicht, allen abhängig Beschäftigten Mehrkosten für die Krankenversicherung aufzuerlegen, um Arbeitgeber zu entlasten. Der versprochene Vorteil, auf diese Weise die Investitionsfreude der Unternehmen zu stimulieren, wurde mit dem Nachteil erkauft, die Binnenkaufkraft einmal mehr geschmälert zu haben. Die größte Irritation löse das Vorhaben aus, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für unter 55-Jährige auf zwölf und für Ältere auf 18 Monate zu begrenzen, weil dies notwendig sei, um Lohnnebenkosten im Griff zu halten. Priorität für die SPD hatte bislang das Bekämpfen von Arbeitslosigkeit und nicht das Belasten von Arbeitslosen. Die Verkürzung der Bezugsdauer abstrahierte von Versicherungszeiten und regional ungleichen Einstellungschancen gerade für ältere Arbeitslose. Die Bezieher des neuen Arbeitslosengeldes II sollten nur noch eine Unterstützung auf dem Niveau der Sozialhilfe erhalten. Den Gewerkschaften hatte der Kanzler Tage zuvor anderes versichert. Er zeigte sich so von seinen Vorhaben überzeugt, dass er Debatten über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen nicht mehr führen wollte. Die gesamte Agenda 2010 galt in seiner Zeit als ein geschlossenes Reformwerk, bei dem sich das Suchen nach besseren Alternativen erübrigte. Folgebereitschaft, was frühere SPD-Vorsitzende von treuen Parteisoldaten vielleicht noch verlangen konnten, wollten die vielen eigenständigen Köpfe in Partei und Wählerschaft nicht mehr leisten. In redlichen Debatten darf zwar nicht behauptet werden, der Kanzler sei selbst zum Neoliberalen geworden. (Wie alle aus gemeinsamen Juso-Zeiten noch wissen, hatte er stets ein instrumentelles Verhältnis zu Gewissheiten.) Was aber sicher richtig ist: Kanzler Schröder hat mit zentralen Agenda-Botschaften darauf verzichtet, weiterhin für Alternativen zum neoliberalen Mainstream zu werben und stattdessen bloß noch auf Varianten gesetzt. Getreu dem Motto »If you can’t beat them, join them!« übernahm er Instrumente aus dem Arsenal des Neoliberalismus, wie sie bislang in der SPD als nicht mehrheitsfähig galten. Aus den vielen Hartz-Kommissionsvorschlägen wurden höchst umstrittene Hartz-Gesetze. Es wurde zu viel gefordert ohne zu fördern. Hier liegt der Kern bis heute andauernder Vertrauensverluste für die SPD. Elf Landtagswahlen nacheinander gingen verloren. Schröder verzichtete im Februar 2004 auf den Parteivorsitz und hinterließ seinem Nachfolger Franz Müntefering eine gespaltene Partei sowie eine Entfremdung von Gewerkschaften und Stammwählerschaft. SPD-Hasser Lafontaine verbündete sich mit den Erben der SED und sorgte fortan dafür, dass die SPD nie wieder in die Nähe ihrer einstigen Wahlerfolge kommen konnte. Die Konkurrenzparteien gerieten in Hochstimmung. Das Ende von Rot-Grün schien nur noch eine Frage des nächsten Wahltermins. Was so hoffnungsvoll als »Projekt« startete, stand vor einem Scherbenhaufen. Als im Mai 2005 auch noch die Wahl in Nordrhein-Westfalen verloren ging (- 5,7 Prozentpunkte) und die letzte rot-grüne Landesregierung abgelöst wurde, überraschten Kanzler und SPD-Vorsitzender den grünen Koalitionspartner mit der Entscheidung, die zweite rot-grüne Amtszeit um zwölf Monate zu verkürzen. Gerätselt wird, ob mit vorgezogenen Neuwahlen der von Oskar Lafontaine betriebenen Gründung einer linken Konkurrenzpartei der Wind aus den Segeln genommen werden sollte. Wäre es so gewesen, misslang es gründlich.

Die Wahl am 18. September lieferte dann aber ein neues Beispiel für die Mahnung »Totgesagte leben länger«. Der Wahlkampf zeigte noch einmal eine SPD im Angriffsmodus. Das Wort von der Re-Sozialdemokratisierung der alten Tante machte die Runde, während die Union mit Spitzenkandidatin Angela Merkel Neoliberalismus pur propagierte. Wie sich zeigte, wurde das in der Wählerschaft nicht als Verheißung empfunden. Merkel schmälerte mit ihren neoliberalen Glaubensbotschaften den Stimmenanteil um 3,3 Punkte auf 35,2 %. Für die SPD entschieden sich 34,3 % (- 4,2 %). Diesmal konnten Die Grünen mit 8,1 % (- 0,5 %) nicht ausgleichen. Die FDP erreichte 9,8 % (+ 2,4 %), DIE LINKE/PDS 8,7 % (+ 4,7 %). Den Schwarz-Gelben reichte es noch nicht zum Regierungswechsel. Die drei linken Parteien hatten zwar eine Parlamentsmehrheit, aber keine Basis für eine Zusammenarbeit. Übrig blieb – wie zukünftig weitere zweimal – nur die Große Koalition. Kontrovers wird beurteilt, inwieweit der rüpelhafte TV-Auftritt des abgewählten Kanzlers am Wahlabend dazu beitrug, der Mit-Verliererin Angela Merkel die Kanzlerschaft zu sichern. Die Männerbünde in CDU und CSU wollten die von ihm so unfair Bedrängte für die Verluste nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Sie selbst hatte ihre Lektion gelernt und überließ es fortan lieber der FDP, die Propagandatrommel für den Neoliberalismus pur zu schlagen. Was kann die SPD aus der rot-grünen Regierungsepisode lernen? Die politische Linke kann mit Neoliberalismus light nicht gewinnen, sondern nur die Hasen in die Küche der politischen Gegner treiben. Eine Konfrontation mit den Gewerkschaften zahlt sich nicht aus. Wählervertrauen muss gepflegt und immer wieder neu begründet werden. Strategische Politikwechsel erfordern eine Art gesellschaftliches Teach-in, denn Basta-Entscheidungen begründen keine neue Folgebereitschaft. Nicht zuletzt, auch wenn es die Gegner einer Großen Koalition unserer Tage nicht wahrhaben wollen: Eine SPD an der Regierung – zumal in einer Koalitionsregierung – ist noch lange nicht an der Macht. In den Zeiten, als Gerhard Schröder Juso-Bundesvorsitzender war, galt das noch als eine Binsenweisheit. Man zog daraus die Konsequenz, Regierungs- und Parlamentsarbeit durch außerparlamentarische Mobilisierung zu flankieren. Doppelstrategie hieß das damals. Könnte auch heute nützlich sein.

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