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Autokratie, Täuschung und Selbsttäuschung in Wladimir Putins Russland Von der Regionalmacht zum Imperium

Ein analytisches Verständnis des heutigen Russlands unter Wladimir Putin ist ohne eine historische Einordnung der ökonomischen, politischen und militärischen Konstellationen zwar möglich, aber steht in der Gefahr abstrakter Begriffsdefinitionen. Meines Erachtens lohnen deshalb auch historische Analogieversuche, Putin sei wahlweise wie Hitler oder wie Stalin, nicht.

Die Durchsetzung von Glasnost, Perestroika und demokratischen Regeln unter Michail Gorbatschow war ein ungeheurer Erfolg. Aber sie führte zugleich zu einer im Ergebnis brutalen, angeblich liberalen, vor allem aber marktradikalen Privatisierung auf Kosten der Gesellschaft. Die ungehinderte Privatisierung der wichtigsten Ressourcen der ehemaligen Sowjetunion führte in schneller Folge zu einem rasanten Ausverkauf und zu einer obszönen Bereicherung derer, die in der Nähe von Boris Jelzin und oft im Verein mit Ölkonzernen aus dem Westen die zentralen Ressourcen »für 'n Appel und 'n Ei« ausschlachteten und verschoben.

Die von Oligarchen ins Ausland geschleusten horrenden Summen hatten in den 90er Jahren den Staat so geschwächt, dass er an den Rand des Zusammenbruchs geraten war. Kaum jemand hatte mehr Steuern entrichtet, die Gehaltszahlungen fielen oft aus, Russland war über den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank durch riesige Kredite verpflichtet, ohne wirklich zurückzahlen zu können. Man sah, wie das Land in Stücke zerfiel.

Wladimir Putin machte sich, seit er nach dem Ende der DDR als KGB-Agent Dresden verlassen hatte, seit 1991 in Leningrad, später St. Petersburg, daran, den Ausverkauf Russlands anzugehen und sich zunehmend gegen die besonders einflussreichen Oligarchen zu wenden. Er tat dies, wobei die Einschränkung des Oligarchensystems eine ökonomische und politische Notwendigkeit war, indes mit Mitteln, die letztlich zur Abschaffung jeder vernünftigen demokratischen Gestaltung und zur Bereicherung nicht zuletzt des Geheimdienstkartells führten: Er stellte eine autoritäre Herrschaft des russischen Geheimdienstes (aus den KGB-Traditionen und nun als FSB, dem Inlandsgeheimdienst der russischen Föderation, firmierend) nach den chaotischen Jahren einer weitgehenden Selbstaufgabe der ehemaligen Sowjetunion unter Boris Jelzin her.

Die Verbindung von Geheimdienstmacht im Kreml und der in der Regel gewaltsamen Aneignung ungeheurer russischer Ressourcen durch Geheimdienst und Oligarchien auf Basis der in St. Petersburg in der Zusammenarbeit mit der organisierten Kriminalität erfahrenen Machtmethodik hatte sich mit der Dauer der Herrschaft Putins und seiner Entourage vervollkommnet. Dabei spielten ideologische, der Historie der Zarenzeit entliehene Vorstellungen eines imperialen Großmachtanspruchs zusammen mit Misstrauen und Verachtung des Westens eine erhebliche Rolle.

Der Triumphalismus der westlichen Supermacht

Teile des Westens, genauer: der westlichen Neokonservativen, erst recht seit ihrem zentralen Einfluss unter George W. Bush junior seit dem Jahr 2000, feierten demgegenüber die endgültige Durchsetzung ihrer neuen Weltordnung: Es gab nur noch ein System – die unipolare Weltmacht der Vereinigten Staaten. Aus Sicht der Neokonservativen hat sich die marktwirtschaftlich organisierte Demokratie weltweit als geschichtlich alternativlos durchgesetzt. Man sprach vom Ende der Geschichte.

Im triumphalen Bewusstsein eines endgültigen Sieges über den Erzfeind erachtete es die US-Administration unter Bush junior nicht einmal im Ansatz für nötig, eine Politik des Ausgleichs anzugehen; im Konzept der ideologisch aufgerüsteten Neokonservativen wie auch in Teilen der politikwissenschaftlichen Theoriebildung aus Kreisen des Realismus und Neorealismus war stattdessen die Herstellung und Sicherung der Dominanz das zentrale Ziel.

In der Euphorie des Sieges im Kalten Krieg hatten die Vereinigten Staaten und Deutschland dem der deutschen Einigung gegenüber offenen Gorbatschow die Nichtausdehnung der NATO nach Osteuropa versprochen. Jüngst hat dies noch einmal Andreas Zumach in der taz in allen Details belegt. Die beiden Außenminister James Baker und Hans-Dietrich Genscher hatten dies auf allen Ebenen gegenüber dem russischen Staats- und Parteichef sowie seinem Außenminister Eduard Schewardnadse beglaubigt.

Putin und Russland unter Putin haben sich verändert – in der Wahrnehmung wie in der Politik. Russland ist über weite Strecken in den letzten 30 Jahren vom Westen schlecht behandelt worden; der Westen unter Bush junior hat auf Basis von Täuschung einen großen Krieg (gegen den Irak) vom Zaun gebrochen. Und Putins Russland hat vermutlich seit Längerem verlernt, dritte und vor allem kleinere Staaten wie die angegriffene Ukraine angemessen empirisch und normativ ernst zu nehmen, gewissermaßen politisch Empathie zu entwickeln und sich so in den Reaktionen der Ukraine beziehungsweise seiner Bevölkerung getäuscht.

Jedenfalls hat eine ressentimentgeladene Haltung gegenüber dem Westen, es ihm heimzuzahlen und das Sowjetreich wieder auferstehen zu lassen, die Oberhand gewonnen; zusammen mit einer Bereitschaft zu Gewalt und Krieg, die aus einer Identifizierung mit dem Leid und dem Sieg der damaligen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg entsprungen sein mag. Diesen Komplex kritisch und selbstkritisch anzugehen wäre eine Herkulesaufgabe des Westens, die durch die gegenwärtigen kriegerischen Zuspitzungen und die allgemeine Abwehr gegenüber Putins Russland weiter erschwert wird.

Neuen Auftrieb hatten die autoritär-nationalistischen Bestrebungen mit der Wiederwahl von Putin zum Präsidenten im Jahr 2012 (nach der Interims-Präsidentschaft von Dmitri Medwedew 2008–2011) bekommen. Der Publizist Alexander Prochanow gründete in demselben Jahr den einflussreich werdenden Isborsk-Klub als ideologisches Bündnis patriotischer Staatsmänner, eine Reichsfront, die sich den Manipulationen ausländischer Einflusszentren entgegenstellt, unter anderem mit dem späteren Kulturminister Vladimir Medinski (dem hochideologisierten russischen Verhandlungs»partner« im Ukraine-Krieg).

Trauma und sentimentale Nostalgie

Zu den Kernelementen der sich entwickelnden expansiven Großmachtvorstellungen des russischen Präsidenten gehört eine Rückkehr in die orthodoxe Religionstradition, ein prekärer Begriff dessen, was Demokratie sei, eine Refokussierung auf die Rolle Russlands und ein damit verbundener völkisch anmutender Ethnozentrismus – weniger noch aber zunehmend danach eine aus der Auseinandersetzung mit dem Zaren herrührende imperiale Mission Russlands und nicht zuletzt ein immer umfassenderer Kampf gegen den Westen.

Putin sei – so Michel Eltchaninoff (in seinem Buch In Putins Kopf von 2022) in erster Linie Sowjetbürger ohne der kommunistischen Ideologie gefolgt zu sein, im Gegenteil: Putin nennt den Kommunismus ein gefährliches schönes Märchen, das in die Sackgasse geführt habe. Er weiß als international erfahrener KGB-Mann und Pragmatiker um das Scheitern der Planwirtschaft. Aber er sieht sich als russischer Patriot. Man habe in der Sowjetunion die Liebe zur Heimat gelehrt bekommen – und zur Anerkennung einer Militärkultur, die alle Ebenen des Alltags durchdringt. Die Stimmung des gesamten Daseins zwischen Militärparaden, Helden- und Märtyrerkult und kollektiver Disziplin war allgemein martialisch, schreibt die weißrussische Autorin Svetlana Alexijewitsch: »Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld, (…) ja, warte, hab Geduld (…). Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen, in Baracken.«

Aufgewachsen einige Jahre nach Kriegsende in der für immer in unantastbarer Erinnerung bleibenden Heldenstadt sei er ein Kind dieses alltäglichen Militarismus. Die UdSSR stoppte als erste Nation den deutschen Vormarsch, zwang in Stalingrad die gegnerische Armee in die Knie und drängte sie dann bis nach Berlin zurück. Die Kultur des permanenten Krieges ist auch die Kultur des Sieges. Und diese verleiht nach Meinung der russischen und sowjetischen Führungsriege den Siegern bestimmte Rechte und eine Art moralischer Überlegenheit in den internationalen Beziehungen.

In der Folge mehrten sich die Indizien für eine Revision dieser Unglücksgeschichte. Michel Eltchaninoff sieht sie bei Putin zum einen darin, der ideologischen Leere nach dem Ende des Kommunismus eine Ersatzideologie entgegenzusetzen; in der Kritik an der Übergriffigkeit des Westens, als dieser in Gestalt der NATO in Serbien und dem Kosovo militärisch intervenierte, und der damit verbundenen Demütigung und dem Bestreben, sich für dieses Ereignis zu rächen. So schon im Interview mit dem russischen Fernsehsender ORT am 15. Januar 2000, unmittelbar nach dem Beginn seiner Präsidentschaft.

Autokratisch imperiale Machtentfesselung

Was sich in den folgenden Jahren herauskristallisiert hat, ist ein zynischer Realismus der Machtdominanz. Machiavelli hätte seine Freude gehabt, darüber zu berichten. Der Vorwurf, im Ukraine-Krieg nun habe es Kriegsverbrechen gegeben, erreicht dieses Wahrnehmungssystem Putins und der russischen Führung nicht mehr. Sie haben ein anderes Referenzsystem. Es ist im Zweifel erst recht im Krieg die Ausübung sehr rationaler, sehr kühler, purer militärischer Gewaltmacht.

Nach innen wie nach außen ist damit in immer stärkerem Maße in den letzten knapp zwei Jahrzehnten die Durchsetzung autokratischen Machtwillens erfolgt. Nach innen durch den sich beschleunigenden Abbau demokratischer institutioneller Mechanismen der Achtung der individuellen Freiheitsrechte, der Presse- und Medienfreiheit, der Achtung der Menschenrechte und der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive; nach außen durch ein Streben nach regionaler Dominanz in einem postzaristischen Reichsverständnis.

Inzwischen dominiert die Ausrichtung auf eine autokratisch-imperiale, aus der Zarenzeit kommende Reichsvorstellung: das Interesse an einem Umbau der Weltordnung auch mittels Krieg und völkisch-ethnische Selbsterweiterung des heutigen Russlands. Es folgt in Ideologie und Praxis weder dem faschistischen Gewaltbewegungskonzept noch der nationalsozialistischen antisemitischen Vernichtungsparanoia. Es handelt sich um eine sehr eigene autokratische imperiale Konzeption vor dem Hintergrund einer sehr gewalttätigen Geschichte im Zarenreich, in der stalinistischen Sowjetunion und eines fast vierjährigen Martyriums mit über 20 Millionen Toten durch das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg.

Es fehlt in Russland an demokratisch-freiheitlichen Erfahrungsschätzen, die für eine andere Entwicklung zu Hilfe genommen hätten werden können; dafür standen auch die Erfahrungen Michail Gorbatschows am Ende des Kalten Kriegs unter keinem günstigen ökonomischen und politischen Stern.

Auch sind Putins Kalküle der autoritären Machtpragmatik andere als die Hitlers und seines mörderischen Erlösungsantisemitismus. Zu Putins Machtpragmatik zählen ja auch immer wieder Erfahrungen eines begrenzten Scheiterns oder besser Formen eines Kompromisszwangs der Machtgruppe um Putin mit dem Westen und den außenpolitischen Expansionsversuchen.

Der eurasische Wirtschaftsverbund funktionierte nicht so recht. Die NATO-Osterweiterung ließ sich nicht verhindern. An einer Modernisierung und technologischen Entwicklung der russischen Volkswirtschaft war man unangemessen wenig interessiert. Die Bereicherungsökonomie der Oligarchen wurde nicht effizient eingedämmt, auch deswegen, weil die eigenen Interessen an Bereicherung dagegenstanden. Autoritarismus und Repression gegenüber der eigenen Bevölkerung nahmen zu. Auch das militärische Engagement in Syrien dauert mit hohen Kosten bis heute an und selbst der brutale zweite Tschetschenien-Krieg 1999–2009 währte mit großen Erschütterungen und Schwächen des russischen Militärs über zehn Jahre.

Alles Grenzen, die von der Gruppe Putin machtpragmatisch und keineswegs eben nur ideologisch eingeordnet wurden. Im Fall der nationalsozialistischen Herrschaft und insbesondere seines antisemitischen Vernichtungs- und Auslöschungskrieges ging es dagegen um die Ausrichtung einer totalen Herrschaft auf eine mörderische Ideologie an der Macht, einen terroristischen Staatsantisemitismus. Er wurde insbesondere mit Weltkriegsbeginn in einer ideologisierten »kumulativen Dynamik« (Hans Mommsen) betrieben, mit der die Auslöschung und Ermordung der europäischen Juden in einem paranoiden Erlösungsantisemitismus durchgesetzt werden sollte.

Es wäre falsch, eine fixe Idee von Putin und Putins Russland zu haben, schon, weil dies verhindern würde, überhaupt nach Alternativen Ausschau zu halten. Wie erwähnt: Putin und Putins Russland waren nicht immer so und müssen auch nicht so bleiben. Vor allem: Trotz der Täuschung und Selbsttäuschung hat Putins Russland Nutzen und Kosten ihrer Kriege bisher zu kalkulieren verstanden.

Mit dem erfolgreichen Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und einem möglichen Patt ist nicht ausgeschlossen, dass der bisher geübte zynische Realismus zum alsbaldigen Ende des Krieges durch einen Waffenstillstand beiträgt. Klaus von Dohnanyi hat in der ARD-Sendung von Sandra Maischberger am 11. Mai 2022 auf die Dringlichkeit europäischer Initiativen zur Abwendung eines unkontrolliert ausgeweiteten Krieges und zu seiner Beendigung verwiesen.

Es bleibt unklar, wie umfassend die Zerstörung sein könnte, wenn es nicht zu einem Patt und zu einem möglichst baldigen Waffenstillstand kommt, Putins Russland in dessen Sicht den Krieg zu verlieren droht und er gleichzeitig weiter eskaliert wird.

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