Nur zur Erinnerung an den historischen Zusammenhang: MAD, zu deutsch: »verrückt«, so lautete der Name der amerikanischen Sicherheitsdoktrin während des Kalten Krieges, das Akronym von mutual assured destruction (»gegenseitig gesicherte Zerstörung«). Sie beinhaltete die unter Präsident John F. Kennedy verbreitete Überzeugung, dass Atommächte vom Ersteinsatz von Atomwaffen dadurch abgeschreckt würden, dass den ebenfalls nuklear bewaffneten Gegnern auch nach einem Erstschlag die Fähigkeit verbleibt, alles vernichtend zurückzuschlagen. 1960 gab es weltweit 20.285 Atomwaffen, 1970 schon 38.164 und 1975 gar 47.454. Heute ist die Zahl geringer, was jedoch nach Auffassung der Union of Concerned Scientists nichts an »der fundamentalen Bedrohung der Menschheit durch diese Waffen« ändert. Verrückt, könnte man das nennen.
Vom 19. bis 21. Mai dieses Jahres trafen sich die Mitglieder der G7 zu ihrem jährlichen Treffen im japanischen Hiroshima. US-Präsident Joe Biden hatte wie auf allen Reisen die sogenannte nukleare Aktentasche bei sich, deren Inhalt notwendig ist, um den Einsatz von Atomwaffen zu genehmigen. Manche Bürger und Demonstranten in Hiroshima fanden das befremdlich, um es neutral zu formulieren.
Das ist die Welt, in der wir leben. Die Gefahr der gegenseitigen kompletten Zerstörung, ja, der Auslöschung der menschlichen Gattung ist nach wie vor nicht gebannt, denn einmal geöffnet, lässt sich die Büchse der Pandora bekanntlich nicht wieder verschließen. Wäre es möglich gewesen, sie geschlossen zu lassen? Im Hinblick auf Hiroshima und Nagasaki ist das zwar eine müßige Frage, aber 78 Jahre nach dem »nuklearen Holocaust«, wie Simon Peres die Zerstörung der beiden Städte 1994 in seiner Eigenschaft als Außenminister Israels in New York bei einer Friedenszeremonie im UN-Hauptquartier nannte, blicken wir in andere Abgründe, vielleicht ohne zu wissen, wie tief sie sind. In seinem wunderbaren Buch Analogia schrieb der Wissenschafts- und Technikhistoriker George Dyson kürzlich: »Es gibt kein Gesetz, das es verbietet, etwas zu bauen, ohne es zu verstehen.«
»Heute blicken wir in andere Abgründe, vielleicht ohne zu wissen, wie tief sie sind.«
Das ist zweifellos richtig. Galt es auch für die Entwicklung der Atombombe? Trotz der uferlosen Literatur darüber ist es schwierig, sich in die 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts zu versetzen, und zudem wurden um eben diese Entwicklung manche Mythen gesponnen. Was mit Mythen gemeint ist? Zum Beispiel ein neuer Dokumentarfilm über Robert Oppenheimer, der rechtzeitig zu dessen 119. Geburtstag am 22. April vom Los Alamos National Laboratory produziert wurde. Der Trailer beginnt mit Aufnahmen vom 7. Dezember 1941, als japanische Kampfflugzeuge den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor in Hawaii angriffen – und schickt das Publikum damit auf eine falsche Fährte. Die Atombombe war für das Dritte Reich bestimmt, nicht für Japan, aber diese Fährte führt dahin, wo sie hinführen soll, nämlich zur Rechtfertigung des Einsatzes der Bomben. Für eine Macht, die im Krieg stets die moralische Überlegenheit beansprucht, ist eine solche äußerst wichtig.
»Die Atombombe war für das Dritte Reich bestimmt, nicht für Japan.«
Zwei Richter der Tokioter Kriegsverbrecherprozesse (April 1946 – November 1948), der Niederländer Bert Röling und der Inder Radhabinod Pal, haben gezeigt, dass es nicht die Atombomben waren, die zu Japans Kapitulation führten, was amerikanische Militärhistoriker mehrfach bestätigt haben. Wie aber lassen sich die Abwürfe rechtfertigen, wenn das stimmt? Deshalb wird in Schulbüchern und anderen Stellen gern an dieser Version festgehalten: Atombomben, schrecklich, gewiss, aber unvermeidlich. Und dann war der Krieg endlich vorbei, Gott sei Dank!
Dem Aufbau des Universums auf den Grund gehen
Aber zurück nach Los Alamos, ein kleines Fleckchen in der Wüste von New Mexico, von dem damals noch nie jemand gehört hatte, das wegen seiner Abgeschiedenheit und dadurch leichten Kontrollierbarkeit 1942 vom US-Militär erworben und dazu bestimmt wurde, Wissenschaftler, die bereits an dem höchst geheimen sogenannten »Manhattan Project« arbeiteten, zusammenzuführen. Atomphysik war in den 30er Jahren ein aufregendes neues Fach, in dem sich die größten wissenschaftlichen Geister tummelten, insbesondere in Europa und den USA. Hier würde man dem Aufbau des Universums auf den Grund gehen können. Die Frage, wie man es oder zumindest die menschliche Lebenswelt vernichten könnte, kam erst dazu, als Nazideutschland begonnen hatte, die Welt mit Krieg zu überziehen.
In Los Alamos kamen Wissenschaftler aus vielen Ländern zusammen, um die Geheimnisse der Kernspaltung zu entschlüsseln und nutzbar zu machen, bevor das in Deutschland gelang. 1938 hatten in einem Labor in Berlin Lise Meitner – die den Begriff Kernspaltung prägte – Otto Hahn und Fritz Straßmann zur Überraschung aller experimentell herausgefunden, dass das Unteilbare (Atom) teilbar war. Neutronen konnten das Uranatom zertrümmern, wodurch, wenn in großem Umfang betrieben, ungeahnte Energie freigesetzt würde.
»Albert Einstein stand den amerikanischen Sicherheitsdiensten politisch zu weit links.«
Die technischen Probleme, diese Energie zu nutzen, waren noch ungelöst, aber Deutschland war an der Spitze der Entwicklung, was Wissenschaftler in den USA mit größter Sorge erfüllte. Unter ihnen Albert Einstein, der, bedrängt von seinen Kollegen Leó Szilárd, Edward Teller und Eugene Wiegner, mit seinem berühmten Namen zwei Briefe, im August 1939 und März 1940, an Präsident Franklin D. Roosevelt unterschrieb, die dazu rieten, die Atomforschung intensiv zu fördern, da durch Kernspaltung möglicherweise Bomben von ungeahnter Explosionskraft entwickelt werden könnten und man in Deutschland auch daran arbeitete. Die (im Rückblick unzutreffende) Befürchtung, Deutschland könne das Wettrennen gewinnen, war die treibende Kraft des 1941 – vor Japans Angriff auf Pearl Harbor – initiierten Manhattan Projects (an dem Einstein ironischerweise nicht mitarbeiten durfte, weil er den amerikanischen Sicherheitsdiensten politisch zu weit links stand).
Club der Nobelpreisträger
Robert Oppenheimer, Physiker an der Universität von Kalifornien, wurde 1943 erster wissenschaftlicher Direktor des Forschungslabors in Los Alamos. Die isolierte Lage und erforderliche Geheimhaltung erschwerten die Rekrutierung von Mitarbeitern. Dennoch kamen dort renommierte Physiker aus aller Welt zusammen, unter ihnen Enrico Fermi (Nobelpreis 1938), Bruno Rossi, Emilio Segré, Niels Bohr (Nobelpreis 1975), Isidor I. Rabi (Nobelpreis 1944), Hans Bethe (Nobelpreis 1967), Rolf Landshoff, John von Neumann, Edward Teller, Otto Frisch, Joseph Kennedy und Richard Feynman.
»Die Bombe hatte eigentlich den Zweck, die Sowjetunion zu unterwerfen.«
Im Februar 1944 kam auch der polnische Physiker Joseph Rotblat als Mitglied des britischen Tube-Alloys-Projekts zur Entwicklung von Atomwaffen nach Los Alamos, wo er eine ungewöhnliche Rolle spielte. Im Gegensatz zu anderen Ausländern verzichtete er darauf, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um dort zu arbeiten, und bereits Ende des Jahres beschloss er, sich von dem Projekt wieder zu verabschieden und nach Liverpool zurückzukehren. Wesentliche Gründe dafür waren, dass sich sein Interesse auf wissenschaftlicher Seite besonders auf die möglichen indirekten Folgen von Atomexplosionen, also die radioaktive Verstrahlung richtete und er politische Bedenken bezüglich des Einsatzes von Atomwaffen hatte, die er für sich nur dadurch ausräumen konnte, dass nur eine defensive Kapazität notwendig werden würde. Wie er viel später in dem Bulletin of the Atomic Scientists erklärte, schockierte ihn in Los Alamos besonders eine Bemerkung des militärischen Direktors des Manhattan-Projekts, Generalmajor Leslie Groves, derzufolge die zu bauende Bombe eigentlich den Zweck hatte, die Sowjetunion zu unterwerfen. Außerdem wusste man in Los Alamos inzwischen, dass die Kernspaltungsforschung in Deutschland nicht mehr als kriegsentscheidend betrachtet und dementsprechend nicht mehr vorrangig gefördert wurde.
Führende Atomphysiker hätten die Büchse der Pandora gern im letzten Moment verschlossen gehalten.
Das Manhattan-Projekt lief jedoch unvermindert weiter, auch nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, die den Krieg für Japan aussichtslos machte. Die ursprünglich geplante militärische Zielsetzung war damit obsolet, und die Gründe gegen den Einsatz der Bombe, der unvermeidlich massenhaft zivile Opfer fordern würde, schienen zwingend. Das US-Militär plante dennoch, wie immer deutlicher wurde, die Bombe gegen Japan einzusetzen. Dagegen wandten sich einige führende Atomphysiker, allen voran Leó Szilárd, der nur einige Jahre zuvor Albert Einstein überredet hatte, bei Präsident Roosevelt für den Bau der Bombe zu werben. Sie hätten die Büchse der Pandora, zu deren Öffnung sie maßgeblich beigetragen hatten, gern im letzten Moment verschlossen gehalten. Vergeblich.
Szilárd plädierte dafür, dem japanischen Militär die Verheerungskraft der Atombombe an einem unbewohnten Ziel zu demonstrieren, aber auf Anraten des Expertenausschusses (Interim Committee) ließ Präsident Harry S. Truman, der bis zu seinem unerwarteten Amtsantritt im April 1945 nichts von dem Manhattan Project wusste, stattdessen die Bomben ohne Warnung auf japanische Städte abwerfen. Manche Wissenschaftler sahen darin einen Missbrauch ihrer Forschungsarbeit. Sie wollten nie, dass diese zur Vernichtung hunderttausender unschuldiger Zivilisten beitragen würde, konnten es aber letztlich nicht mehr verhindern. Das zog noch 1945 verschiedene Initiativen nach sich, um vor der katastrophalen Bedrohung der Menschheit durch Atomwaffen zu warnen, wie die Zeitschrift und die gleichnamige gemeinnützige Organisation Bulletin of the Atomic Scientists.
Vom Atomwissenschaftler zum Friedensaktivist
Angeregt durch ein Manifest von Bertrand Russell und Albert Einstein 1955 kamen später die Pugwash Conferences hinzu, die sich seit ihrer Gründung für eine Welt ohne Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen einsetzten. Leó Szilárd beteiligte sich daran ebenso wie Joseph Rotblat, der der Organisation lange als Generalsekretär diente. Als einziger Wissenschaftler, der das Manhattan Project vor der Fertigstellung der Bombe aus moralischen Gründen verlassen hatte, engagierte er sich nach dem Krieg aktiv für den Frieden und warnte vor den unermesslichen Gefahren von Kernwaffen. Ein halbes Jahrhundert nach Hiroshima und Nagasaki wurde er dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wissenschaftliche Forschung, das war seine Meinung schon 1944, soll dem Frieden dienen.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!