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Zur aktuellen Debatte über die Redefreiheit in den USA Von Schonräumen und zarten Seelen

»We the People«, so die berühmten ersten Worte der amerikanischen Verfassung von 1787, »wir, das Volk«, von der Absicht geleitet, das »Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen« zu bewahren, begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten. Im Zentrum des American Creed, des Bekenntnisses zu den Inhalten der Verfassung, steht das stolze Bewusstsein der Volkssouveränität – und ebenbürtig daneben das der unveräußerlichen Bürgerrechte, allen voran der Redefreiheit. Freedom of speech wird nach dem ersten Zusatzartikel ohne Wenn und Aber garantiert. Was Bürgerrechtsorganisationen über Jahrzehnte vor dem Supreme Court erkämpften, konstituiert heute das weltweit liberalste Konzept von Meinungsfreiheit. Es schützt nicht nur Aufmärsche von Neonazis und hate speech, sondern auch Anarchisten und sogar flag burning, das Verbrennen der Flagge durch Antipatrioten. Denn Unruhe und Dissens gelten als das Lebenselement der Demokratie.

Doch der Glanz von free speech verblasst, nicht erst seit der Ära Trump. Seit einigen Jahren wird an amerikanischen Universitäten um Auftritte »kontroverser« Redner gestritten. Zartbesaitete Studierende fordern safe spaces und trigger warnings, also sichere Räume und Warnungen vor womöglich schockierenden Inhalten. Altvordere argwöhnen, die von ihnen so genannten snowflakes, die zarten Seelchen, schmollten in ihren Schonräumen, weil sie einer robusten Debatte nicht gewachsen seien. Charakteristisch für die neue Phase der Auseinandersetzung ist, dass nicht etwa der Staat als Zensor gegen die Bürger auftritt, sondern dass umgekehrt Bürger selbst eine Einschränkung der Redefreiheit verlangen. An den US-Universitäten, einst Bastionen der freien Rede, scheint heute wenig Toleranz für provozierende Ideen zu herrschen.

Da ist zunächst besagte Forderung nach safe spaces. Gemeint sind damit sichere und behütete Räume, die Minderheiten schützen sollen: vor Aggression, Diskriminierung, Vorurteilen und verletzender Sprache. »Im weiteren Sinne«, erklärt die Germanistin Nikola Roßbach in ihrem Buch Achtung, Zensur! über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen, versteht man darunter »einen diskriminierungs- und gewaltfreien Ort (…), wo man nicht mit unangenehmen Dingen konfrontiert wird«. Viele Beispiele dafür wirken befremdlich, ja bizarr. So berichtete etwa eine Juraprofessorin in den USA von Studentinnen, die es ablehnten, zum Thema »sexuelle Belästigung« geprüft zu werden. Die Kehrseite dieser Empfindsamkeit ist, dass die Angst um sich greift, als Sexist oder Rassist, als schwulen- oder islamfeindlich abgestempelt zu werden.

Die Verabsolutierung der Opferperspektive

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, höflich und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Aber die Universität als gleichsam therapeutischen Schonraum zu fantasieren, in dem alle vor schmerzhaften Erfahrungen und sogar gefährlichen Gedanken sicher sind, klingt doch ein wenig naiv. Die Welt ist kein safe space, auch nicht die Universität. Ein Lernort, der klassischerweise dem freien Austausch von Ideen dient, der geprägt ist von Menschen aus verschiedenen Kulturen, die gegensätzliche Meinungen haben – ein solcher Ort kann kritisches Denken nur vermitteln, wenn dort Konflikte nicht vorbeugend gedämpft, sondern auf zivilisierte Weise ausgetragen werden. Wer schon im Studium dem Ungewohnten und Fremden ausweicht, wie soll die oder der später die Konfrontation mit einer problembeladenen, widersprüchlichen Wirklichkeit bestehen?

Ähnlichen Bedenken begegnet ein weiteres Schlagwort: Es lautet trigger warning und meint die Warnung vor Inhalten, die unangenehme Gefühle auslösen könnten. Der Begriff »trigger« kommt aus der Traumaforschung und bezeichnet Reize, die eine erlittene Gewalterfahrung aktualisieren. Im Milieu amerikanischer Universitäten erfuhr der Begriff eine Inflationierung, die selbst alltägliche Unannehmlichkeiten umfassen kann. Am Ende erscheint die Opferperspektive absolut. So wurde allen Ernstes gefordert, Lehrpläne mit Triggerwarnungen zu versehen, nur weil sie Werke der Weltliteratur auflisten, in denen Sklaverei und Gewalt zur Sprache kommen.

Nun mag man Ansinnen wie diese als weltfremd und hypersensibel belächeln und zur Tagesordnung übergehen. Doch wirklich gefährlich werden die Wünsche nach sanfter Zensur, sobald eine Institution ihnen mit offiziellen Sprachregelungen entgegenkommt. Dagegen verwahrt sich eine Erklärung der Universität von Chicago, in der »die feierliche Verantwortung« beschworen wird, eine »lebendige und furchtlose Freiheit der Debatte« zu stärken und gegen jene, die sie angreifen, auch zu verteidigen.

Neuere Umfragen in den USA ergaben, dass zwar eine große Mehrheit der Studentinnen und Studenten die Redefreiheit im Prinzip begrüßt, dass aber ungefähr die Hälfte zugleich Einschränkungen im Namen kränkbarer Minderheiten befürwortet. Da nimmt es nicht Wunder, dass mit Blick auf Diskussionen und Vorträge gefordert wird, politisch umstrittene Redner wieder auszuladen. Treten sie trotzdem auf, werden sie mitunter gestört: durch Niederbrüllen, Blockaden oder gar tätliche Angriffe.

Das Recht auf nichtkränkende Meinungen

Woher kommt eigentlich die Abneigung, sich mit provozierenden Ideen, mit »unerträglichen« Argumenten auseinanderzusetzen? Woraus speist sich die Gereiztheit, mit der unbequeme Leute ausgegrenzt werden? Der US-Psychologe Jonathan Haidt erklärte in einem Interview: Bei der »Snowflake«-Generation handele es sich meist um überbehütete Mittelstandskinder. Deren Eltern trügen Sorge, sie vor den Beschwernissen der Realität abzuschirmen, damit ihnen Frustrationen tunlichst erspart bleiben. Entsprechend gering sei ihre Konflikterfahrung.

Eine instruktive Lagebeschreibung gab Jeffrey Herbst, der Direktor des Newseum – einer Bildungseinrichtung in Washington D.C., die der Rede- und Pressefreiheit gewidmet ist. Er analysiert die »wahre Krise der Redefreiheit auf dem Campus« und argumentiert: Die spektakulären Zwischenfälle um unerwünschte Redner, die in der Presse für Schlagzeilen sorgten, seien nur die Oberfläche. Man dürfe aber nicht »die Symptome mit der Krankheit verwechseln«. Das eigentliche Problem sei der tiefgreifende Wandel, der sich im Bewusstsein der jüngeren Generation vollzogen habe. Jeffrey Herbst charakterisiert die neue Einstellung zur Redefreiheit als das »Recht auf nichtkränkende Meinungen«. In der Tat scheint diese Verkehrung der Perspektive, der Wechsel von der Freiheit zur Beschränkung derselben charakteristisch. So kommt es, dass eine Generation sich selbst und andere zunehmend zensiert, wobei dies meist stillschweigend geschieht: unter dem Konformitätsdruck informeller Normen.

Gestützt auf neuere Untersuchungen macht Herbst darauf aufmerksam, dass angehende Studenten heute bereits aus der Schule problematische Erfahrungen mitbringen. Sie bilden die erste Generation, die mit »sozialen Medien« aufgewachsen ist. Digitale Plattformen machen es ihnen leicht, alles Störende zu blockieren; und Algorithmen weben sie ein in einen Kokon relativ freundlicher Nachrichten und erwünschter Inhalte. Da scheint es naheliegend, diese virtuellen Filter auf die physisch-reale Welt zu übertragen.

Das Glück der Redefreiheit

Jeffrey Herbst, der eine geistige Krise der Redefreiheit diagnostiziert, schlägt vor, auf allen Ebenen der Erziehung ein solides Verständnis von free speech zu fördern – vor allem aber jungen Leuten zu vermitteln, dass der offene Meinungsaustausch auch für jene Minderheiten, für die sie Schonräume fordern, den besten Schutz bietet. Schließlich gedeiht Vielfalt nur dort, wo alle frei reden können. Gelingt diese Offensive nicht, fürchtet Herbst, könnte bald schon ein restriktives Verständnis von Redefreiheit die amerikanische Gesellschaft dominieren.

Mit fatalen Folgen, möchte man hinzusetzen. In einer Demokratie müssen die Leute ertragen lernen, dass ihre Empörung angestachelt wird. Denn die individuelle Freiheit, den Mund aufzumachen, zwingt die Gesellschaft, mit einer rauen und unangenehmen Wirklichkeit umzugehen. Es braucht freie Menschen, die gelassen respektieren, dass auch andere sich die Freiheit nehmen – und zwar auf eine womöglich irritierende Weise. Kurz und gut: Die Alternative zu »safe« spaces heißt »brave« spaces, also mutige Räume.

Kein Geringerer als Barack Obama ermutigte 2016 an der Howard University zu dieser Konfliktbereitschaft: »Versucht nicht, Leute niederzuschreien (…), ganz egal, wie sehr ihr das, was sie sagen, lächerlich oder anstößig findet! Lasst sie reden«, ermahnte Obama sein studentisches Publikum und versicherte: »Das heißt nicht, dass ihr sie nicht herausfordern solltet. Aber hört ihnen zu, mischt euch ein, widerlegt ihre Argumente oder lernt auch mal was von ihnen«, forderte Obama: »Schlagt sie auf dem Schlachtfeld der Ideen.«

Der US Supreme Court fand für diese Haltung eine klassische Formulierung: Die Debatte über öffentliche Angelegenheiten solle »unbehindert, robust und weit offen« sein. Das ist nun über 50 Jahre her – und es sieht so aus, als müsse jede Generation aufs Neue das Glück der Redefreiheit für sich entdecken: das Glück einer Gesellschaft, die den Anderen nicht zaghaft scheut, sondern beherzt willkommen heißt – als widerstreitenden Gesprächspartner, auf den zu verzichten ein schwerer Verlust wäre. Denn eine Meinung kann man nicht alleine haben.

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