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Vor 100 Jahren: die Russische Revolution

Wenn man die russischen Revolutionsereignisse des weltumstürzenden Jahres 1917 nicht in zwei säuberlich zu unterscheidende Einzelrevolutionen (»Februar« und »Oktober«) unterteilt, sondern sie als einen zusammenhängenden Prozess analysiert, dann löst sich das Paradoxon auf, dass der Oktoberumsturz – der im Inneren des Landes wie international weitaus stärkere Wirkungen entfaltende, gleichzeitig als solcher bemerkenswert unblutig und undramatisch verlaufende –, für sich allein genommen wie ein generalstabsmäßig vorbereiteter und durchgeführter Staatsstreich aussieht. Man darf diesen Vorgang aber gerade nicht isoliert betrachten, denn er war ein Glied in einer längeren revolutionären Ereigniskette, die nicht zwingend, aber mit einer gewissen Folgerichtigkeit dorthin führte.

Die Besonderheiten des zaristischen Russlands, das trotz einer recht bescheidenen Verfassung – Ergebnis der ersten Revolution von 1905/6 – noch autokratisch regiert wurde, lassen sich mit folgenden Stichworten umreißen: ein multiethnisches Reich mit einer ganz überwiegend noch bäuerlichen Bevölkerung (ca. 85 %). Diese nahm seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 in Form der Dorfgemeinschaften (»Mir«) auf der untersten Ebene staatliche Funktionen wahr. Über diese waren die für das Steueraufkommen kollektiv haftenden Bauern in gewisser Weise weiter an den Boden gebunden; zugleich war der agrarwirtschaftliche Fortschritt qua Marktproduktion in großem Stil und Kapitalakkumulation blockiert. Ökonomisch, sozial und politisch wurde das flache Land vom Großgrundbesitz dominiert. Ob die Agrarreformen ab 1906 Aussicht auf Erfolg boten, ist ebenso umstritten wie die Frage nach dem gesamtwirtschaftlichen Effekt und dem qualitativen Stand der seit den 1890er Jahren vom Staat mithilfe ausländischer Kapitalanleihen forcierten Industrialisierung. Beides ist hier nicht entscheidend.

Strukturkrise des autokratischen Regimes

Die von der Industrialisierung erzeugte und überwiegend aus der Bauernschaft bzw. der Landarmut hervorgegangene Arbeiterklasse war zwar einerseits großenteils noch eng mit dem Dorf verbunden, andererseits aber in einer modernen, hochkonzentrierten Großindustrie, hauptsächlich um Sankt Petersburg und Moskau, zusammengefasst, sodass ihre gesellschaftspolitische Potenz die relativ kleine Zahl von gut vier Millionen Beschäftigten in Fabriken, Bergwerken und bei der Eisenbahn bei Weitem überstieg. Obwohl in den ersten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der Verdichtung der Staatsverwaltung, von Kommunikation und Handel, mit besserer Bildung und größerer Mobilität, Modernisierungsschritte erfolgten, gelang es nicht, den tiefen kulturellen Graben zwischen den europäisierten Eliten und dem einfachen Volk deutlich zu verkleinern. Das galt für die bürokratisch-aristokratische Führungsschicht ebenso wie für »die Gesellschaft« – mit größeren bürgerlichen Segmenten – insgesamt.

Die Strukturkrise des autokratischen Regimes wurde im Ersten Weltkrieg, spätestens seit 1916, zu einer akuten, vorrevolutionären Krise, als die Rückständigkeit Russlands offenkundig wurde, der Staat sich außerstande zeigte, die Versorgungsprobleme in den Griff zu bekommen, der Rubel an Wert verlor und schwere militärische Niederlagen die Legitimität des Zarentums beschädigten.

Schon die Februarrevolution wurde hauptsächlich von der städtischen Arbeiterschaft (und unterstützend von den in ihrer Mehrheit bäuerlichen Soldaten) getragen – auf dem Land blieb es im Frühjahr noch relativ ruhig –, und die Arbeiter traten von Anfang an neben den Sowjets mit ihren eigenen Kampf- und Machtorganen und mit eigenen, teilweise schon antikapitalistischen Zielen hervor. Die Verschiebung des politischen Schwergewichts innerhalb der Arbeiterbewegung von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki erfolgte aus der Enttäuschung darüber, dass sich die an den (übrigens keineswegs unblutigen) Februar geknüpften Erwartungen nicht erfüllten. Gewiss, Russland war nun ein demokratisches (wenn auch noch nicht vom Volk formal legitimiertes) Staatswesen unter einer Regierung des liberalen und liberal-konservativen Bürgertums (später unter Beteiligung der gemäßigten Sozialisten). Die wichtigste Aufgabe der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung Russlands, die Agrarreform, wurde jedoch gar nicht in Angriff genommen.

Bolschewiki erobern Regierungsmacht

Das Scheitern der letzten russischen Offensive Anfang Juli 1917 leitete zusammen mit dem Zerfall der Armee durch Massendesertionen sowie der verstärkten eigenmächtigen Umverteilung von Gutsbesitzerland durch die Bauern auf dem Lande, jene Ereigniskette ein, an deren Ende die Bolschewiki die Mehrheit in den Sowjets und schließlich die Regierungsmacht eroberten, nachdem weder der bürgerliche »Progressive Block« noch die gemäßigten Sozialisten fähig gewesen waren, den zerfallenden russischen Staat aus dem Krieg herauszuführen. Gewiss spielten auch andere Faktoren eine wichtige Rolle: neben dem Machtanspruch einer selbstbewusst gewordenen Arbeiterschaft vor allem die verzögerte Agrarreform und die Ablösungsbestrebungen der nichtrussischen Nationalitäten. Entscheidend war aber wohl das Problem des ausbleibenden Friedens. Denn solange der Krieg mit den Mittelmächten andauerte, brachten die nichtbolschewistischen Sozialisten nicht die Energie auf, den Staatsumsturz vom Februar bzw. März 1917 zu einer tiefgreifenden demokratischen Umwälzung weiterzutreiben. Die Bolschewiki jagten die frisch gewählte Konstituante bei ihrem Zusammentritt gleich wieder auseinander; die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten es monatelang gar nicht erst gewagt, während des Krieges Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchzuführen, obwohl sie auch in den Sowjets bis zum Spätsommer eindeutig das Übergewicht besaßen.

Die Position Wladimir Iljitsch Lenins (und im Wesentlichen auch Leo Trotzkis), die auf den fortgesetzten Kampf gegen Menschewiki und gemäßigte Sozialrevolutionäre gerichtet war und den bewaffneten Sturz der provisorischen Regierung beinhaltete, konnte übrigens nur gegen großen Widerstand innerhalb der bolschewistischen Partei durchgesetzt werden, nachdem Lenin im April aus dem Schweizer Exil in Sankt Petersburg eingetroffen war. Er stieß dort auf eine (ähnlich wie 1905) breite Strömung innerhalb der Arbeiterschaft und in den seit 1912/13 definitiv getrennten Menschewiki und Bolschewiki, die auf eine Wiedervereinigung der Partei gerichtet war; Lenin stellte sich dem sofort mit aller Kraft entgegen.

Bekanntlich blieb von der »Sowjetdemokratie« schon während des Bürgerkriegs zugunsten der Diktatur der Avantgarde-Partei, in der allerdings noch offen und kontrovers diskutiert wurde, wenig übrig. Das endgültige Verbot der konkurrierenden sozialistischen Parteien und namentlich das interne Fraktionsverbot der Bolschewiki – gerade angesichts des Kronstädter Aufstands und des Übergangs zur »Neuen Ökonomischen Politik« mit ihrer teilweisen Wiederherstellung der Marktwirtschaft – erledigte 1921 den Rest. Auch auf Seiten der Menschewiki und der Mehrheit der Sozialrevolutionäre war 1917/18 die Bereitschaft gering, zu einer gemeinsamen Regierung der »revolutionären Demokratie« zu kommen. Eine solche hätte Anfang 1918 sowohl in den Sowjets als auch in der Konstituante über eine überwältigende Mehrheit verfügt.

Die Gewalt eskaliert

Als die »Weiße Armee« den bewaffneten Widerstand begann, machte sich die Eigendynamik des Bürgerkriegs immer deutlicher bemerkbar, der von allen Seiten mit großer Brutalität und Grausamkeit geführt wurde und neun bis zehn Millionen Todesopfer forderte. Die schrankenlose Eskalation erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass neben den Hauptparteien der Roten und der Weißen (samt ausländischen Interventionstruppen) etliche andere Gruppierungen auf eigene Faust und mit eigenen Zielen in Aktion traten: von Partisanenverbänden nationaler Minderheiten über Kosaken bis zu regelrechten Räuberbanden. Alle am Krieg Beteiligten mussten sich aus dem Land und seinen Ressourcen versorgen; hauptsächlich ging es um bäuerliche Rekruten und um Getreide zur Versorgung der Kämpfenden, was ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt nicht möglich war. Das bedeutete, dass die brachiale Auseinandersetzung ebenso im Hinterland wie an den Fronten stattfand.

Die Bolschewiki siegten hauptsächlich aus vier Gründen: Sie hatten erstens die bessere und vor allem eine einheitliche militärische und politische Führung. Zweitens hatten sie den Bauern, der Masse der Bevölkerung, das von diesen bewirtschaftete und eigenmächtig aufgeteilte Gutsbesitzerland übereignet – ein Sieg der Weißen barg die akute Gefahr einer Rückkehr der Großgrundbesitzer, an der die Bauern kein Interesse haben konnten. Drittens spaltete die Gewährung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die dem Zarenreich einverleibten nichtrussischen Nationalitäten einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit die potenziell gegenrevolutionären Kräfte. Auch dort, wo die Unabhängigkeitsbestrebungen unter bürgerlicher bzw. antibolschewistischer Führung standen, mussten sie unter Umständen die großrussisch gesonnenen Weißen mehr fürchten als die Roten. Und viertens boten die neuen Machthaber am ehesten Aussicht auf Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols – Ordnung statt Chaos –, und sie eröffneten überdies Arbeitern und Bauern nie gekannte Aufstiegsmöglichkeiten.

Die innere Entwicklung Russlands führte in kurzer Zeit nicht nur von den konkreten Artikulationen der einheimischen Arbeiter weg, sondern auch von den Traditionen und Zielen der klassischen Arbeiterbewegung Europas einschließlich ihres radikalen Elements. Gleichzeitig verbanden die gemeinsamen Wurzeln und die Existenz kommunistischer Parteien, die auch als Sektionen einer Dritten Internationale und, trotz des innersozialistischen Schismas, Teil der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung blieben, den »despotischen Sozialismus« (Otto Bauer) weiter mit der Sozialdemokratie und dem eigenständigen Linkssozialismus. Während der menschenvertilgenden persönlichen Herrschaft Josef Stalins erfuhr das Sowjetsystem eine weitere, in mancher Hinsicht durchaus qualitative Veränderung hin zu einem ganz neuen, vorher theoretisch nicht antizipierten staatskollektivistischen Gesellschaftstyps.

Unter den Bedingungen des Krieges und der Kriegsgesellschaft hatten sich in den am Ersten Weltkrieg beteiligten wie in den neutral gebliebenen Ländern größere Teile der Arbeiterschaft radikalisiert. Der soziale Protest, hauptsächlich im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung, und der Antikriegsprotest gingen schon früh Hand in Hand. Damit war aber noch nicht darüber entschieden, in welchen parteipolitischen Formen sich diese Radikalisierung kristallisieren würde. Außer in Russland fiel die Entscheidung darüber nicht während des Krieges, sondern in der Nachkriegszeit. Sie wurde im jeweiligen Fall bestimmt von konkreten gesellschaftlichen Konstellationen, spezifischen Traditionen, dem Eingreifen der Moskauer Internationale und dem Geschick der Vertreter der anderen Strömungen in der Arbeiterbewegung. Das ganz unterschiedliche Gewicht kommunistischer Parteien in Deutschland und Frankreich einerseits, in Großbritannien und Österreich andererseits, zeigt das auf den ersten Blick.

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