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picture alliance / dpa Themendienst | Franziska Gabbert

Weltordnung, Weltchaos – und Europas Fähigkeiten Vor dem Endspiel

In den liberalen Demokratien sorgt es für zunehmende Unruhe, im Globalen Süden für triumphierende Hoffnung: Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene internationale Ordnung mit ihrer völkerrechtlichen Unterfütterung verfällt; stattdessen verschafft sich das althergebrachte Gesetz des Dschungels neue Geltung. Macht macht Recht, und der Stärkere wird sich nehmen, was ihm passt. Putin verkündet, eine »multipolare Welt« erschaffen zu wollen, und Trump zeigt bereits, was er sich darunter vorstellt: eine Welt der Vormacht – oder gar der Straßengangs. Ist das eine weitere, nun globale Erschütterungen bringende Zeitenwende, eine neue – uns altvertraute – Ära chaotischer und wenn es sein muss mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte? Noch lässt sich in die Ent- und Verwicklungen eingreifen, denn noch stehen gewichtige Hindernisse im Weg der neuen Zeit eines fluiden Transaktionalismus und robuster Durchsetzungsbereitschaft.

So mögen internationales Recht und die internationalen Institutionen schwächeln, doch bleibt vorerst bestehen, was sich ihnen verdankt: die Vorteile und Auswirkungen der Globalisierung. Die internationalen Handelsketten und die Abhängigkeiten kleiner und großer Volkswirtschaften von Vor- und Nachteilen des internationalen Handels- und Investitionsverkehrs wirken sich noch immer verführerisch aus. So nehmen die Nutznießer auch strenge Abhängigkeiten weiter in Kauf. Will das mächtige China auf die europäischen Eigentumsvorbehalt-Käufer mit ihrer global überdimensionalen Kaufkraft verzichten, nur um etwa seine Präsenz in Afrika etwas rascher auszubauen? Beides versucht es, aber die Prioritäten liegen auf der Hand. Und warum sonst als wegen ihrer Kapitalkraft will Trump die europäische Industrie in die USA zwingen? Daher: Der Zerfall der bestehenden Ordnung verzögert sich - vorläufig, aber spürbar. Noch lässt das absehbar fatale, aber nur vielleicht unausweichliche Endspiel auf sich warten.

Widerstand provozierender Ordnungszerfall?

John Kenneth Galbraith hat das Phänomen der Bildung von »Gegenmacht« beschrieben: Je stärker ein Akteur, desto mehr provoziert und produziert er Widerstand. Nicht nur die Volkswirtschaft, auch die internationale Politik liefert Beispiele: Auch die Großmächte mit ihrem neuen Durchsetzungswillen stoßen sichtbar auf Widerstand. Donald Trump mit seiner Gaza-Fantasie provoziert eine neue Strategieinitiative der Arabischen Liga. Die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres treten Chinas Territorialansprüchen immer entschiedener entgegen. Die BRICS-Staaten beschließen, eine neue internationale Währung zu schaffen. Kaum geht es jedoch an die Umsetzung – die Internationalisierung der chinesischen Währung Renminbi – dann steht die Furcht im Weg, wie denn realiter nationale Wirtschaftsinteressen ohne den Dollar zu verfolgen wären. Gewiss, die neuen Mächte lernen dazu, und so werden sie auch üben, effektiver zu agieren; sie werden sich einmal auch mit Galbraiths »Gegenmächten« erfolgreich auseinandersetzen können. Doch bis dahin ist Zeit.

»Wie sich an den neuen echten oder Möchtegern-Großmächten zeigt, gebiert ihr Verhalten auch selbstzerstörerische Elemente.«

Wie sich an den neuen echten oder Möchtegern-Großmächten zeigt, gebiert ihr Verhalten auch Elemente, die selbstzerstörerisch wirken. Der Schaden, den Donald Trump der Wirtschaft des größten Akteurs auf dem Planeten zufügt, wird nicht auf Dauer ertragbar bleiben. Die Konflikte, die er anheizt, werden mangels Lösung auch auf die USA zurückschlagen, ob dies das Verhältnis zu China, zu Russland, zu Kanada oder Lateinamerika betrifft. Russlands Krieg bringt das Land an den Rand des Ruins und wird zusammengehalten nur von der harten Faust eines dem Traum von einem neuen Peter des Großen nachjagenden Diktators. Oder wenn, jenseits jeder Rechtlichkeit, China den Huthi eine Art Bestechungsgeld zahlt, damit chinesische Schiffe von den Angriffen im Roten Meer ausgenommen werden, dann stärkt es die Huthi in einer Weise, die das Pulverfass des Nahen Ostens noch explosiver macht, bis auch China seine Interessen von dort her bedroht sieht.

Nein, längst ist das endgültige Ende der regelorientierten Welt noch nicht gekommen. Doch läuten die Warner die Alarmglocken zur rechten Zeit. Denn Zeit ist nicht zu verlieren, wollen die liberalen Demokratien noch spürbaren Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen. Das ist dringlich: bevor das Vertrauen in funktionierende Institutionen und Verabredungen durch Lauern auf eine Gelegenheit ersetzt wird, auf Kosten anderer Vorteile durchzusetzen; bevor große Staaten mit Blick auf ihre Durchsetzungsbereitschaft ohne Zweifel nurmehr als Bedrohung angesehen werden müssen; und bevor selbst die USA vom Bündnispartner zur Gefahr werden. Abwarten ist also keine Option.

Zukunftaussichten Europas

In dieser komplizierten und kritischen Gefahrenlage sollten für Europa vier Schritte primär sein, alle mit dem Ziel des Ausbaus bestehender, aber noch unzureichender Fähigkeiten:

Erstens: Die gegenwärtigen Verteidigungsfähigkeiten sind erstellt worden als Teil der Vorbereitung der NATO-Mitgliedstaaten auf Herausforderungen, die auch von den USA, Kanada und der Türkei Anstrengungen gemeinsamer Selbstverteidigung erfordern könnten. Ob die damit erreichte »Kriegstüchtigkeit« für ein Bündnis europäischer Staaten nun ohne Beteiligung der USA genügt, muss geprüft werden, und der Ausbau der bestehenden Fähigkeiten muss angesichts der Bedrohungslage rasch erfolgen. Dieser Prozess hat begonnen, die Europäer sind, mit Blick auf das Zieljahr 2030, auf weitem, aber gutem Weg.

»Es bedarf eines konsequent verfolgten Ausbaus der Bündnisfähigkeit Europas.«

Zweitens: Die Staaten Europas machen ihr business as usual gemäß den Spielregeln der bestehenden Weltordnung. Wenn die Kooperationsbereitschaft nach den Regeln der internationalen Institutionen bröckelt, und in gefährlicher Weise weniger Verlass auf sie sein wird, müssen andere Wege der Zusammenarbeit gefunden werden, und zwar mit den dazu bereiten Partnern. Diese sind nicht wenige; in erster Linie in Ost- und Südostasien, im Rahmen weiterer Entwicklung auch im Kreis anderer Länder des Globalen Südens – insbesondere der zehn BRICS-Staaten, die gegenwärtig bereits selbst Bündnisse in neuen Plattformen suchen. Es bedarf also eines konsequent verfolgten Ausbaus der Bündnisfähigkeit Europas. Dass bereits zwei Tage nach der Demütigung Selenskyjs im Oval Office die Führer Europas und anderer Staaten, die die Ukraine unterstützen, in London zusammenkamen, machte – Starmer sei Dank – den notwendigen Eindruck von Reaktionsbereitschaft und Entschlossenheit, über den Erdteil hinaus. Und auch die folgenden Anstrengungen, innerhalb Europas und, noch wichtiger, mit nicht-europäischen Partnern, der Ukraine zu Hilfe zu kommen, zeigten, dass Europa – nicht nur die EU – erkennt, was die Stunde geschlagen hat.

Drittens benötigt Europa strategisch ausgerichtete Dialogfähigkeit. Die neuen tatsächlichen oder Möchtegern-Großmächte haben – so ist unsere neue Welt – wenig Interesse an den Vorteilen des internationalen Systems. Gerade diese Wi­drigkeit aber sollte dazu führen, dass bei jedem Problem, bei dem Kooperation mit den Großmächten vorteilhaft wäre, deren Möglichkeit zumindest energisch ausgetestet wird. Wie sich solch ein Vorgehen bewähren wird, hängt vom Charakter des Lebens im Dschungel ab; sprich: Erfolg ist nicht garantiert.

Und schließlich braucht Europa viertens neue innerkontinentale Kontakt- und Kooperationsfähigkeit. Was deshalb aufhören muss, ist die Vernachlässigung der kleinen Mitgliedstaaten. Zu oft haben die großen bewiesen, dass es ohne die Kleinen geht – nur mit welcher Belastung an verlorenem Vertrauen und an Kooperationsbereitschaft, auch an ideellem Input! Und nicht einmal die größeren Staaten sind untereinander zu strategisch orientierter Kooperation bereit gewesen, immer in Furcht vor dem Verlust an Einfluss und wirtschaftlichem Vorteil. 

Für all das ist europäische Einigkeit – das heißt: echte Einheit – nötig. Dieser Appell ist immer wieder und gerade jetzt zu hören, verbunden mit dem Hinweis auf Jean Monnets Feststellung, Europa werde aus Krisen geboren. Wenn das zutrifft, dann wäre jetzt der Moment, es zu beweisen. Dabei ist Verständnis dafür notwendig, dass Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine das Schicksal des gesamten Kontinents bestimmenden Führer hatte. Die Strategie der multilateralen Abstimmung erwies sich als praktikabler. Dies sollte man bei der Klage über fehlende »führende« Persönlichkeiten bedenken: Ein Europa ohne eine Führungsfigur, die Blut, Schweiß und Tränen verheißt, kann immer noch bereit genug sein für den Umgang mit einer Welt, die zwar der des Dschungels mehr und mehr ähnelt, in der es aber dennoch möglich ist, die eigenen Interessen ohne Rückgriff auf Gewalt zu vertreten.

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