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Aktuelle Bücher über Weltkriege und Weltordnungen Vor etwas ganz Neuem

Unzählige Bücher sind bisher über die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erschienen. Lässt sich da noch irgendetwas Wesentliches hinzufügen? Ja, durchaus. Der britische Historiker Richard Overy nimmt mit seinem 1.520 Seiten umfassenden Mammutwerk eine radikal andere Perspektive ein: Weltenbrand – so der Titel der deutschen Übersetzung von Henning Thies und Werner Roller. Der Originaltitel Blood and Ruins entfaltet mehr Wucht, weil er die Opfer in den Blick nimmt und die gigantischen Zerstörungen. Der Perspektivwechsel deutet sich schon im Untertitel an: »Der große imperiale Krieg, 1931 – 1945«. Für Overy begann der Zweite Weltkrieg also nicht mit dem Überfall auf Polen, sondern viel früher: 1931, mit der japanischen Besetzung der chinesischen Mandschurei.

Wie die Deutschen 1939 mit dem gefakten Angriff auf den Sender Gleiwitz sich selbst einen Vorwand für den Überfall auf Polen lieferten, so inszenierten die Japaner 1931 einen Scheinangriff auf sich selbst, um einen Vorwand für ihren Angriff auf die Mandschurei zu bekommen. Er wurde verniedlichend »mandschurischer Zwischenfall« genannt. Wer denkt da nicht an Putins »Spezialoperation« in der Ukraine?

Im Völkerbund argumentierte die japanische Delegation, »China sei kein einheitlich organisierter Staat«. Und die Mandschurei war dann nur der Anfang für weitere territoriale Angriffe gegen China: die Mongolei, Beijing, Shanghai, Wuhan, Kanton, schließlich auch innermongolische Provinzen und große Teile von Nord-, Ost- und Zentralchina gerieten in die Hände der Japaner. Japan setzte Giftgas ein sowie die biologischen Waffen Anthrax, Cholera und Pest. Chinesen mussten sich vor den japanischen Soldaten verbeugen; Protest und Ungehorsam führten zu Gefängnis, Folter und Tod. Millionen Menschen wurden umgesiedelt. Verarmung, Mangelernährung und Hunger folgten.

»Der Krieg gegen China bereitete die japanische Gesellschaft auf den totalen Krieg vor.«

Japanische Soldaten spielten den Wettbewerb »Töte-100-Mann«. Ein Leutnant brachte es auf 374 enthauptete Männer. Abgeschlagene Köpfe ließen sie zur Abschreckung auf Pfähle spießen. Der Krieg gegen China bereitete die japanische Gesellschaft auf den totalen Krieg vor, der dann in Südostasien mit der Eroberung und Besetzung von Indochina, Indonesien, Malaya und den Philippinen weiterging. Japan gebärdete sich als neue Kolonialmacht, verhängte Zensur und Ausgangssperren und praktizierte »Säuberung durch Eliminierung«. Prügelstrafen und öffentliche Hinrichtungen waren an der Tagesordnung: »Wenn die Opfer Glück hatten, überlebten sie die abscheulichen Folterungen, bis ihre Unschuld erwiesen war; andernfalls gestanden sie wenig plausible Verbrechen und wurden hingerichtet«, schreibt Overy bilanzierend.

Während die Japaner in Südostasien wüteten, überfiel das faschistische Königreich Italien das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien, ebenfalls unter Einsatz von chemischen Waffen. Nach der Eroberung von Addis Abeba gliederte Mussolini Abessinien in Italienisch-Ostafrika ein. Das Besatzungsregime führte eine »Rassentrennung« ein. Äthiopier konnten keine italienischen Staatsbürger werden, sondern blieben Untertanen; Ehen zwischen Italienern und Äthiopiern waren verboten. Die ehemaligen Funktionsträger des Kaiserreichs wurden systematisch ermordet. Und Abessinien sollte für Mussolini nur der Anfang sein: Er träumte von Ägypten, Sudan und dem südlichen Balkan bis nach Istanbul. Dies alles fand noch vor 1939, dem bis dahin offiziellen Beginn des Zweiten Weltkriegs, statt.

»Die Berufung auf ›Lebensraum‹im Osten war einer ganzen Generation von deutschen Akademikern und Regionalexperten in Fleisch und Blut übergegangen.«

Diese Stärke von Richard Overys globaler Perspektive, nämlich die Angriffs-, Verteidigungs- und Bürgerkriege der 30er Jahre miteinzubeziehen in die Betrachtung der Weltkriegskatastrophe, könnte aber zugleich auch seine größte Schwäche darstellen. Denn seiner Analyse zufolge war die bestehende imperiale Weltordnung von Frankreich und Großbritannien geprägt. Frankreich beherrschte damals ein Gebiet, das 20-mal größer war als Frankreich selbst, und Großbritannien kontrollierte weltweit 400 Millionen Menschen. Overys zentrale These lautet: Die Achsenmächte Japan, Italien und Deutschland wurden durch die beiden großen Kolonialmächte beflügelt, sich dem Kampf um Ressourcen, Märkte und »Lebensraum« anzuschließen und Territorien zu erobern.

»Die regelmäßige Berufung auf ›Raum‹ und ›Lebensraum‹ im Osten, wann immer diese Region beschrieben wurde, war einer ganzen Generation von deutschen Akademikern und Regionalexperten in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser bewusste Sprachgebrauch signalisierte, dass es sich um Raum handelte, der kolonisiert werden könne, und nicht um Raum, der bereits durch eine große städtische wie ländliche Bevölkerung besiedelt und in einem großen Staatswesen organisiert war, mit etablierten Sozial- und Verwaltungsstrukturen.«

Wenn Overy also ernsthaft behauptet, die bestehenden Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien hätten die Achsenmächte quasi angestiftet zu ihren Eroberungsfeldzügen, dann erinnert das fatal an den sogenannten Historikerstreit vor fast 40 Jahren. Damals hatte der deutsche Historiker Ernst Nolte in einem Artikel über die »Vergangenheit, die nicht vergehen will« ähnlich argumentiert, nur mit einem anderen Akteur als Auslöser: »War nicht der ›Archipel Gulag‹ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des Rassenmords der Nationalsozialisten?«, fragte Nolte rhetorisch. Seine zentrale These konstruierte einen »kausalen Nexus« zwischen den Verbrechen der Nationalsozialisten und den Verbrechen der Bolschewiki.

Ist Overy also ein Geschichtsrevisionist? Wenn auch seine Hauptthese weit über das Ziel hinausschießt, wollte er als Angehöriger eines einstigen Empires wahrscheinlich eher der gegenwärtigen Debatte über die Verbrechen und Verantwortung der Kolonialmächte Rechnung tragen. »Blood and Ruins« sind sein Thema. Das beweist die gesamte Konzeption des Buches, das in weiteren Kapiteln ausführlich »die vielen Gesichter des Widerstands«, »Verbrechen und Gräueltaten«, »Gewalt gegen Frauen« und »Rassistische Verbrechen« beschreibt und erörtert.

Kriegsneurosen und Kriegstraumata

Ein besonders ungewöhnliches und deshalb besonders lesenswertes Kapitel – das üblicherweise in Kriegsbüchern gar nicht vorkommt – behandelt die »emotionale Geographie des Krieges«: »Kriegsneurosen werden vom Krieg verursacht«, zitiert Overy zwei amerikanischen Psychiater. Als die demokratischen Staaten 1942 ihre psychotherapeutischen und psychiatrischen Einrichtungen auszubauen begannen, wickelten die deutschen Behörden auf Hitlers Befehl die Militärpsychologie ab: »Das Kriegstrauma irgendwie zu bewältigen, war andererseits die harte Wirklichkeit für zig Millionen einfache Menschen, die in die Wirren des totalen Krieges gerieten. Ihre psychischen Reaktionen blieben meist unbehandelt und wurden in den späteren Erzählungen über die Kriegsjahre im Allgemeinen übersehen.« Millionen traumatisierter Menschen schafften es nicht zu überleben – an der Front, im Bombenhagel oder als eines der zivilen Opfer von Gräueltaten, Hunger und Völkermord.

Weltenbrand von Richard Overy ist ein unbedingt lesenswertes Buch, aber ob es sich wirklich um ein »Standard- und Meisterwerk« handelt, wie viele Kritiker behaupten, darf man bezweifeln. Tatsächlich fehlt noch immer das grundlegende Werk, das die beiden Weltkriege als einen einzigen 30-jährigen Krieg zusammendenkt.

Die Kapitulation Deutschlands und Japans markierte nicht nur das Ende des Weltkriegs, sondern auch das Ende des Kolonialismus, wenngleich sich dieser Prozess noch bis in die 60er Jahre hinzog. Eine bipolare Weltordnung entstand, mit den Antagonisten UdSSR und USA. Mit der Selbstauflösung der Sowjetunion machte sich dann – zumindest im Westen – die Hoffnung breit, es könne eine neue kooperative Weltordnung entstehen, die zwischenstaatliche Kriege künftig erübrigen würde. Der Überfall Russlands auf die Ukraine habe diesen »Erwartungshorizont« in Luft aufgelöst, schreibt der Politologe Herfried Münkler in seinem aktuellen Buch Welt in Aufruhr.

Tatsächlich hat sich die Weltordnung schon immer gewandelt, doch seit dem 20. Jahrhundert mit zunehmender Geschwindigkeit. Wie könnte eine kommende, neue »Ordnung der Mächte« aussehen? Diese Frage diskutiert Münkler mit einem tiefen Rückgriff auf historische Quellen, vom griechischen Geschichtsschreiber Thukydides über den florentinischen Machttheoretiker Machiavelli bis zu Carl Schmitt, dem Staatsrechtler der Nationalsozialisten, der sich neuerdings bei russischen Nationalisten rasender Beliebtheit erfreut. Die langen Quellenexegesen – insbesondere zu Carl Schmitt – können allerdings auch die interessierte Leserin stellenweise ermüden.

»Bipolare Strukturen begünstigen Präventivkriege. Vor diesem Dilemma steht jede künftige Weltordnung.«

Bereits mit dem Westfälischen Frieden von 1648 etablierte sich eine Fünferherrschaft, bestehend aus dem Wiener Kaiserhaus mit seinen Herrschaftsgebieten, Spanien, Frankreich, England und Schweden. An die Stelle von Schweden und Spanien traten später Preußen und Russland. Ein Fünfersystem, meint Münkler, sei sehr viel besser als eine bipolare Ordnung in der Lage, Veränderungen aufzufangen und abzufedern. Wohingegen bipolare Strukturen Präventivkriege begünstigten. Vor diesem Dilemma stehe jede künftige Weltordnung.

Präventivkrieg gegen Freiheit und Demokratie

Allerdings ist eine bipolare Ordnung derzeit auch nirgendwo in Sicht und noch weniger eine unipolare. Die USA haben mit dem Rückzug aus Afghanistan und der Parole »America First« schon länger deutlich gemacht, dass sie die Rolle eines »Hüters der Weltordnung« nicht länger übernehmen wollen. Und mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Illusion begraben, Russland lasse sich mittels Wohlstandstransfer durch wirtschaftliche Zusammenarbeit einhegen: »Fossile durch erneuerbare Energien zu ersetzen war eine im Grundsatz richtige Reaktion auf den bedrohlichen Klimawandel, signalisierte der russischen Seite jedoch, dass es sich bei der bestehenden Wirtschaftsverflechtung, zumal in ihrem gegenwärtigen Umfang, um ein Auslaufmodell handelte«, analysiert Münkler scharfsinnig.

Geht es Russland mit dem Überfall auf die Ukraine also um die Wiedererrichtung eines russischen Imperiums? Oder nicht eher darum, zu verhindern, dass an seinen Grenzen mit der Ukraine ein EU-nahes, demokratisches und prosperierendes Staatswesen entsteht? Möglicherweise beides, Münkler tendiert eher zu Letzterem und deutet den Krieg als einen Präventivkrieg gegen Freiheit und Demokratie.

Der Politikwissenschaftler spielt dann verschiedene Varianten durch, welche künftigen Weltordnungen sich durchsetzen könnten. Eine Dreierkonstellation aus China, den USA und Russland würde Indien und Europa auf nachgeordnete Ränge verweisen. Eine solche »zweite Reihe« sei einerseits zwar komfortabel, weil sie weniger Verantwortung bedeute, andererseits aber auch heikel, weil sie Bedeutungsverlust markiert und Machtoptionen begrenzt.

Künftige Rolle Europas

Wird Europa überhaupt in der Lage sein, weltpolitisch eine führende Rolle zu spielen? Schwer zu sagen, meint Münkler. In der gegenwärtigen politischen Verfasstheit könnte es die Union der 27 Staaten zerreißen. Der komplexe Aufbau des Europaprojekts könne allerdings eine Lösung aufweisen: »Die politische Ordnung Europas besteht nämlich aus einem Kreis von Kreisen, die nur teilweise miteinander deckungsgleich sind – EU-Mitgliedschaft, Zugehörigkeit zum Schengenraum, Zugehörigkeit zum Euroraum – , denen man einen weiteren Kreis hinzufügen kann: den der Mächte, die im Wesentlichen die Lasten der globalen Politik zu tragen haben. Das könnte ebenfalls auf eine Fünfergruppe hinauslaufen, zu der dann Deutschland und Frankreich, Italien und Spanien sowie Polen gehören würden, womit Süd- und Westeuropa sowie Mittel- und Ostmitteleuropa repräsentiert wären.«

»Einzelne Mächte könnten an der neuen Weltornung scheitern, scheitern könnte aber auch die Weltordnung als Ganzes.«

Münkler geht davon aus, dass die Weltmächte des 21. Jahrhunderts aus China, Russland, Indien, den USA und der Europäischen Union bestehen werden. Wenn auch unter dem Vorbehalt, dass Einzelne von ihnen durch andere Mächte aus der Zweiten Reihe ersetzt werden könnten. Doch eine Fünferkonstellation hält er insgesamt für realistisch und wünschenswert. Allerdings, so sein Resümee, könnten nicht nur einzelne Mächte an einer neuen Weltordnung scheitern, sondern scheitern könne die Weltordnung auch als Ganzes; mit furchtbaren Folgen. Welt in Aufruhr ist insgesamt eine sehr bedenkenswerte Analyse, wenngleich der Autor auch ohne die ausführlichen Exkurse vermutlich zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen wäre.

Richard Overy: Weltenbrand. Der große imperiale Krieg, 1931–1945. Rowohlt, Berlin 2023 , 1.520 S., 48 €.

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Rowohlt, Berlin 2023, 528 S., 30 €.

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