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Vorbild Deutschland?

Bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gab es in Frankreich an beiden Rändern des politischen Spektrums eine klare Deutschlandfeindlichkeit, bei Marine Le Pen und dem Front National am rechten und bei Jean-Luc Mélenchon und seiner Parti de Gauche am linken Rand. 2015 veröffentlichte Letzterer z. B. ein Buch mit dem Titel Le hareng de Bismarck. Le poison allemand (Bismarcks Hering. Das deutsche Gift). Seine These darin: Frankreich sei gegenüber der deutschen Herrschaft in Europa völlig untertänig. Und Marine Le Pen sagte vor der Stichwahl zwischen ihr und Emmanuel Macron: »Jedenfalls wird eine Frau Frankreich regieren. Entweder ich oder Frau Merkel«. Aber derlei Äußerungen stoßen allgemein auf starke Ablehnung. In Wahrheit spürt man in Frankreich gegenüber der Bundesrepublik eine Mischung aus Bewunderung und Neid. Wie machen die das? Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble weiß nicht genau, was er mit dem Haushaltsüberschuss machen soll. Schwarze Zahlen im Haushalt? So etwas ist in Paris beinahe undenkbar. Rot ist hier die bekannte Farbe in den Haushaltsbüchern, die stets steigenden Schulden der Normalzustand. Im französischen Nationalhaushalt steht an erster Stelle bei den Ausgaben die Erziehung, an dritter Stelle die Verteidigung. Dazwischen steht nicht etwa die Tilgung von Schulden, sondern die Zinsen für diese Schulden. Die Zahl der Beschäftigten steigt in Deutschland ständig. Hunderttausende Flüchtlinge wurden aufgenommen, ohne dass eine Revolte ausbrach. In Frankreich dagegen hatte Präsident François Hollande glatt gelogen, als er sagte, die Aufnahmepolitik sei in beiden Ländern identisch. Kanzlerin Merkel, am Anfang in den Karikaturen noch mit einer Pickelhaube verunglimpft, bekam dort dann später immer öfter einen Heiligenschein!

Und nun heißt der französische Präsident Emmanuel Macron. Was will er? Ins Deutsche übersetzt, einfach die soziale Marktwirtschaft, so wie die Sozialdemokraten sie auch wollen, wobei die Kanzlerin wohl als Sozialdemokratin dargestellt werden darf. In Frankreich war die Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und Politik des Staates verpönt. Man durfte nur sozialistisch sein. Macron will nun auch die Mitbestimmung auf Betriebsebene einführen, entgegen der französischen Tradition. Die Berufsausbildung soll künftig auch mehr oder weniger dem deutschen Modell entsprechen.

Auf alle Fälle ist es wünschenswert, dass nach der Wahl die deutsche Bundesregierung eine freundschaftliche und schöpferische Zusammenarbeit mit dem neugewählten französischen Präsidenten Macron entwickelt, wie es sie in der Ära François Mitterand/Helmut Kohl gegeben hat.

So einfach liegen die Dinge aber nun auch wieder nicht. Vieles, was die Bundesrepublik ausmacht, ist in Frankreich weitgehend unbekannt, zum Teil, weil man es in Deutschland auch nicht weiß. So etwa die Tatsache, dass die Bundesrepublik als einziger Staat in Europa nicht auf dem Nationenbegriff aufbauend entstanden ist, sondern auf einer politischen Ethik fußt: der doppelten Ablehnung von Adolf Hitler in der Vergangenheit und von Josef Stalin in der Nachbarschaft. Daher rührt die berechtigte Verehrung des Rechtsstaates, angefangen bei den Grundrechten im Grundgesetz. Daher rührt auch die Macht des Bundesverfassungsgerichts, welches diese Macht allzu oft erweitert und die Selbstbeschränkung vergisst und ein Gesetz nicht nur aufgrund seiner Verfassungswidrigkeit verwirft, sondern dem Parlament gar vorschreibt, wie das neue Gesetz auszusehen hat!

Manchmal kann es scheitern. Zusammen mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, dem großartigen Verteidiger des Parlamentarismus, wollte es eine Veränderung einer Absurdität des Wahlgesetzes erzwingen, aber das Absurde ist vorerst bestehen geblieben. Jahrzehntelang habe ich meinen Studenten erklärt, warum das deutsche Wahlsystem das beste auf der Welt sei, mit seinen Wahlkreisen und seinen Listen, die letzten Endes das Resultat dem Proporz entsprechen lassen. Aber was ist mit den Überhangmandaten? Sie bevorzugen die großen Parteien. Na und? Das hilft, klare Bundestagsmehrheiten zu bilden. Reiner Proporz ist doch eine Katastrophe, siehe Israel oder die Niederlande. Nur auf Wahlkreismehrheiten zu setzen kann dazu führen, dass insgesamt die Minderheit an Stimmen eine Mehrheit im Parlament ergibt. Nun sollen, im Namen der Gleichheit, Überhangmandate für einzelne Parteien durch Ausgleichsmandate für die anderen nivelliert werden. Wie viele Abgeordnete der Deutsche Bundestag nach der Wahl im September umfassen wird, kann somit niemand mit Sicherheit voraussagen.

Von Frankreich aus gesehen ist auch der deutsche Föderalismus nicht leicht zu verstehen. Als beispielsweise die Partnerschaft zwischen der Bretagne und Sachsen 1995 unterzeichnet wurde, musste man die Deutschen zurückhalten, als sie den Mitgliedern des französischen Regionalrates Fragen über deren Befugnisse stellen wollten, denn diese hatten ja kaum Befugnisse, während man den Franzosen erklären musste, was ein Land mit einer echten Regierung und einer echten Verwaltung ist. Warum gibt es einen Umsatzsteuer- und Länderfinanzausgleich, der 2016 einschließlich allgemeiner Zuweisungen des Bundes an die Länder eine Rekordsumme von mehr als 23 Milliarden Euro umverteilt hat, mit Bayern als größtem Geberland? Es gab jedoch kaum Kommentare von französischer Seite, dass der Bund für rund zehn Milliarden Euro in die Hoheit der Länder und Kommunen helfend eingreifen und etwa in den armen Ländern Schulen sanieren darf. Aber ist das überhaupt wichtig in einem Bundesstaat, in dem die Wirtschaft scheinbar vor Kraft strotzt, 2016 mit 1,9 % das höchste Wachstum seit fünf Jahren erzielte und einem ständig wachsenden Exportüberschuss. Im ersten Quartal 2017 8,5 % über dem Niveau des Vorjahres.

Von diesem Überschuss wird in Frankreich ständig gesprochen. Wird er nicht auf Kosten der anderen Europäer erzielt? Sollte er nicht verringert werden? Die Antwort sollte eine doppelte sein. Auf der einen Seite: Warum sollte man den deutschen Maschinenbau ermahnen, schlechtere Produkte herzustellen, wo doch gerade deren Qualität sie so wertvoll macht, überall da wo sie gebraucht werden? In Frankreich gibt es nur wenige mittelständische Unternehmen, die zudem nicht effizient genug sind. Auf der anderen Seite – und hier ist der französische Vorwurf berechtigt – könnte viel mehr im eigenen Land investiert und verteilt werden. Soll der Haushaltsüberschuss nur zur Schuldentilgung verwendet werden, wo doch die Bundesrepublik auch an manchen Stellen eine Ruine ist und Brücken, Straßen und Schulen in schlechtem Zustand sind? An den notwendigen Sanierungen könnten sich ja auch ausländische Firmen beteiligen.

Sollte nun Deutschland generell für andere da sein, weil das Land diese Vergangenheit mit den Jahren zwischen 1933 und 1945 hat? Bei einem Besuch in einem deutschen Gymnasium in Singapur 1992 fragte eine 17-Jährige mit viel Bitterkeit: »Wenn ich einmal eine 17-jährige Tochter haben werde, wird sie dann noch immer Anklage und Argwohn im Gesicht ihres Gesprächspartners entdecken, wenn sie sagt, dass sie eine Deutsche sei?« In den Niederlanden oder in Großbritannien könnte das noch möglich sein, in Frankreich kaum. Es gibt Tausende von Partnerschaften, von gemeinsamen Forschungsprojekten, von verheirateten oder unverheirateten Paaren. Aber doch stellt sich für Gymnasiasten, Real- oder Berufsschüler und für die Neuangekommenen die Frage: »Inwiefern sollen wir uns von dieser Vergangenheit noch betroffen fühlen?«. Navid Kermani konstatierte vor Kurzem in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Wer sich in Deutschland einbürgern lässt, wird auch die Last tragen müssen, Deutscher zu sein. Spätestens in Auschwitz wird er spüren, was das bedeutet.« Antwort und Kommentar sollten einfach sein. Man nehme die Erklärung von Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset am 2. Februar 2005: »›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Diese Lehre aus den nationalsozialistischen Verbrechen haben die Väter des Grundgesetzes im ersten Artikel unserer Verfassung festgeschrieben. Die Würde des Menschen zu schützen und zu achten ist ein Auftrag an alle Deutschen. Dazu gehört, jederzeit und an jedem Ort für die Menschenrechte einzutreten. Daran will sich die deutsche Politik messen lassen.«

Leider meinte er damit nicht das traurige Schicksal der Palästinenser. Für deren Rechte einzutreten, sollte die Pflicht der Schüler und der Neuankömmlinge sein. Das bedeutet u. a. gegen den geplanten Verkauf von subventionierten U-Booten an Israel oder die Blockade von Gaza zu protestieren, was, wie in Frankreich, den Vorwurf des Antisemitismus zeitigen würde. Dass die Europäer nicht offen protestieren, wenn Israel die mit ihrem Geld gebauten Einrichtungen zerstört, ist eine andere, aber doch ähnlich gelagerte Angelegenheit.

Gibt es nun »die Europäer«? Das Paar Macron/Merkel will das ganz gewiss und hat das beim Trauerakt für Helmut Kohl in Straßburg wieder demonstriert. Dabei muss das geschehen, was die ausgezeichnete Korrespondentin der FAZ in Paris, Michaela Wiegel, in einem Leitartikel im April forderte. 1945 schrieb Joseph Rovan, kurz nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau den berühmt gewordenen Artikel »L’ Allemagne de nos mérites« (»Das Deutschland, das wir verdienen«). Nun sollte es in Berlin heißen: »Das Frankreich, das wir verdienen«!

Theresa May steht für den Artikel 50 des EU-Vertrags, der den Austritt aus der Union regelt. Der Artikel 49 regelt die Bedingungen für einen Antrag auf Aufnahme in die EU, dementsprechend es keine Verhandlungen mit der Türkei geben dürfte, denn nur Staaten, die die Grundrechte respektieren, dürfen in die EU aufgenommen werden. Leider gibt es keinen Artikel, der regelt, was man mit den Mitgliedsstaaten machen soll, die auch die Grundrechte und -freiheiten nicht mehr garantieren, obwohl sie doch 2004 im Namen der Freiheit aufgenommen wurden. Sie könnten nur ihr Stimmrecht verlieren, was ihnen gleichgültig sein könnte. Nun soll auch ein Mittel gefunden werden, um den Milliardenfluss von Brüssel nach Warschau und Budapest zu unterbrechen, wo dort doch ständig das »böse Brüssel« beschimpft und abgelehnt wird. Aber einen großen Unterschied zwischen Ungarn und Polen gibt es doch: Viktor Orbán hat sein Land mit Stacheldraht umgeben und die Pressefreiheit liquidiert (was die CDU nicht daran hindert, im Europaparlament in derselben Fraktion wie Orbáns Partei Fidesz zu sitzen). In Polen darf man noch hoffen – vorausgesetzt, es wird ehrlich ausgezählt –, dass die heutige liberale Opposition siegt und die Macht von Jarosław Kaczyński 2019 ein Ende hat.

Angela Merkel und Emmanuel Macron unterstützen die harte Verhandlungslinie von Michel Barnier, dem Beauftragten der EU-Kommission für die Austrittsverhandlungen mit London. Dieser, von Brüsseler wohlinformierten Experten umgeben, entdeckt zunehmend, dass Theresa May eben keine Expertin ist und noch viele Illusionen hat. Manchmal erfindet sie Dinge, die Barnier dann dementieren muss. So z. B., dass Europäische Institutionen in England bleiben könnten. Es gilt, im Rahmen des Brexit mehr als 800 britische Bindungen an die und in der EU aufzulösen, um dann zu einem Vertrag zu kommen, der ratifiziert werden muss – von allen EU-Mitgliedsstaaten, einschließlich Großbritannien. Meine These lautet: Dieser Vertrag wird eine solch klare Katastrophe für die britische Wirtschaft und Gesellschaft bedeuten, dass die Wähler auf der Insel »Nein« sagen werden – und der Brexit einfach nicht stattfindet! Und dann wäre man wieder zurück bei einem Europa, das mit deutsch-französischen Initiativen vorangeht, sei es nur im Hinblick auf die politische Beherrschung der Eurozone. Die Bundestagswahl wird daran wenig ändern.

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