Der sogenannte »Linksruck« in Lateinamerika, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf nationaler Ebene unterschiedliche Formen annahm, war mehr als das Zusammentreffen von Wahlerfolgen fortschrittlicher Parteien in weiten Teilen der Region. Er war Ausdruck einer Epoche, denn nie zuvor stand die Politik so vieler Länder zur gleichen Zeit unter einem fortschrittlichen Vorzeichen. Tatsächlich aber handelte es sich dabei, wie es der britische Historiker Perry Anderson formulierte, um eine »globale Ausnahme«.
Die Bandbreite war sehr groß: An der Regierungsspitze standen u. a. ein nationalistischer Angehöriger der Streitkräfte (Hugo Chávez in Venezuela), ein ehemaliger Metallarbeiter (Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien), auf den mit Dilma Rousseff eine zu einer Politikerin mit technokratischem Image gewandelte frühere Guerrilla-Kämpferin folgte, ein Campesino (Evo Morales in Bolivien), ein ehemaliger Bischof (Fernando Lugo in Paraguay) und ein Arzt (Tabaré Vázquez in Uruguay), auf den mit José Pepe Mujica ein früherer Guerrilla-Kämpfer und eine »Ausnahmeerscheinung« folgte, wie sie Uruguay noch nie erlebt hatte. In Ecuador kam mit Rafael Correa ein Volkswirtschaftsprofessor an die Regierungsspitze und in Argentinien ein peronistisches Ehepaar (Néstor Kirchner und Cristina Fernández). Die Liste ließe sich ergänzen um die Rückkehr des umstrittenen Sandinismus von Daniel Ortega in Nicaragua, die merkwürdige Erfahrung mit dem »Liberalen« Manuel Zelaya in Honduras, die Regierungsübernahme des Frente Farabundo Martín de Liberación Nacional (FMLN, die ehemalige Guerrilla-Bewegung) in El Salvador und das Überleben der Kommunisten in Kuba. Und in jüngster Zeit ist mit Andrés Manuel López Obrador in Mexiko eine Art »verspäteter Progressismus« hinzugekommen.
Mangels einer angemesseneren Begrifflichkeit, die imstande wäre, die Vielfalt der Erfahrungen und ihrer nationalen Besonderheiten widerzuspiegeln, schlägt der Brasilianer Emir Sader vor, den neuen Zyklus als »postneoliberal« zu bezeichnen; die Argentinierin Maristella Svampa schreibt über einen von Spannungen begleiteten »Epochenwandel«, und der Ökologe Jorge Rulli spricht von einer »Anpassung der Linken der Siebziger Jahre an den weltumspannenden Globalisierungsprozess und den Aufstieg Chinas«. Einige Autoren betonen die auf eine »Entkolonialisierung« verweisenden Facetten dieses politischen Zyklus. In den USA wird der Sammelbegriff »Pink Tide« verwendet, um dessen ideologisch-weltanschauliche Ambivalenzen und die Brüche zu erfassen, die häufig zwischen der teilweise antikapitalistischen Rhetorik einerseits und der wesentlich zurückhaltenderen Praxis andererseits bestanden. Es handelt sich jedoch zweifellos um Prozesse, die mit einer weitgehenden Mobilisierung der breiten Bevölkerung einhergingen.
Es war der Venezolaner Hugo Chávez, der die am weitestgehenden »ideologisch-weltanschaulichen Vorstellungen« in diesen Prozess hineinprojizierte, vor allem seit er begann, von einem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« zu sprechen, ein stets schwer zu fassender Begriff, der immer mit dem chaotisch-experimentellen Charakter des bolivarischen Systems verknüpft war. Mithilfe seiner Petrodiplomatie trat der venezolanische Präsident als der wichtigste Verfechter eines radikalen Weltbildes auf, das Lateinamerika wieder als eine Region revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen zu positionieren schien. Am 30. Januar 2005 sprach Chávez im Gigantinho-Stadium von Porto Alegre vom Sozialismus als einer Notwendigkeit. Es gehe nicht nur darum, »den Kapitalismus zu überwinden«; vielmehr »geht es zweifellos darum, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu überwinden«. Damit formulierte eineinhalb Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer erneut ein Präsident den »Sozialismus« als politischen und historischen Horizont.
Diese Erklärungen klangen entfernt nach jener Rede, in der Fidel Castro im April 1961 inmitten von Gewehren und Aufrufen, die imperialistische Aggression zurückzuschlagen, den »sozialistischen Charakter« der Kubanischen Revolution verkündete. Venezuela wurde zwar nicht zum Opfer einer Invasion, aber der Chavismus bezog eine kräftige Dosis politischer Mystik aus seinen Siegen über den von der einheimischen Oligarchie und den USA unterstützten Staatsstreich von 2002 sowie über den Unternehmeraufstand und den Streik beim Erdölunternehmen Petróleos de Venezuela (PDVSA) von 2002/03, der schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft mit sich brachte. Chávez sprach nicht vor Angehörigen einer Miliz, sondern vor gesellschaftlichen Aktivisten des Weltsozialforums, in dem sich linke Parteien und soziale Bewegungen gegen die »Globalisierung des Kapitals« und für eine weltweite Änderung der Machtverhältnisse einsetzten. In diesem Szenarium nach dem Ende des real existierenden Sozialismus verkündete und betonte der bolivarische Präsident, wie der Übergang zum Sozialismus erfolgen müsse: »Auf demokratischem Weg!«. Aber nicht im Rahmen der Demokratie, die »Mister Superman [George W. Bush] uns von Washington aus aufzwingen will«. Tatsächlich waren die Probleme des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« jedoch zum Teil auf die fehlende Definition des Demokratietyps zurückzuführen, auf den sich dieser Sozialismus stützen sollte, der sich notwendigerweise vom Sozialismus des 20. Jahrhunderts unterscheiden musste. Allerdings waren dies nicht die einzigen Schwierigkeiten. Chávez' Berufung auf den Sozialismus und sein voluntaristischer Transformismus waren in großen Teilen zu weit von der Realität Venezuelas entfernt, also eines von Renten lebenden, äußerst konsumorientierten Landes mit einer enormen Korruption und einem Staat, der traditionell nicht dazu in der Lage war, die selbstgesetzten Aufgaben wahrzunehmen. Hinzu kam der zu hierarchisch-militärische Charakter des venezolanischen Projekts.
Die übrigen Linksregierungen, auch Caracas' Verbündete wie Rafael Correa und Evo Morales, nahmen kaum Bezug auf diesen Ansatz und verwendeten ihre eigenen Definitionen, z. B. »Bürgerrevolution« oder »demokratisch-kulturelle Revolution«. Tatsächlich vollzog sich im Zeichen des Linksrucks jenseits einer gewissen Ideologieinflation ein ausgeprägter Sozialreformismus, der von Land zu Land unterschiedliche politische und kulturelle Traditionen wieder aufgriff und ein breites Spektrum vom revolutionären Nationalismus bis zur alten marxistischen, mittlerweile »sozialdemokratisierten« Linken abdeckte.
Zweifellos ermöglichte dieser Sozialreformismus – auch dank des Anstiegs der Rohstoffpreise – bedeutende soziale Fortschritte, die jedoch nicht in allen Ländern nachhaltig waren. Zugleich erlangten über lange Zeit diskriminierte Bevölkerungsschichten die notwendige Legitimität, um in das »Familienfoto« der Nation aufgenommen zu werden, zum Beispiel im Brasilien Lula da Silvas oder im Bolivien von Evo Morales. Damit gingen Umverteilung und Anerkennung Hand in Hand, die Regierungen erzielten eine beeindruckende Folge von Wahlsiegen. Allerdings stellte sich auch die Frage, was geschehen würde, sollten sie eines Tages verlieren? Konnten sie die Wahlen auf Dauer gewinnen? Die Antworten variierten von Land zu Land. In Uruguay, Brasilien, Chile und Argentinien stand der Diskurs des Machtwechsels außer Frage; im Falle einer Niederlage würden die Regierungen die Macht übergeben, wie es dann tatsächlich auch geschah. Dagegen war in Venezuela und Bolivien – wie auch in Nicaragua – die Perspektive einer nicht katastrophalen Niederlage ausgeschlossen; nur unter dem Einfluss einer Manipulation durch irgendwelche fremden Kräfte würde das Volk gegen die Regierung stimmen. Das erklärt die institutionellen Verwindungen in Venezuela, die letztlich zur Errichtung eines von Zivilisten und dem Militär geführten autoritären Regimes führten. Ebenso erklärt es das Abgleiten von Evo Morales, der trotz seiner Niederlage im Verfassungsreferendum von 2016 an seinen Plänen für eine vierte Amtszeit festhielt und im November 2019 von einer gewalttätigen Konstellation konservativer Kräfte gestürzt wurde. Sein Bestehen auf der Wiederwahl entgegen den Bestimmungen der 2009 angenommenen neuen Verfassung verursachte eine erneute Polarisierung des Landes nach einer langen Periode der Stabilität, die auf die gute Wirtschaftspolitik des Movimiento al Socialismo (MAS) zurückzuführen war.
Der »Rohstoff-Konsens« trägt nicht mehr
Mit den Jahren wurde jedoch deutlich, dass in der gesamten Region die unbestreitbaren Erfolge von einigen Schwierigkeiten begleitet waren. Wenngleich der Sozialreformismus sich sicher nicht nur durch den Rohstoffboom erklären lässt, so schuf er doch die Voraussetzungen dafür. So sehr sich der Linksruck nicht auf die Frage relativer Preise reduzieren lässt, wie es die Rechte tut, so sehr trifft es doch zu, dass diese Regierungen weder in materieller noch in ideologisch-weltanschaulicher Hinsicht über das hinauskamen, was Svampa als den »Rohstoff-Konsens« bezeichnete. Diese Ressourcen finanzierten eine Reihe sozialpolitischer Programme, die im Zusammenspiel mit der Anhebung der Mindestlöhne in den ersten Jahren zu guten Ergebnissen bei der Armutsbekämpfung führten; tatsächlich sind die Wahlerfolge aller Ausprägungen progressiver Politik, der gemäßigten wie der radikalen, auf die Konsumsteigerung der Bevölkerung zurückzuführen. Geringere Fortschritte gab es hingegen beim Ausbau der Institutionen und Steuersysteme mit dem Ziel, »engmaschigere« Wohlfahrtsstaaten zu errichten, was sich unter anderem an den Mängeln der Gesundheitssysteme während der COVID-19-Pandemie zeigt, aber auch an der fehlenden Quantität und Qualität öffentlicher Güter im allgemeinen. Daneben trug das Problem der Korruption, das von den konservativen Kräften geschickt ausgenutzt wurde, dazu bei, das moralische Kapital der fortschrittlichen Regierungen aufzuzehren, während die anhaltende Gewalt in den Städten dem Wunsch nach einer »starken Hand« Vorschub leistete. Ein extremes Beispiel ist Brasilien unter Jair Bolsonaro.
Eine offenere Bilanz des »langen Jahrzehnts« des fortschrittlichen Zyklus steht noch aus. Der lateinamerikanischen Linken fällt es heute schwer, über Venezuela zu »sprechen«. Während die bolivarische Regierung anfänglich ein Motor des regionalen Veränderungsprozesses war, so erscheint sie heute als ein Ballast, den die rechten Kräfte in der gesamten Region als Gespenst nutzen – mit großem Erfolg. In der Linken herrscht dagegen die Ansicht vor, dass die Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro »dem Imperium in die Hände spielt«. Dasselbe gilt auch für andere Entwicklungen: Die brasilianische Arbeiterpartei PT tut sich mit ihrer Erneuerung sehr schwer und ist weiterhin äußerst abhängig von Lula, während ein großer Teil der fortschrittlichen Kräfte der Region außerstand ist, den Fall von Evo Morales jenseits des Schemas einer »imperialistischen Verschwörung« zu denken. Die lateinamerikanischen fortschrittlichen Kräfte stehen in mehrerer Hinsicht zu sehr unter dem Einfluss der 70er Jahre, weshalb auch Kuba weiterhin eine bedeutende sentimentale Reserve bildet und die Vorstellungswelt der Vergangenheit den Blick auf die Zukunft bestimmt.
Obwohl dieser Zyklus ab 2015 zu Ende gegangen ist, können die Kräfte, die ihn vorangetrieben haben, weiterhin auf große Unterstützung in der Gesellschaft bauen und, wie im Falle Argentiniens, sogar an die Regierung zurückkehren. Sicher ist aber auf jeden Fall: Infolge der derzeitigen Wirtschafts- und Gesundheitskrise wird die Anzahl der in die Armut abrutschenden Menschen zunehmen, während die Aussichten für die Region düster sind.
(Aus dem Spanischen von Dieter Schonebohm.)
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