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Vorwärts – 130 Jahre österreichische Sozialdemokratie

Mit leichter Verspätung legt nun auch die österreichische Schwesterpartei der SPD, die SPÖ, zu ihrem runden Gründungsjubiläum Rechenschaft über ihre Geschichte ab. Sie tut das auf zugleich beeindruckende wie gewichtige Weise. Gewichtig gleich in doppelter Hinsicht: Der Brandstätter-Verlag hat einen kiloschweren, hervorragend illustrierten Prachtband vorgelegt. Und mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer, dem früheren Vizekanzler Hannes Androsch sowie dem Historiker Wolfgang Maderthaner fungieren drei Personen als Herausgeber, die dem Vorhaben politisches wie wissenschaftliches Gewicht verleihen. Beeindruckend ist der Band zum einen deshalb geworden, weil sich der überwiegend von Maderthaner verfasste Hauptteil wie ein spannender Essay liest, die Herausgeber zum anderen keine Neigung zeigen, der bei einem derartigen Vorhaben immer wieder drohenden Gefahr einer allzu beschönigenden oder unkritischen Rückschau zu erliegen.

Es dürfte nicht verwundern, dass sich die »kleine Schwester« der SPD über lange Phasen hinweg an der großen Vorbildpartei der Internationale, der deutschen Sozialdemokratie, orientierte. Wie in Deutschland regten sich in der Habsburgermonarchie erste Ansätze einer Arbeiterbewegung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bekamen einen wichtigen Schub durch die auch in Wien virulent werdende (aber doch geschlagene) Revolution von 1848. Anders als in Deutschland gelang es hingegen erst sehr spät, die verschiedenen rivalisierenden Ansätze und Grüppchen für eine gemeinsame Strategie und eine einheitliche Organisation zu gewinnen. Dass dies auf dem dadurch berühmt gewordenen Hainfelder Parteitag 1889 gelang, ist ohne das Wirken des großen Victor Adler nicht denkbar. Er vermochte es, die verschiedenen Ansätze – sozialdemokratischer wie anarchistischer Provenienz – zu einem gemeinsamen Projekt zu bündeln. Die Orientierung am Vorbild der deutschen Partei hatte dabei zwei Bezugspunkte: seine Freundschaft zu August Bebel und Friedrich Engels, ferner seine Herkunft aus der deutschnationalen Bewegung, die ebenfalls ihre Spuren hinterlassen hatte.

Obwohl die österreichische Sozialdemokratie im habsburgischen Vielvölkerstaat notwendigerweise über eine ganze Reihe nationaler Sektionen verfügen musste (deutsche, tschechische, polnische, italienische und südslawische), war die Haltung ihrer zugleich jüdisch-intellektuell geprägten Führungsriege stark auf die Perspektive eines »großdeutschen« Zusammenschlusses ausgerichtet. Als die Habsburgermonarchie 1918/19 zerschlagen wurde, verhinderten jedoch die Alliierten den Anschluss des verbliebenen Reststaats Deutschösterreich an das Deutsche Reich. Die junge Partei machte schon wenige Jahre nach ihrer Gründung große Fortschritte, vor allem auch auf dem Feld der Erkämpfung politischer Rechte. Für Friedrich Engels war sie damit sogar – das schreibt er 1893 – zum Vorreiter der europäischen Entwicklung geworden.

Der 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg zerstörte auch in Österreich die politische Einigkeit der Sozialdemokratie. Auch hier standen sich eine den Krieg mittragende Mehrheit und eine sich herausbildende »Kriegslinke« gegenüber, die Schritt für Schritt an Zustimmung gewann. Da das Parlament suspendiert war, blieb den Österreichern die Zerreißprobe einer Auseinandersetzung über die Zustimmung zu Kriegskrediten erspart. Victor Adlers Sohn Friedrich setzte dann mit seinem Attentat auf den Ministerpräsidenten Karl Stürgkh ein Fanal, das ihm auch selbst fast das Leben gekostet hätte. Zum Tode verurteilt, entgeht er diesem Schicksal nur aufgrund einer Amnestie.

Innerparteilich setzte sich nach Ende des Krieges die ehemalige Kriegslinke um ihn und Otto Bauer durch. Da die Konflikte jedoch nicht mit gleicher Schärfe wie in Deutschland ausgetragen wurden, bleibt der Partei das Schisma in Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige bzw. Sozialdemokraten und Kommunisten erspart. Nie in ihrer Geschichte wird die österreichische KP Masseneinfluss erlangen, obwohl aus ihr eine Reihe intellektuell anregender Persönlichkeiten hervorgegangen sind. Heinz Fischer spricht in seinem Vorwort davon, dass das »Einigkeitsdogma« seit dem Hainfelder Gründungsparteitag in den Genen seiner Partei verankert sei. Dieses Dogma – zu unterschiedlichen Zeiten von diversen Konkurrenten und Beobachtern immer wieder belächelt oder geschmäht – hat sich in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokraten als überaus erfolgreich erwiesen. Die zu Beginn des Jahrhunderts auf die Bühne tretende junge Intellektuellenkohorte – Friedrich und Max Adler, Otto Bauer, Gustav Eckstein, Rudolf Hilferding und Karl Renner – prägte mit ihrer Neugier und Toleranz für Jahrzehnte eine eigene plurale Denkrichtung, die als »Austromarxismus« in die Theoriegeschichte eingehen sollte. Dieser findet seinen prägnantesten Ausdruck im einstimmig beschlossenen Linzer Parteiprogramm von 1926, einem Schlüsseldokument der zeitgenössischen europäischen Sozialdemokratie.

Der sich darin manifestierende revolutionäre Realismus ist zugleich in dem großen Aufbauwerk des »Roten Wien« verkörpert, einer bis heute nirgendwo wieder erreichten Ausprägung erfolgreicher sozialdemokratischer Kommunalpolitik im Bereich des Wohnungsbaus sowie in allen Sektoren sozialer Fürsorge und bildungspolitischer Innovation. Mit Blick auf ihre Wahlergebnisse (insbesondere in Wien) und ihre Mitgliederzahlen hatte die SDAPÖ ihr ehemaliges Vorbild SPD inzwischen weit hinter sich gelassen. Der Austrofaschistische Putsch 1934 und Hitlers Einmarsch 1938 setzten all dem jedoch ein gewaltsames Ende.

Die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg sieht einen zunächst langsamen Aufstieg der nun SPÖ genannten Partei, die schließlich insbesondere in der Ära Bruno Kreisky zur bestimmenden politischen Kraft des Landes wird. Die 70er Jahre sind das Jahrzehnt eines überaus erfolgreichen »Austrokeynesianismus« und beginnender gemeinsamer außen- und europapolitischer Initiativen der Trias Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme.

Und heute? Die SPÖ, das kommt in dem Band ungeschminkt zum Ausdruck, schwächelt ähnlich wie die SPD. Manfred Matzka, lange im Bundeskanzleramt beschäftigt, legt den Finger in die Wunde: Jahrzehntelang gewohnt zu regieren, habe die Partei die Fähigkeit verloren, aus sich heraus gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. Und so droht (in den Worten Peter Pelinkas) der Partei, die sich so lange an der Schwesterpartei orientiert hatte, nun deren Schicksal als Schreckgespenst: eine Bruchlandung »auf dem niedrigen Podest der SPD«. Dass die eigene Geschichte gleichwohl andere Perspektiven zu bieten hätte, zeigt anschaulich der hier besprochene Band.

Hannes Androsch/Heinz Fischer/Wolfgang Maderthaner (Hg.): Vorwärts! Österreichische Sozialdemokratie seit 1889. Brandstätter, Wien 2020, 400 S., 48 €.

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