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Datenpolitik ist kein Wahlkampfthema – eigentlich Wahlkampf der Algorithmen

Mit Themen wie Netzpolitik, Informationstechnik oder Datenschutz lassen sich keine Wahlen gewinnen. Doch Informationstechnik kann über den Ausgang von Wahlen entscheiden. Damit ist nicht unbedingt die Manipulation von Wahlmaschinen durch ausländische Geheimdienste gemeint. Während der Bundesnachrichtendienst vor russischen Hackern warnt, die den Wahlkampf beeinflussen und gefälschte Nachrichten verbreiten wollen, Bundesjustizminister Heiko Maas mit einem neuen Gesetz den Internetkonzernen hohe Strafen androht, wenn sie Falschnachrichten (Fake News) oder Hassreden nicht sofort löschen und die Regierung Bösewichten aus dem Netz im Falle von Cyberattacken mit sogenannter »Hack-Back-Strategie« begegnen könnte, sind die Möglichkeiten der Wahlbeeinflussung wesentlich naheliegender und einfacher, als in das Netzwerk des Bundestages einzubrechen und die E-Mails der Abgeordneten zu entwenden.

Microtargeting nennt sich das relativ neuartige Politmarketing und die Wunderwaffe, die hinter den Wahlerfolgen von Barack Obama und Donald Trump vermutet wird. Es geriet in die Schlagzeilen, nachdem die Aktivitäten des Unternehmens Cambridge Analytica für die Republikaner im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 bekannt geworden waren, was der Unternehmenschef Alexander Nix offenbar bei keinem seiner zahlreich auf YouTube abrufbaren Vorträge unerwähnt lässt. Cambridge Analytica soll mittels statistischen und datenanalytischen Methoden Donald Trump zum Sieg verholfen haben. Das Unternehmen nutzt Daten aus öffentlichen und privaten Quellen (beispielsweise Bonuskartendaten, Clubmitgliedschaften, Zeitungsabonnements, medizinische Daten), die es zu diesem Zweck kauft, und verknüpft sie etwa mit den öffentlich zugänglichen Wählerdaten und Facebook-Einträgen. So erhält man sehr genaue Persönlichkeitsprofile der einzelnen Wähler, häufig inklusive Adresse und Telefonnummer. Sie machen den Weg für eine gezielte Ansprache mit personalisierten Inhalten frei.

Massendatenauswertungen und Datenanalysen helfen zu bestimmen, wer, wann und mit welcher Botschaft am besten erreicht werden kann. Sie sollen im Tür-zu-Tür-Wahlkampf helfen, Wähler zu überzeugen und Nichtwähler zu mobilisieren. Sie bestimmen wo, wann und welche Botschaften platziert werden, um eine optimale Wirkung zu erreichen. Nicht Menschen, sondern Algorithmen sollen entschieden haben, wo Hillary Clinton »ihre 140 Millionen TV-Werbedollar platziert«, recherchierte Katharina Matheis von der WirtschaftsWoche (46|2016). Die Ergebnisse des sogenannten Social Profiling lassen sich auf unterschiedliche Weisen verwenden. Es kann durchaus demokratiefördernd sein, wenn man, wie der Psychologe Michal Kosinski von der Stanford Graduate School of Business im Interview mit Fredrik Skavlan erklärte, die erlangten Daten über Nichtwähler zum Beispiel dazu nutzt, sie zum Urnengang zu motivieren. Doch Social Profiling kann mehr als das: Es soll in den letzten US-Wahlen von einigen Kandidaten dazu verwendet worden sein, potenzielle Wähler des politischen Opponenten zu identifizieren, um sie dann an der Abstimmung für den bevorzugten Kandidaten zu hindern. In der kinetischen Welt ist die Technik selbst keinesfalls neu und wird tagtäglich (oft unbewusst) eingesetzt: So sind Menschen meist schon anhand einer kleinen Verhaltensprobe in der Lage – auf Grundlage ihrer Erfahrung und Instinkte –, mit hoher Wahrscheinlichkeit die Eigenschaften und Einstellungen des Gegenübers zu bestimmen. Nicht anders verhält es sich mit Wählerprofilierung im Big-Data-Kontext, erklärte Kosinski in Nowe Media: Menschen, die sich ähnlich sind, verhalten sich bis zu einem gewissen Grad ähnlich, sie lesen ähnliche Bücher, hören ähnliche Musik – oder besuchen ähnliche Webseiten und kaufen ähnliche Produkte online. Sie verraten sich nicht erst durch einen Klick auf die Webseite einer bestimmten Partei, ein Like oder eine Spende. Wenn beispielsweise Menschen mit liberalen politischen Interessen bevorzugt Lady Gaga hören, Stephenie Meyer lesen und Lebensmittel per Internet bestellen, so zahlen diese – und unzählige andere – Mikro-Korrelationen auf dieses bestimmte Profil, diese politische Orientierung ein. Ein Algorithmus, der mit Terabyte an Daten und Bewegungsprofilen trainiert wurde, kann diese Muster erkennen und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zutreffende (politische) Klassifizierung des Individuums vornehmen. Geschlecht, Nationalität, sexuelle Orientierung – sogar ob derjenige Raucher ist oder nicht – ließen sich alleine anhand der Likes-Analyse der Facebook-Profile mit bis zu 90 % Trefferrate feststellen. Mit Daten von Suchmaschinen wie Google, die das Surf- und Suchverhalten protokollieren, können noch viel bessere und genauere Ergebnisse generiert werden.

Möglichkeiten der missbräuchlichen Verwendung von Big Data sind bekannt. Forscher wie Michal Kosinski, Yves-Alexandre de Montjoye oder Anthony Tockar haben gezeigt, welches Potenzial und welche Gefahren sich hinter der Verbindung von Massendaten und Profilierungstechniken verbergen, und setzen sich für eine bessere Regulierung und mehr Kontrolle über die eigenen Daten ein.

Der Empörungsaufschrei der Politik und der Regierungen blieb dennoch aus. Weder regulierend noch normativ wurde zum besseren Schutz personenbezogener Daten eingegriffen. Ganz im Gegenteil, der Datenschutz wird durch neue Gesetze zur Videoüberwachung oder Vorratsdatenspeicherung, die mit dem Ziel einer »wehrhaften« Demokratie geschaffen werden, zunehmend ausgehöhlt. Währenddessen verwandelten einige smarte Unternehmen die Forschungserkenntnisse in einträchtige Geschäftsmodelle. Ob Wählerprofilierung in Deutschland angewendet werden darf, bleibt derzeit noch strittig. Nicht zuletzt im Hinblick auf das (noch) geltende Datenschutzgesetz. Im Dezember 2016 stellte das Portal netzpolitik.org den deutschen Parteien die Frage, welche von ihnen die modernen statistisch-mathematischen Verfahren verwenden: »CDU, CSU, SPD, Linke, Grüne und FDP haben uns geschrieben, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt antworten könnten beziehungsweise dass die Fragen an Fachreferenten weitergeleitet worden seien. Die AfD hat noch nicht geantwortet. Die Piratenpartei, die wir als Referenz hinzugenommen haben, lehnt Wähler-Targeting rundweg ab und spricht sich für eine Transparenzregelung aus, bei der Parteien offenlegen müssten, welche Datensätze und Technologien sie zur Wähleransprache nehmen.« Später soll eine weitere Partei Stellung bezogen haben: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die weder Hypertargeting noch »Big Nudging«, also durch Belohnung oder Bestrafung erzeugtes Verhalten, und auch keinen »Zukauf von individuellen Profilen oder Unterstützung durch spezialisierte Firmen in diesem Bereich, die Datenprofile zusammenführen oder verwalten«, planten und ihre Prinzipien, nach denen Targeting betrieben wird, offenlegen wollten.

Parteien und ihre Marketingdienstleister in Deutschland würden zwar keine umfassenden Profile zu jedem einzelnen Wähler erstellen, stellte die FAZ fest. Aber sie nutzen die Datenbestände von Facebook und anderen Plattformen für die Möglichkeiten der Zielgruppenansteuerung, um ihre Botschaften personalisiert zu platzieren. Nach dem Bundesmeldegesetz dürfen Parteien und Wählergruppen sechs Monate vor der Bundestagswahl Daten von Wahlberechtigten erfragen und für Wahlkampfwerbung nutzen. Nicht alle Bürger wissen, dass man diese Praxis unterbinden und der Verwendung eigener Daten durch die Parteien widersprechen kann.

Im Jahr 1986 sinnierte der damalige Leiter der für aktive Maßnahmen zuständigen Abteilung X der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Oberst Rolf Wagenbreth, über die Zukunft der Spionage und sagte u. a., man müsse »die Frage stellen, ob es sich überhaupt noch lohnt, eine Sekretärin im Vorzimmer eines Ministerialrats zu werben, wenn im Keller dieses oder jenes Objektes der Zentralcomputer steht, der das Wissen von hundert Sekretärinnen speichert«. Mehr als 30 Jahre exzessiver Computerisierung und Digitalisierung später wird am Datenschutz geschleift, im Urheberrecht tut sich nichts, das Leistungsschutzrecht kam über Nacht hinzu, die Vorratsdatenspeicherung ohnehin. Keiner Partei wird Netzkompetenz zugestanden, und Datenpolitik gilt ohnehin nicht als Wahlkampfthema. Parteien überlassen nun Schritt für Schritt den Internet- und Medienkonzernen das Spielfeld – auch dort, wo es um die Entscheidung über falsche oder richtige Nachrichten geht.

Es wäre dennoch falsch, dem Internet, der Informationstechnik – oder vielleicht den »russischen Hackern« – die Schuld für ein schlechtes Wahlergebnis zu geben: Um unmoralische Techniken einzusetzen oder sich unethisch zu verhalten, braucht man nicht erst soziale Medien, konzedierte Michal Kosinski bei Fredrik Skavlan. Es gäbe genug Beispiele für traditionelle Medien, Fernsehen und Zeitungen, die versucht haben, ihre Leser und Zuschauer zu manipulieren, Dinge zu tun, die »nicht gut für sie sind«. Und hier ist nicht nur Werbung gemeint, wo Techniken wie Ad-Targeting und Zielgruppenprofilierung seit Langem ganz selbstverständlich als Aspekt der Markforschung praktiziert werden. Dennoch hat Michal Kosinski keine Bedenken, die neuen Technologien zu nutzen oder seine Daten preiszugeben. Wer möchte schon auf die Vorteile und Annehmlichkeiten unserer modernen Spielzeuge verzichten? Doch sei seine Situation einmalig, erklärt er: Er würde in einer toleranten und liberalen Umgebung leben, die Meinungs- und Religionsfreiheit garantiert und nicht etwa eine Schule voller gnadenloser Minderjähriger besuchen, er sei auch nicht schüchtern und fühlt sich keiner ausgeschlossenen Minderheit zugehörig. Dies könnte sich für junge Chinesen, die sich mit der App »Ehrliches Shanghai« der Stadtregierung scoren lassen, anders aussehen. Ihre (freiwillig eingegebenen) persönlichen Daten werden mit Datenbanken der Behörden, wie Kredithistorie oder Strafregister, abgeglichen und es wird ein persönlicher digitaler Kredit ausgerechnet. Je höher der Scorewert, »desto mehr Annehmlichkeiten könnte die Zukunft für sie bringen«, recherchierte Lea Deuber von der WirtschaftsWoche (17|2017).

Ähnlich wie Stanisław Lem in Summa technologiae bestätigt Kosinski, dass alle getesteten Algorithmen, die Wählerprofilierung anhand von Big Data ermöglichen, sowohl zu einem guten als auch einem schlechten Zweck verwendet werden könnten. Und auch, wenn man kein Freund strenger Regulierung ist, so stimmen die Wissenschaftler dahingehend überein, dass die »präregulative Ära« zu Ende geht. »Unser weiteres Vorgehen muss von einem moralischen Kanon geleitet werden, der uns als Ratgeber bei der Entscheidung zwischen den verschiedenen Alternativen dient, welche die amoralische Technologie hervorbringt«, empfiehlt Lem. »Sie liefert die Mittel und Werkzeuge – das Verdienst bzw. die Schuld für ihre gute oder schlechte Verwendung liegt bei uns.«

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