Ortsnamen wie Reute, Rott am Inn oder am Lech, Reutlingen, Bayreuth oder Walsrode belegen, dass unsere Ahnen einst das Land, auf dem sie siedelten und das sie fortan ernährte, mühsam dem Wald abringen mussten. Aber je erfolgreicher sie dabei waren, den Wald zurückzudrängen, umso nachdrücklicher nistete sich der Wald in ihren Köpfen ein. Er wurde zum Mythenreservoir, zur Projektionsfläche unserer Ängste, unserer Schuldgefühle und Erlösungshoffnungen, unserer ideologischen Verstiegenheiten und Allmachtfantasien.
Als Henry David Thoreau im Jahre 1845 in eine Blockhütte am Walden Pond, einem kleinen Waldsee in der Nähe von Concord in Massachusetts, zog, war er 28 Jahre alt, nicht bei bester Gesundheit, aber entschlossen, in der Einsamkeit der Wälder ein naturnahes und frugales Leben zu führen. Zu seinem Lebensexperiment gehörte nicht nur, dass er sich der frühindustrialistischen Lebensweise seiner Umgebung verweigerte und selbstgenügsam von seiner Hände Arbeit lebte, sondern auch, dass er sich weigerte, Steuern zu zahlen. Eine Nacht verbrachte er wegen Steuerverweigerung im Gefängnis seiner Heimatstadt Concord, dann wurden seine Steuerschulden von einem anonymen Gönner bezahlt und er kam wieder frei.
Berühmt wurde Thoreau vor allem als sozial engagierter Anarchist und als Praktiker und Theoretiker des gewaltfreien zivilen Ungehorsams. Sein Buch Walden oder Leben in den Wäldern wurde auch in Deutschland zur Bibel der Jugend- und Lebensreformbewegung. Für die jungen Menschen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Europa mit Klampfen und wehenden Fahnen »aus grauer Städte Mauern« ins Freie zogen, wurde der Wald zum Leitbild eines anderen, eines natürlicheren Lebens. Auf einer Lichtung im Wald saß man am Lagerfeuer beisammen und sang von Kameradschaft und Abenteuer und vom Glück des einfachen und ungebundenen Lebens in der freien Natur. Gruselmärchen wurden erzählt und alte Erbauungsgeschichten von germanischen Helden, die tief im Wald mit Ungeheuern ringen. Manche zogen, den Wildgänsen folgend, in die Wälder des Nordens, andere träumten vom Wilden Westen und vom ursprünglichen Leben der indigenen Völker Nordamerikas aus den Lederstrumpf-Romanen von James Fenimore Cooper.
Der »Waldläufer« war der Gegenentwurf zum großstädtischen »Flaneur«, der um dieselbe Zeit als vor allem männliche Identitätsmaske Furore machte. Waldläufer oder coureurs des bois hießen seinerzeit die oft kauzigen Naturburschen, die mit den Indigenen Nordamerikas und Kanadas Pelzhandel trieben. Karl-May-Lesern sind sie bis heute vertraut als kundige Fährtenleser, als intime Kenner indianischer Sitten und Überlebenskünstler. Waldläufer nennen sich auch heute noch die Mitglieder der Deutschen Waldjugend, einem Naturschutzverband mit immer noch deutlich erkennbaren Resten lebensreformerischer Ambitionen.
Der Wald, als Forst längst in die Logik der Kapitalverwertung hineingezogen, muss immer noch als Sinnbild eines gesünderen, naturnäheren, menschengemäßeren, ganzheitlichen Lebens herhalten. Dabei lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung heute in Städten, und auf dem Lande leben heißt heute keineswegs, dass man Waldbewohner ist. Im Wald lebt nur noch ein winziger Teil der Weltbevölkerung, und der wird von Brandrodung zum Zwecke der Gewinnung von Agrarflächen für Rinderzucht, Sojaanbau und Ölpalmen sowie von der gefräßigen Holzindustrie in die Enge getrieben. Die größte Gefahr für den Wald kommt aber von der Klimaveränderung. Das Menetekel sind die gewaltigen Waldbrände in Sibirien, in Nordamerika, Kanada und Alaska und im Mittelmeerraum, zuletzt vor allem in Griechenland und in der Türkei.
Auch in Deutschland stirbt der Wald. Wo er nicht dem Braunkohletagebau, dem Straßen- und Autobahnbau und der Gewinnung von Bauland weichen muss, schwindet er, weil immer mehr Wald der anhaltenden Dürre und dem Schädlingsbefall zum Opfer fällt. Am schwersten betroffen sind deutschlandweit die nach dem Zweiten Weltkrieg zur schnellen Holzgewinnung angelegten Fichten- und Kiefernwälder, weil im Zuge der Klimaerwärmung der Grundwasserspiegel kontinuierlich absinkt, der Befall durch Borkenkäfer und andere Schädlinge zunimmt und gleichzeitig Orkane und Tornados immer mehr Schäden anrichten. Aber während der deutsche Wald in der Realität kränkelt, ist er als Symbol und Metapher bis heute lebendig.
Er ist der Ort der Märchen, in ihm hausen Hexen und Räuber, Feen und Ungeheuer, er lockt mit seinen Geheimnissen und mit seinem Versprechen von Freiheit und wildem Glück. Robin Hood lebte mit seinen merry men, seinen fröhlichen Gesellen, im Sherwood Forest bei Nottingham, einer aus der Jurisdiktion des frühen Mittelalters herausgeschnittenen gesetzlosen Zone. Nach der Legende raubte er vorzugsweise habgierige Geistliche und Adlige aus. Die Dichter, bekanntlich nicht immer zuverlässige Chronisten, machten ihn zum angelsächsischen Adeligen, der nach der Schlacht von Hastings von den siegreichen Normannen enteignet worden war und fortan als Patriot aus dem Wald heraus gegen die Eroberer kämpfte. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wandelte sich die Figur dann zum Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, der den Reichen nahm und den Armen gab.
Der Waldläufer hat wie der Wald viele Gesichter, das des Köhlers ist von Rauch und Ruß geschwärzt und darum trotz aller Biederkeit seines Handwerks ein wenig unheimlich wie der neuerdings unter Rassismusverdacht geratene Zwarte Piet, der in Holland den auf seinem Schimmel in die Stadt einziehenden St. Nikolaus begleitet und den Kindern Pfeffernüsse und andere Süßigkeiten zuwirft. Alle paar Jahre taucht in unseren Medien auch ein sogenannter »Waldmensch« auf. Meist handelt es sich um bärtige Männer, die in einer selbstgebauten Hütte irgendwo in einem schwer zugänglichen Waldstück hausen und sich von Käfern, Larven und Pilzen ernähren: radikale Aussteiger wie der Theologe Jürgen Wagner, der 1991 medienwirksam seinen Staatsaustritt erklärte und später einige Jahre in einem Wald bei Löbau in der Oberlausitz lebte, bevor er die »Schenker-Bewegung« gründete, oder freundlich-kauzige Waldversteher, wie der Woid Woife (hochdeutsch: Waldwolfi) aus Bodenmais, der auf seinen ausgedehnten Wanderungen im Bayerischen Wald Schulkinder die Sprache der Tiere lehrt.
Der Waldgang heißt ein kleines Buch von Ernst Jünger, das 1951, in der Morgenröte des Wirtschaftswunders, im Vittorio Klostermann Verlag in Frankfurt am Main erschien. Nach Jünger ist der Waldgang Sache einiger weniger echter Menschen, die, abgestoßen von der existenziellen Leere und Uneigentlichkeit des modernen Lebens, die Wohltaten, Zwänge und Verpflichtungen des Gesellschaftlichen hinter sich lassen und sich den mythischen Quellen der Existenz und der Geschichte zuwenden. Der Wald bedeutet ihm »das überzeitliche Sein«, einen Ort, an dem der Mensch, ganz auf sich allein gestellt, ohne die Prothesen der modernen Gesellschaft im Wortsinne ek-sistiert, d. h. hineinragt ins Ungewisse und Ungreifbare des Geschicks. Der Waldgänger als der von den Fesseln der Vernunft befreite, allein auf seine Existenz zurückgeworfene Mensch, ist auf jenen »Holzwegen« unterwegs, die nach Martin Heidegger zu betreten wären, wenn es darum geht, das Wesen der Kunst und des Seins zu fassen.
Ekstase der Männlichkeit?
Womöglich würden sich einige jener seltsamen Gestalten, die kürzlich als sogenannte »Reichsbürger« oder als selbsternannte »Druiden« in den Lichtkegel des öffentlichen Interesses gerieten und den Verfassungsschutz in Unruhe versetzten, in Jüngers Waldgänger wiedererkennen. Der deutsche Wald als Wahn, als das geträumte juden- und ausländerfreie germanische Urreich, als das heilige Gehege des deutschen Mannes. Um ihn vor Eindringlingen zu schützen, scheint manchem Reichsbürger alles recht zu sein, auch ein Mord an einem Polizisten.
Mein persönlicher Wald ist weniger existenziell. Er beginnt 200 Meter von meiner Wohnung entfernt und erstreckt sich über einige 100 Meter bis hinunter zum Ufer des Starnberger Sees. Es ist ein lichter Wald, es gibt darin mächtige Buchen und schlanke hohe Fichten, die die Architektur dieses lichtdurchfluteten Raums prägen. Tiere leben hier, Rehe, Hasen, Füchse, Dachse, und Mäuse, unsichtbar zumeist, aber im Winter sieht man ihre Spuren im Schnee. Es ist ein freundlicher Wald, dem man es ansieht, dass er schon lange mit der Gesellschaft der Menschen koexistiert. Die Zeit, da man ihn als Rohstofflager nutzte, ist vorbei, die Holzwege sind verwachsen, die Schäden, die die Waldökonomie hier einst angerichtet haben mag, sind – jedenfalls für den Laien – nicht mehr erkennbar. Peter Wohlleben würde ihn vielleicht trotzdem als kranken Wald bezeichnen. Heute ist er ein sparsam genutzter Spazierwald, dem – jedenfalls für mich – kein Schrecken innewohnt, der aber bei aller Freundlichkeit dennoch etwas Majestätisches hat.
Karl May'sche Waldläufer, radikale Aussteiger oder jüngersche Waldgänger gibt es in meinem Wald nicht. Nicht einmal ein Exemplar jener grünberockten professionellen und vermutlich beamteten Waldläufer, die man gelegentlich in ausgedehnteren Waldgebieten trifft, habe ich hier bisher angetroffen. Es ist ein Wald ein wenig wie der, über den Goethe ein verkapptes Liebesgedicht schrieb: »Ich ging im Walde / so für mich hin / Und nichts zu suchen / das war mein Sinn«. Gesucht hat der Dichter nach eigener Aussage nichts, aber gefunden hat er ein offenbar reizendes Blümelein, das sich als die junge Christiane Vulpius, seine spätere Frau, dechiffrieren lässt. Und, wie wir vermuten dürfen, ergab sich dieser glückliche Zufallsfund nicht im tiefen, von der Zivilisation unberührten Wald, sondern eher bei einem Spaziergang im baumbestandenen Park an der Ilm in der Nähe des dort heute immer noch zu besichtigenden goetheschen Gartenhauses.
Man muss ohne Absicht und ohne Ziel durch den Wald streifen, um das Glück zu finden, das man im Getriebe des Alltags vor lauter zielgerichteter Beflissenheit nie und nimmer finden würde. Das lehrt uns Goethes kleines Gedicht. Jean-Jacques Rousseau, zuweilen mehr Aufklärer als Romantiker, ging zielgerichteter zu Werke, indem er den Wald in der Nähe seines zeitweiligen Wohnortes Montmorency zum Klassenzimmer machte. In seinem berühmten Erziehungsroman Émile beschreibt er, wie er sich in dem durchaus überschaubaren Wäldchen mit seinem Schützling vorgeblich verirrt und diesem so Gelegenheit gibt, nach Stunden des Umherirrens durch Beobachtung des Sonnenstandes schließlich doch noch den Weg zurück in die Zivilisation zu finden, den Weg, den der listige Schulmeister natürlich von Anfang an kannte.
Der Wald als das Undurchdringliche, Unheimliche, das den Geist zugleich verwirrt und erfinderisch macht, in dem man sich verliert, um sich am Ende, wenn man Glück hat oder von einem klugen Schulmeister angeleitet wird, als ein anderer wiederzufinden. Der Wald steht in unserer durchrationalisierten Welt für das Unverfügbare, für das Unberechenbare, für das Rätsel des Lebens. Wir betreten ihn, um uns für ein paar Stunden von der Verstrickung in die Welt des Gesellschaftlichen zu befreien. Wir suchen ihn aber auch auf, um uns in ihm zu bewähren. Wenn wir an unsere Kindheit zurückdenken, erkennen wir zuweilen, dass es der Gang durch den zugleich lockenden und schreckenden, zugleich imaginären und wirklichen Wald war, der uns erwachsen werden ließ.
Auch in mir steckt der Wald als lockendes und schreckendes Traum- und Wahnbild, als Ort von Geschichten, die gut oder böse ausgehen können, und das, obwohl ich in einem Land geboren wurde, das kaum Wälder kennt, in dem die aufregendsten Geschichten fast immer auf hoher See spielen oder bei Sturmflut auf dem Deich, der unter der anbrandenden See zu brechen droht. Als ich nach dem Krieg die Niederlande verließ und nach Norddeutschland kam, gab es dort zwar Wälder, aber die waren zumeist eintönige Monokulturen aus Fichten oder Föhren, ökonomisch rational angelegte Pflanzungen, die auf den ersten Blick keinerlei Geheimnis zu bergen schienen.
Und doch gab es auch hier ein Waldgeheimnis, das sich für mich erst sehr viel später löste. Einige Kilometer östlich der Kleinstadt, in der ich damals lebte, befand sich ein sogenannter »Hakenkreuzwald«. Wir Kinder fuhren im Sommer manchmal mit dem Fahrrad dorthin, weil es dort Blaubeeren gab, die im nördlichen Niedersachsen Bickbeeren hießen. Es war ein noch relativ junger Fichtenwald, angelegt, wie es hieß, um eine nahe Papierfabrik mit Holz zu versorgen. Der Name hätte mich stutzig machen können. Aber alle, Kinder und die meisten Erwachsenen, gebrauchten ihn, wie sie »Ahe« sagten, wenn sie den Stadtwald, oder »Brook«, wenn sie den schütteren Erlen- und Pappelwald am Flüsschen Mehde meinten. Erst viele Jahre später, als ich bei einem Besuch in meiner norddeutschen Heimat zufällig mit einem Sportflieger ins Gespräch kam, erfuhr ich, was es mit dem Hakenkreuzwald auf sich hatte. Es handele sich, sagte mein Gesprächspartner, was man allerdings nur aus der Luft sehen könne, tatsächlich um einen Wald in Form eines Hakenkreuzes. Solche Wälder hätten begeisterte Nazis seinerzeit an vielen Orten angelegt. Vielleicht, denke ich heute, hatte Elias Canetti einen solchen Wald im Sinn, als er in Masse und Macht schrieb: »Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer. Es war der marschierende Wald.«
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